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Serie Anna Irene: Achterbahn (20)

Seniors
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20.11.2001
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Anna Irene: Achterbahn (20)

… jede Träne, die geflossen ist,
obwohl sie abgewischt werden konnte,
ist eine Anklage …

Rosa Luxemburg, 1918​


Anna Irene stellt ihre Schultasche ab und dreht sich zu Uschi um, die mit zwei Plastiksäcken zur Schule gekommen ist. »Was hast du denn da heute mitgeschleppt?«
Uschi nimmt grinsend einen der Säcke, greift hinein und zieht ein altes Herrenhemd heraus, legt es auf den Tisch und holt das nächste hervor. »Die hab ich von meinem Opa bekommen«, sagt sie, während sie weitere Hemden auf den Tisch häuft. Pastell- und kräftige Töne; einfärbig oder mit verschnörkselten Mustern; lange Kragen und Vatermörder. »Wer will, kann eines anziehen!«
Dagmar nimmt ein blassrosa Hemd, schlüpft hinein und dreht sich einmal im Kreis. »Das passt dir gut!«, stimmen ihr die anderen beiden zu. Anna Irene entscheidet sich für ein weißes Baumwollhemd, auf das Ton in Ton filigrane, blumige Muster gestickt sind, und sie krempelt die Ärmel hoch. Am unteren Ende reicht es ihr fast bis zu den Knien. Aus dem zweiten Sack holt Uschi auch noch Krawatten, die sie sich locker über die Hemden binden. Lässig, denkt Anna Irene und fühlt sich plötzlich wie ausgewechselt. Als wäre das Hemd eine verkehrte Verkleidung, in der sie nicht mehr das darstellt, was sie sein soll, sondern so ist, wie sie sein möchte.

Die nächsten Monate verbringen die drei Mädchen jeden Schultag in den Großvaterhemden, die sie erst am Nachmittag wieder gegen das ordentliche Gewand tauschen, wenn sie die Schule verlassen.

*

Vor kurzem sind Frau K. und Anna Irene in eine Wiener Gemeindewohnung übersiedelt, nachdem sie fast zwei Jahre Wartezeit in dem Pensionistenheim verlebt haben, in dem Frau K. beschäftigt ist. Seit zwei Jahren kommt Onkel Joe, Anna Irenes Stiefvater, jedes Wochenende von Linz nach Wien; im letzten halben Jahr vor allem, um in der Wohnung zu arbeiten. Er hat eine Tür versetzt, Wände aufgestemmt, Kabel verlegt, Steckdosen montiert, Bad und Küche verfliest, alte Tapeten von den Wänden geschert und neu tapeziert, Teppichböden verlegt. – Anna Irene wollte ihm gern helfen, wie sie ihm auch in Linz vom Bauen kleiner Möbelstücke bis zum Wechseln der Autoreifen bei fast allem geholfen hat. Doch als sie mit ihm wie selbstverständlich mitgehen wollte, meinte Frau K. empört: »Was willst du denn in dem Dreck?!« Anna Irene hat gelernt, dass sie einer derartigen Frage nicht widersprechen sollte, und somit war dieses Thema schlagartig beendet.

Nun wohnen Frau K. und Anna Irene zwar in der Wohnung, in der Onkel Joes Arbeit steckt, er selbst bleibt aber noch so lange in Linz, bis er im selben Konzern eine Stelle in Wien gefunden hat.
Anna Irene erinnert sich oft daran, wie schön es war in Linz, wünscht sich die Zeit zurück, in der Onkel Joe mit ihr zu seinen Eltern gefahren und Frau K. zuhause geblieben ist, nur einen schönen Gruß und den Eierbehälter zum Anfüllen mitgegeben hat. Außer Hennen gab es dort auch verschiedene Obstbäume, einen riesigen Himbeerstrauch und Gemüsebeete im Garten, eine Werkstatt, in der Anna Irene Sägen gelernt hat, und im Haus Onkel Joes Jugendbücher samt einer kompletten Karl-May-Sammlung, in der Anna Irene immer gerne ein paar Seiten gelesen hat, wenn sie im Winter vom gemeinsamen Schneemännerbauen bereits genug hatte. Sie las diese Bücher als etwas, das sie mit ihrem Onkel Joe verbindet, weil er sie ebenfalls gelesen hat. Auch die vielen Schiausflüge sieht sie in ihrer Erinnerung; wenn sie am Sonntag frühmorgens aufgebrochen sind, um den ganzen Tag auf der Piste zu verbringen – während Frau K. zuhause Wollreste zu kleinen runden Knäueln wickelte. Auch, wenn er mit Anna Irene zum Schwimmen an den Pichlinger See oder in ein Hallenbad fuhr, hütete Frau K. die Wohnung, und zum Schwammerlsuchen kam sie genau einmal mit – um zu kontrollieren, ob Onkel Joe das auch korrekt machte und die Wurzeln in der Erde ließ. Und obwohl Frau K. so viel über Schauspieler weiß, als wären Filme ihr liebstes Hobby, saß Anna Irene immer allein mit Onkel Joe im Kino, teilte nur mit ihm ihr Lachen.
All die schönen Erlebnisse fehlen Anna Irene in Wien. Wenn sie hier einmal einen Ausflug machen, will Frau K. plötzlich immer mitkommen, weil sie erst alles kennenlernen muss, wodurch die Erlebnisse ein ernstes Spazierengehen von A nach B werden.
Ganz besonders vermisst Anna Irene aber das Gefühl, sicher zu sein vor ihr; denn wenn Onkel Joe da ist, geht Frau K. nie körperlich auf Anna Irene los, dann schreit sie höchstens herum. Aber jetzt ist Onkel Joe nur am Wochenende da. In Linz konnte sie sich darauf verlassen, dass die tägliche Erleichterung wochentags kurz nach fünf einsetzte: Der Schlüssel, der ins Schloss fuhr, war das schönste Geräusch des ganzen Tages. Seit zwei Jahren ist dieses Geräusch passé, die Angst hat nur am Wochenende Pause; aber es würde sich bestimmt wieder ändern, wenn er nur endlich auch da wohnen und arbeiten würde.

*

Zweimal im Monat geht Frau K. zu den Sektionstreffen der Partei, in der ihre Schwester mitarbeitet. Manchmal begleitet Anna Irene sie in das Parteilokal, um ihre Tante Dora und ihren Cousin Michi zu sehen, und ab und zu verdient sie sich bei einer Veranstaltung mit dem Streichen und Verkaufen von Schmalzbroten ein paar Schilling zusätzliches Taschengeld, während Frau K. ihr Gesicht badet. Sich also sehen lässt, um gesehen zu werden und die Parteifunktionäre somit wissen, dass sie zu den ganz besonders Treuen gehört. Und sie findet nichts dabei, es selbst so zu bezeichnen – in scherzhaftem Ton, als wäre es in Wirklichkeit gar nicht so, als würden das nur einige andere tun.
Als sie diesmal hinkommen, sind gerade stapelweise Broschüren und Pickerl zur neuesten SPÖ-Kampagne eingelangt, die unter die Leute gebracht werden sollen. Frau K. platziert demonstrativ eines der Abziehbilder auf ihrer großen, rechteckigen Lederhandtasche und lächelt stolz durch den Raum.
Zuhause werden dann noch Frau K.s Buchkalender und ihr Aktenkoffer aus weinrotem Leder, auf dem sich auch schon ein »Ich bin ein freundlicher Wiener«-Pickerl befindet, mit der neuen Errungenschaft verziert. Der Umriss eines Herzens ist darauf gezeichnet, aus dem ein sommersprossiger Bub und ein Mädchen mit Zöpfen lachen, und in roter Schreibschrift steht darunter:

»Liebe statt Hiebe«​

Seit Beginn des Jahres haben österreichische Eltern kein Züchtigungsrecht mehr, das soll den Menschen nun bewusst gemacht werden. Selbstverständlich unterstützt Frau K. jede Parteiinitiative.
Hört sie jetzt doch auf damit, immer auf mich loszugehen? Wenn sie sich das schon auf ihre Tasche … Anna Irene zieht die Folie von der Klebefläche und streicht einen Aufkleber in Augenhöhe auf ihre Zimmertüre.
Als Frau K. das erblickt, meint sie: »Du kannst doch nicht die neu lackierte Tür damit ruinieren!«
Solange es drauf bleibt, kann ja nichts passieren … »Ich nehm’s eh nicht mehr runter.«
Frau K.s Augen werden größer, wie bei einem Tier, das seinem Opfer körperliche Überlegenheit demonstrieren will, dann brüllt sie: »Was erlaubst du dir, so frech zu sein! Na wart nur!«
Nein, bitte tu mir nichts … da ist es so eng … der Türstock … Anna Irene schaut nach hinten, weicht einen Schritt zurück, zieht den Kopf ein. Frau K.s Pupillen fahren wild umher, am Hals bekommt sie rote Flecken, ihre Krallen zucken, dann wendet sie sich zornig ab, wie auf einen Pfiff des Dompteurs.
Anna Irenes Herz schlägt, als wollte es die Rippen sprengen, hinter denen es eingesperrt ist. Sie wundert sich kurz, dass sie nicht, wie sonst, an den Haaren gezogen und irgendwo dagegengestoßen wird, dann kommt Frau K. zurück, schüttelt den erhobenen Zeigefinger im Takt der Worte »Eines sag ich dir: Du schneidest dich damit nur ins eigene Fleisch!«, dreht sich um und geht wieder.

Anna Irene setzt sich aufs Bett, lehnt ihren Rücken an die Wand, schlägt die Biographie von Rosa Luxemburg auf, die sie von Tante Dora bekommen hat, schaut in die Seiten, ohne sich auf die Worte konzentrieren zu können. Das wäre schon ur komisch, wenn sie mir plötzlich wegen dem Pickerl nicht mehr weh tun würde. Irgendwie würde dann etwas fehlen … ich müsste mich gar nicht mehr vor ihr fürchten. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, nach dem vielen Haarereißen, oder den Stecknadeln, mit denen sie mir die Augen ausstechen wollte … unheimlich wäre das … Sie kann mich doch nicht jetzt auf einmal … lieb haben? … So tun, als wäre sie nie böse gewesen, hätte mir nie weh getan? Wenn sie mich in die Arme nehmen würde … das wäre … ekelig. Sie hat mich doch nie lieb gehabt … Nein, das will ich gar nicht, nicht von ihr … jetzt nicht mehr … ich würde das gar nicht … es ist … Ein undefinierbares Angstgefühl überkommt Anna Irene bei dem Gedanken. Langsam macht sie das auf ihren Beinen liegende Buch zu und betrachtet die weißen Herzen auf der grünen Ikea-Tapete, die das ganze Zimmer vom Boden bis zur Decke schmücken; Tränen rinnen aus ihren Augen. Dabei hätte ich doch so gern eine liebe Mutti gehabt.

*

Der nächste Tag beginnt wieder, als wäre nichts gewesen. Wie immer, pünktlich zehn nach sieben, verlassen Frau K. und Anna Irene gemeinsam das Haus. Zwar würde Anna Irene lieber etwas früher und alleine weggehen, aber Frau K. ist dagegen. »Ich hab mir meine Dienstzeit extra so festgelegt, dass wir gemeinsam fahren können«, hat sie einmal auf Anna Irenes Bitte gekontert. »Und ich will auch gar nicht, dass du unbeaufsichtigt vor der Schule herumstehst. Wozu soll das denn gut sein?«
Anna Irene wusste keine Antwort. Keine, die bei Frau K. gezählt hätte. Ich versäume immer die wichtigsten Sachen …
Sie geniert sich, neben Frau K. gehen zu müssen, die bis zur Haltestelle ihren Schlüsselbund genau so, wie sie damit zugesperrt hat, in der rechten Hand hält und den Arm fast militärisch vor- und zurückbewegt. Das Schlüsseltäschchen schaukelt dabei, hinten aus ihrer Faust hängend, wild umher. Anna Irene hasst es, wenn jeder sieht, wie verkrampft ihre Mutter ist. Womöglich halten die mich dann auch für so steif …
Erst bei der Tramwaystation zieht Frau K. den Schlüsselbund in das Täschchen und steckt es ein.
In der Straßenbahn sitzen sie immer auf den gleichen Plätzen; Frau K. rechts, sie möchte nicht eingesperrt beim Fenster sitzen; Anna Irene will das zwar auch nicht will, mit »Ich steig aber früher aus als du« hat Frau K. allerdings schon seit sie gemeinsam fahren einen triftigen Grund und somit das letzte Wort.
Als sie vom Neunundvierziger in den Zehner umsteigen und sich auf ihre Plätze setzen, sieht Anna Irene wie so oft Sabine auf einem einzelnen Platz. Sie würde gern aufstehen, zu ihr gehen und sie begrüßen, doch als sie einmal gefragt hat, ob sie das dürfe, hat Frau K. empört zurückgefragt: »Was denkst du dir eigentlich dabei, deine Mutter einfach so sitzen zu lassen?!« Erst, nachdem Frau K. ausgestiegen ist, kann Anna Irene ihren Platz verlassen, aber da sind sie auch schon gleich bei der Schule angekommen. Mit ihrem Eintreffen öffnet der Schulwart das Tor, und die Schüler, die beim Blick aus dem Straßenbahnfenster noch in kleinen Gruppen herumgestanden sind, strömen die Stiegen hinauf.
Nur jeden zweiten Mittwoch, wenn Frau K. Teambesprechung hat und erst später weg muss, ist alles anders; dann rennt Anna Irene den ganzen Weg bis zur Haltestelle, als wäre es ein Wettlauf, und sie gewinnt durch die frühere Straßenbahn ein paar Minuten Zeit, um die anderen noch vor der Schule anzutreffen und ein paar Gesprächsfetzen aufzufangen.

Als Anna Irene abends nach Hause kommt, wartet Frau K. bereits auf sie. »Da hab ich dir eine Bluse mitgebracht, probier sie. Wenn sie nicht passt, kann ich sie noch umtauschen.« Sie holt eine altrosa-kaffeebraun-beige-karierte Flanellbluse aus einem Sackerl. Anna Irene muss beim Anblick schlucken, sie steht da und schaut die Bluse an.
Frau K. erinnert sie mit einem zackigen »Na-wird’s-bald!« daran, dass sie die Bluse probieren soll. »Ist sie dir vielleicht nicht gut genug?«
»Die Farben …«, presst Anna Irene mit schwacher Stimme heraus und sagt dann etwas mutiger: »Ich bin doch keine alte Frau.«
»Na, ich vielleicht?! Ich finde die Farben schön – und sie sind modern. Ordentliche junge Mädchen tragen das jetzt.«
Und solche wie ich tragen Großvaterhemden. »Ich will aber kein Rosa. Und ich hab auch noch niemanden gesehen, der …«
»Du willst sie nicht, weil ich sie ausgesucht habe!«
»Nein, weil ich kein Rosa will … Du hast doch gesagt, man kann sie umtauschen?«
Keine Antwort, nur wütende, sich rasch nähernde Augen, vor denen Anna Irene eine Runde um den Esstisch flüchten muss, dann bleibt Frau K. stehen. »Verschwind in dein Zimmer!«, zischt sie. »Ich will heute nichts mehr von dir sehen, du Saubankert, undankbares!«
Anna Irene geht in ihr Zimmer und legt die Kassette »British Greats« in den Kassettenrekorder. Frau K. kommt hinterher, schreit »Und hören natürlich auch nicht!« und schmeißt die Tür donnernd zu. Leise hört Anna Irene den Verputz neben dem Türstock rieseln. Aber ich mach die Tür kaputt, wenn ich ein Pickerl draufpick …
Sie setzt sich aufs Bett, hört sich in die Musik und überlegt, was sie sonst noch tun könnte. Zum Lesen ist sie zu aufgeregt; etwas handarbeiten will sie nicht, obwohl es ein angenehmer Zeitvertreib wäre, aber es ist ihr zuwider, etwas zu machen, worüber Frau K. sich freuen könnte.
Sie setzt sich an den Schreibtisch und nimmt das Tagebuch, das die Oma ihr vor einem halben Jahr geschenkt hat, zur Hand. Es ist immer noch leer. Sie schlägt die erste Seite auf, schreibt das Datum. Mit Kugelschreiber, da sie an dieser Stelle bereits einmal gekillert hat und die Tinte nicht mehr hält. Ich kann ja nichts aufschreiben … ich weiß doch, dass sie es dann liest … und dann bringt sie mich garantiert um … Sie streicht das Datum durch und macht das Tagebuch langsam wieder zu. Besser, ich versuche, mir alles ganz genau zu merken. Das kann sie mir nicht wegnehmen. Sie stellt das Tagebuch zurück ins Regal. Wieso hab gerade ich so eine Mutter?
Gedankenverloren blättert sie anschließend im »Rennbahn-Express«, bis sie irgendwann aufs Klo muss. Sie horcht erst durch die Türe, bevor sie sie öffnet, um Frau K. nicht direkt in die Hände zu laufen. Als sie an der Wohnzimmertür vorbeikommt, wirft sie einen Blick in den Raum und sieht Frau K. aus der Küche schauen. Während sie am Klo sitzt, hört sie sie im Vorzimmer herumgehen. Der Boden knarrt bei jedem Schritt, Anna Irene bleibt aus Angst vor dem Hinausgehen sitzen, wartet, dass die Schritte draußen zurück ins Wohnzimmer verschwinden. Sie bleiben. Ungefähr einen dreiviertel Meter vor der Klotür knarrt Frau K. gespenstisch mit dem Boden. Minuten vergehen. Anna Irene traut sich nicht aus dem Klo, am liebsten würde sie sich selbst hinunterspülen, nur um der Situation zu entkommen, und wäre da ein Fenster, würde sie hinaus… Das würd ich mich ja doch nicht trauen … ich käme ja nicht mehr herein, ohne dass sie mich an der Tür »empfängt« … Konzentriert darauf, das leise Geräusch der Schritte zu hören, erschrickt sie richtig, als Frau K.s Stimme durch die Tür dringt: »Was ist, willst du da drinnen übernachten?!«
»Nein …«
»Dann komm endlich heraus!«
»Wenn du von der Tür weggehst.«
Frau K. lacht hämisch und überlegen.
Ja, freu dich nur, dass ich mich vor dir fürchte, blöde Sau.
»Du kommst jetzt da heraus, sonst komm ich hinein!«
Anna Irene überlegt noch einen Moment, wie sie am geschicktesten hinausgeht, um möglichst abwehrbereit zu sein. Sie will schließlich nicht, dass Frau K. versucht, die Verriegelung von außen zu öffnen. Da käme ich ihr ja überhaupt nicht mehr aus … und dann hätte sie noch das Werkzeug in der Hand und noch mehr Wut … Sie drückt auf die Spülung und öffnet langsam die Tür. In Frau K.s Gesicht kann Anna Irene lesen, dass sie ihre Angst genießt. Sie geht mit Knien wie aus Pudding und eingezogenem Kopf an ihr vorbei ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Dabei nimmt sie ihren Blick nicht vom Spiegel, damit sie sieht, ob Frau K. ihr nachkommt. Als sie sich umdreht und die Hände abtrocknet, steht sie plötzlich da. Anna Irene zuckt zusammen, Frau K.s Hand erhebt sich, Anna Irene geht in Erwartung des üblichen Haarereißens leicht in die Knie, weil sie dann nach oben noch nachgeben und den Zug lockern kann. Aber Frau K. drückt sie stattdessen zur Wand, unter den Handtuchhalter, und grinst sie noch hämischer an. Dann starrt sie in Anna Irenes Gesicht und fährt mit ihren Fingern gezielt auf einen Punkt zu, setzt links und rechts davon ihre Nägel an und drückt, als wolle sie damit ein Eck aus Anna Irenes Gesicht schneiden. Anna Irene sieht dabei Frau K. an, die so versessen darauf ist, einen angeblichen Mitesser auszudrücken, dass sie die Zunge spitz an die Oberlippe legt. Aufgrund der unangenehmen Stellung mit angewinkelten Knien sieht Anna Irene dies leicht von unten, wodurch es aussieht, als wollte Frau K. mit der Zunge in der Nase bohren. Nachdem sie die Stelle blutiggedrückt und mit alkoholhältigem Gesichtswasser noch ein ordentliches Brennen verursacht hat – »Nur, wenn es richtig brennt, ist alles heraußen« –, sieht sie vollkommen befriedigt aus und sagt: »Und jetzt verschwind.«
Anna Irene sieht sie noch kurz an, will etwas sagen, aber denkt bloß: Am liebsten für immer. Dann geht sie wieder in ihr Zimmer, bis sie es zum Abendessen doch wieder verlassen muss. Es gibt panierte Knacker mit Erdäpfeln und Fisolen, gewürzt mit feindseligen Blicken, die den Magen verkrampfen. Anna Irene bringt fast nichts hinunter.
Später, im Bett, atmet sie erleichtert durch. Wieder ein Tag überstanden. Übermorgen kommt Onkel Joe …
Ihr Blick fällt unter dem wellenförmigen Abschluss des Rollos hindurch auf das Fenster gegenüber. In dem Fenster sieht es jeden Abend aus, als hätte sich jemand aufgehängt. Immer wieder muss sie hinstarren, obwohl sie längst zu dem Schluss gekommen ist, dass da jemand seinen Hut und seinen Mantel am Fenster aufhängt. Ihr wird jedes Mal kalt und unheimlich dabei, aber es verdrängt auch die Gedanken an Frau K. und lässt sie leichter einschlafen.

*

Anna Irene kommt aus der Ganztagsschule und holt Frau K., die donnerstags immer länger arbeitet, vom Pensionistenheim ab. Es ist dann noch Bastelstunde und Anna Irene macht die verbleibende Zeit mit, flicht den fünften unnötigen Blumentopf-Übertopf aus Peddigrohr. Frau K. freut sich, weil die alten Frauen sie für ihre gelungene Tochter loben. Das nervt Anna Irene, aber nach zwei Jahren Pensionistenheimerfahrung hat sie begriffen, dass Frau K. sich dann gut fühlt und besser aufgelegt ist, und lässt es lächelnd über sich ergehen.
Nach der Bastelstunde schreibt Frau K. noch die Ankündigung für die nächsten Stunden – Gedächtnistraining und Sitzgymnastik – mit vier Zentimeter großen Buchstaben auf ein Plakat. Anna Irene hängt es in der Eingangshalle an die Tafel, während Frau K. sich fertigmacht.
Bei der Straßenbahnhaltestelle angekommen, beschließt Frau K. wie fast jeden Donnerstag, noch in die Konditorei gegenüber zu gehen, wo sie Torten und Kuchen essen. Frau K. trinkt eine Melange dazu, Anna Irene einen Kakao mit Schlagobers. Nur spärlich werden belanglose Worte gewechselt, fast, als kenne man sich gar nicht und sitze nur zufällig am selben Tisch. Anna Irene wartet nur, dass die Zeit vergeht. Noch so viele Jahre, bis ich groß bin und von ihr weg kann … Wenn nur wenigstens Onkel Joe endlich da wäre …
Als sie nach Hause kommen, ist keine Zeit mehr, um irgendein Theater zu veranstalten. Es gibt Pizza aus dem Tiefkühlschrank. Fernsehnachrichten über Terror in Europa, Friedensverhandlungen im Nahen Osten und eine Rekordzahl an Schülerselbstmorden ziehen während des Essens alle Aufmerksamkeit auf sich. So kann man gut schweigen, ohne dass die Stille drückt.
Frau K. bleibt nach dem Essen gleich sitzen, um gebannt die Quizsendung »Dalli-Dalli!« zu verfolgen.
Anna Irene geht etwas früher zu Bett und kann sich endlich wieder auf ihr Buch konzentrieren. Ist überwältigt von den Gedanken, Briefen und dem mutigen Handeln einer Revolutionärin, sehnt sich danach, selbst so viel Mut zu haben, und nimmt ihren Geist in sich auf, wie die Wüste Wassertropfen.

*

Bei einem Besuch von Frau K. und Anna Irene bei Tante Dora werden sie bereits über die nächste Kampagne der SPÖ-Frauen aufgeklärt: Mädchen in technische Berufe. »Die Mädchen sind alle so dumm«, sagt sie, »fünfundneunzig Prozent drängen in typische Frauenberufe wie Friseurin und Verkäuferin, wo sie überhaupt keine Karrierechancen haben. Und wenn sie Kinder bekommen, will sie hinterher keiner mehr, dann enden sie als Kassierinnen oder in der Fabrik und sind mit den niedrigen Löhnen wieder von den Männern abhängig. Da muss dringend etwas getan werden, die Mädchen müssen technische Berufe ergreifen. – Was wirst du denn mit vierzehn machen, Anna Irene?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
»Du wirst ja hoffentlich in eine weiterführende Schule gehen, am besten in die HTL. Was denn sonst, bei deiner Begabung.«
»Ja …«
Tante Dora setzt ein zufriedenes Lächeln auf. »Die HTL ist ja bis jetzt eine reine Männerschule, es wird Zeit, dass sich das ändert, und wir wollen verstärkt dahingehend aktiv werden. Am besten berätst du dich mit dem Joe, der weiß bestimmt, welche Fachrichtung für dich geeignet ist.«
Zum Glück kommt gerade Michi nach Hause, so kann Anna Irene mit ihm in seinem Zimmer verschwinden und er führt ihr seine neue Modelleisenbahn vor, an der er eifrig herumbastelt.

Am Wochenende überlegt Anna Irene mit Onkel Joe, was sie werden könnte, und entscheidet sich, Architektin zu werden und die HTL-Hochbau zu besuchen. Schon aus Lego hat sie immer gerne Häuser gebaut und sich Gedanken über Statik gemacht, nur dass sie damals noch nicht wusste, dass es sich um Statik und Architektur handelte.
Ich würde es mich ja auch gar nicht sagen trauen, wenn ich sowas wie Friseurin lernen wollte …
Als sie Frau K. ihre Pläne mitteilt, antwortet diese in zweifelndem Tonfall: »Na, da musst du aber erst einmal die Aufnahmsprüfung schaffen. Die ist nicht leicht, es wird nur ein kleiner Prozentsatz der Bewerber genommen.«
Hoffentlich bin ich nicht zu blöd … Was mach ich denn, wenn sie mich nicht nehmen? Ich muss es schaffen … die Mutti würde sich für mich genieren und mir wieder weh tun …

*

Beim Rock’n’Roll-Tanzen, einem von mehr als der Hälfte der Klasse belegten Kurs, kann sie alle ihre um Frau K. kreisenden Gedanken vergessen. Anna Irene liebt die gesprungenen Figuren, sie fühlt sich dabei frei, als flöge sie durch die Luft; obwohl sie von Walter fest gehalten wird.
Nach der Stunde fragen Vera und Inge Anna Irene, ob sie vielleicht auch einmal kommen möchte, wenn sich »alle« in der Nachmittagsdisko treffen. »Ich weiß nicht, ob ich das darf«, gibt Anna Irene zur Antwort. Ich weiß aber auch noch gar nicht, ob ich mich überhaupt fragen traue …

Nachdem Inge sie zwei Wochen später noch einmal wegen der Disko anspricht, überwindet sich Anna Irene, Frau K. um Erlaubnis zu bitten.
»Ph! Alle aus deiner Klasse, so ein Blödsinn. Du gehst mir nicht in so eine finstere Spelunke, wo du dann vollgestopft wirst mit Drogen und am Ende schwanger nach Hause kommst!«
»Bitte, Mutti! Das ist doch nur der Fünfuhrtee, wo lauter Leute in meinem Alter …«
»Mit dreizehn darf ich dich überhaupt noch gar nicht dort hingehen lassen«, sagt Frau K., dann setzt sie noch ein »Da ist Wäsche zum Bügeln« nach, wartet, bis Anna Irene sich mit vor Angst eingezogenem Kopf an ihr vorbei hinter den Bügeltisch gedrückt hat, und geht in die Küche.
Wofür lern ich denn das Tanzen, wenn ich dann nicht mit den anderen tanzen darf?, fragt Anna Irene nur sich selbst und bügelt stumm ihre Tränen trocken, die von ihrem Kinn auf Frau K.s große Unterhosen tropfen.
Frau K. schreit aus der Küche: »Du hast überhaupt keinen Grund zu heulen! Einen Grund zum Heulen hab nur ich, weil ich so ein Kind habe!«
Als Minuten später im Fernsehen vom Selbstmord des Schauspielers Peter Vogel berichtet wird, stürzt Frau K. aus der Küche und schaut mit entsetztem Blick und vor den Mund gehaltener Hand auf das Gerät.

Wenige Tage danach findet Anna Irene ein Flugblatt der Sozialistischen Jugend am Wohnzimmertisch.
Als Frau K. sieht, dass sie es entdeckt hat, sagt sie: »Dora meint, da kann ich dich hinschicken. Sie kennt die Gruppenleiter, die sollen sehr nett sein. Montag ist vorn im Arbeiterheim ein Gruppenabend, von sieben bis neun Uhr, da kannst du hingehen.«
Anna Irene ist zwar traurig, weil sie nicht mit ihren Schulkollegen weg darf, und sie erinnert sich auch, wie sie in den Turnverein wollte und nicht durfte, weil Frau K. keinen Sinn darin gesehen hat, wo sie doch ohnehin in der Schule Turnunterricht hat, doch gleichzeitig freut sie sich, weil sie zu einer Gruppe gehen darf, in der es junge Leute gibt. Sogar zu einem Treffen, das abends stattfindet, wenn sie vom Fünfuhrtee schon wieder nach Hause gehen würde. Nur ein bisschen mulmig wird ihr bei dem Gedanken: Ich soll da ganz alleine hingehn, ohne jemanden zu kennen …?
Frau K. vereinbart zuvor einen Gesprächstermin mit den Gruppenleitern, Hannes und Gabi, um sich selbst davon zu überzeugen, dass Anna Irene nicht in die falschen Hände gerät.

Anna Irene gefällt es in der Gruppe. Obwohl sie nicht nur die Jüngste, sondern, abgesehen von Gabi, das einzige Mädchen ist. Sie spielen gruppendynamische Spiele, diskutieren über verschiedene Themen, sehen sich antifaschistische Filme an oder nehmen die »Proletenpassion« der Schmetterlinge Lied für Lied durch.

Hannes ist bald Anna Irenes erster »richtiger« Freund, und Frau K. hat nichts dagegen, dass sie mit ihm manchmal Stunden in seiner Wohnung zubringt, obwohl sie erst dreizehn ist. Er darf Anna Irene, im Gegensatz zu ihren Schulkollegen, sogar zuhause besuchen, und Frau K. klopft an, bevor sie ins Zimmer kommt. Schließlich ist Hannes von der Partei.
Solange Hannes dabei ist, darf Anna Irene fast alles. Sie darf nicht nur montags zum Gruppenabend, sondern auch freitags an der Ausschusssitzung teilnehmen, und wenn die anderen danach noch in ein Lokal gehen, darf sie mit – vorausgesetzt, Hannes bringt sie anschließend nach Hause.
So träumt sie sich Hannes zu einem Märchenprinzen, der sie aus ihrem Gefängnis befreit, sie fortholt, zu sich nach Hause, sie erlöst von den Qualen und Demütigungen, der ständigen Angst. Sie soll nicht mehr über mich bestimmen dürfen. Claudia hat gesagt, man kann schon mit sechzehn heiraten, wenn das Jugendamt zustimmt. Das wäre schön … als Sozialarbeiter hätte er mit dem Jugendamt bestimmt keine Probleme … Aber bis dahin ist es noch so lang, wie soll ich das denn überstehen, wenn ich bei meiner Mutter sein muss?

*

Auf ihrem Nachhauseweg nimmt Anna Irene von einem Info-Stand der Atomkraftgegner alles Lesbare mit, was nichts kostet, und verschlingt es. In zwei Monaten soll darüber abgestimmt werden, ob das AKW-Zwentendorf in Betrieb geht oder nicht. Seit Wochen saugt sie jede Information zu dem Thema auf, liest auch die Pro-Argumente in der Arbeiterzeitung, die der Bundeskanzler persönlich als Serie schreibt und die auch im Fernsehen ausgestrahlt werden. Etwa, dass der österreichische Atommüll nicht mehr als eineinhalb Kubikmeter pro Jahr ausmachen würde, und man könne ihn dann – gegossen in einige Meter dickes Glas – sogar ausstellen und besichtigen, das wäre absolut sicher. Ein anderes Mal las sie, dass sich einige Staaten förmlich um den Atommüll reißen würden und sogar Geld dafür zahlen wollen.
Bei dem Info-Stand hört sie von der Gefährlichkeit und dass daraus Atombomben gemacht werden können. Und auch, dass die Stromausfälle und -schwankungen der letzten Zeit alle bewusste Abschaltungen der E-Wirtschaft waren, um die Leute aus Angst vor Stromknappheit zu einem »Ja« bei der Abstimmung zu bewegen. Das erscheint Anna Irene glaubwürdig. Schließlich hat sie vor der Debatte zuletzt im Kindergartenalter einen Stromausfall erlebt, und der hatte seine Ursache in einem Unwetter, bei dem etwas im Umspannwerk kaputtgegangen ist.

Uschi grinst, als sie zur Schule kommt, wie sie immer grinst, wenn sie etwas Besonderes mitgebracht hat. Noch bevor sie sich umzieht, legt sie schnell eine Kassette in den Kassettenrekorder, damit die anderen mit ihrer John-Travolta-Musik nicht schneller sind, und schaut Dagmar und Anna Irene erwartungsvoll an. »Einen recht schönen guten Abend, meine Damen und Herren«, ertönt es aus dem Gerät. Während die Stimme weiterspricht, sagt Uschi: »Das ist die Nina Hagen. Hat gerade ihre erste Single herausgebracht. Horcht’s zu!« In dem Moment setzen Gitarren und Schlagzeug ein und dann beginnt sie zu singen.
Die Energie in der Stimme von Nina Hagen fährt Anna Irene direkt in die Knochen; so kommt es ihr jedenfalls vor. Es läutet zur Stunde, Uschi drückt auf Stop. »Nächste Pause geht’s weiter!«, sagt sie und Anna Irene kann es kaum erwarten.
Jetzt haben sie Deutsch-Schularbeit und die Lehrerin schreibt als Thema »Die Rache der Pflanzen« an die Tafel. Anna Irene muss nicht lange überlegen, schon verbünden sich die Pflanzen unterirdisch zu einer Revolution gegen die Atomkraft. Sie schreibt, ohne abzusetzen, als könnte sie die Geschichte längst auswendig, ist in der Hälfte der Zeit fertig, geht aus der Klasse, setzt sich auf eine Garderobenbank und bekommt Angst. Hoffentlich schimpft die Mutti nicht, wenn sie das liest, wo sie doch für Zwentendorf ist … Vielleicht kann ich ihr die Schularbeit ja zum Unterschreiben geben, wenn sie keine Zeit hat, sie zu lesen …
Dann fällt ihr wieder Nina Hagen ein. Die Zeiger der Uhr scheinen im Koma zu liegen und sich nur kurz zu bewegen, wenn wieder jemand aus der Klasse kommt.
Dann endlich dringt das erlösende Geräusch durch das Schulgebäude und Nina darf weitersingen.
»Kannst du mir das auch aufnehmen?«, fragt Anna Irene.
Uschi lächelt. »Klar, musst mir nur eine Kassette bringen.«
Der Mutti wird das aber sicher nicht gefallen … besser, ich höre sie nur heimlich …

Bei der Rückgabe der Deutsch-Schularbeiten liest Frau Elstner Anna Irenes Geschichte vor. Normalerweise war Anna Irene so etwas immer peinlich, aber diesmal ist sie stolz, denn sie weiß, dass es eine gute Geschichte ist. Und es hören alle aufmerksam zu, sogar Robert und Kilian, die sonst bei jeder Gelegenheit stören.
Anschließend diskutiert die Lehrerin mit der Klasse über das nun aufgeworfene Thema Atomkraft und Anna Irene ist erleichtert, dass wenigstens Frau Elstner auch dagegen ist.
Zuhause fragt Frau K. sofort, was in der Schule los war, und Anna Irene kann nicht lügen und »nichts« sagen, um einen passenderen Moment abzuwarten. Sie erzählt, dass Frau Elstner so begeistert von ihrer Geschichte war. Frau K. nimmt das Heft und beginnt zu lesen. Hektisch fahren ihre Blicke über die Zeilen.
»Der einzige Einser in der Klasse«, setzt Anna Irene hinzu. Frau K. belässt es bei einem verständnislosen Blick, unterschreibt und gibt ihr das Heft zurück.

Zwei Tage vor der Volksabstimmung überwindet sich Anna Irene in der Früh am Weg zur Straßenbahn, mit Frau K. zu reden: »Mutti, ich hab Angst vor der Atomkraft.«
Frau K. schießt ein »Ja, und?« heraus.
»Ich darf noch nicht abstimmen, aber es geht doch auch um meine Zukunft. Kannst du nicht für mich dagegen stimmen?«
»Du hast einen Vogel. Das kommt überhaupt nicht in Frage, die Partei ist doch dafür.«
»Bitte …«
»Du hast Ideen …«
»Es sieht doch niemand, was du ankreuzt.«
»Also bitte. Du spinnst wirklich. Ich will davon nichts mehr hören.«
Sowas haben wir doch gerade erst über den Zweiten Weltkrieg gelernt … Sie hätte bestimmt auch für Hitler gestimmt.

Bundeskanzler Kreisky droht vor der Abstimmung öffentlich mit seinem Rücktritt, und Anna Irene gibt ihre Hoffnung, die Abstimmung könne gegen Zwentendorf ausgehen, fast auf. Kreisky hat doch die absolute Mehrheit, ob da so viele gegen ihn stimmen werden? Sicher will niemand, dass er zurücktritt.
Doch am 5. November 1978 entscheidet sich überraschenderweise eine knappe Mehrheit von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes. Anna Irene würde am liebsten alle, die dagegen gestimmt haben, umarmen und danke sagen, doch sie traut sich hier im Wohnzimmer nicht einmal, ihre Erleichterung offen zu zeigen, steht vom Fernsehen auf und geht, ohne Frau K. direkt anzusehen, die, wie sie in ihrem Augenwinkel erkennt, scheinbar vor Sprachlosigkeit zu atmen aufgehört hat, in ihr Zimmer, wo sie leise Tränen der Erleichterung in ein Taschentuch drückt.

Die erste Langspielplatte von Nina Hagen erscheint und Anna Irene kauft sie von ihrem ersparten Taschengeld, schmuggelt sie in die Wohnung, indem sie sie beim Heimkommen vor der Wohnungstür stehen lässt und später, als Frau K. neben dem lauten Dunstabzug in der Küche beschäftigt ist, leise herein holt, versteckt sie unter dem Teppichboden ihres Zimmers und hört sie heimlich auf Frau K.s Mono-Plattenspieler, wenn diese nicht zuhause ist. Immer mit der Angst, erwischt zu werden, wenn sie einmal früher nach Hause kommt.
Wenn ich sie nur der Uschi zum Aufnehmen geben könnte, aber ich kann sie ja nicht in die Schule mitnehmen, sie passt nicht in die Schultasche und dann sieht die Mutti sie ja.
Doch es dauert nicht lange, bis Uschi die Platte von ihren Eltern geschenkt bekommt, und Anna Irene bringt ihr wieder die Kassette mit. Am nächsten Tag ist alles perfekt, Nina auf Band, sodass sie sie auch leise in ihrem Zimmer hören kann. Uschi ist ein echter Engel.

*

Als sie wieder einmal mit Hannes alleine ist, meint dieser, er würde gern mit Anna Irene etwas ausprobieren, was er auf der Sozialakademie gelernt hat, dazu müsse Anna Irene nur ein paar Fragen beantworten.
»Stell dir einen Wald vor. Wie sieht er aus?«
»Ist das jetzt eine Scherzfrage?«
»Nein, das ist Psychologie. Du sollst nur den Wald beschreiben. Ist er hell oder finster, zum Beispiel.«
»Finster«, sagt sie spontan und überlegt dann kurz: Komisch, warum sage ich finster? Wenn ich mit Onkel Joe im Wald war, war es da doch gar nie finster.
»Und? Weiter? Ist da ein Weg?«
»Ja, natürlich.«
»Wie sieht er aus? Eben und breit, oder …«
»Nein, er ist schmal und die Wurzeln von den Bäumen ragen überall heraus.« Solche Wege sind mir die liebsten.
»Siehst du hinaus aus dem Wald, wird es irgendwo lichter?«
»Nein, es ist ein großer Wald, in dem man lange gehen kann.«
Hannes lächelt und sagt: »Danke, das war’s schon.«
»Und was hast du jetzt über mich herausgefunden?«
»Das kann ich dir natürlich nicht sagen.«

Wenn sie bei Hannes ist, lernt Anna Irene auch viel gute Musik aus den Sechzigern und Siebzigern kennen, von den Animals bis zu Led Zeppelin. Er hat eine richtige Stereoanlage, die er laut aufdrehen kann. Und er ist immer alleine zuhause, obwohl er eigentlich mit seinem Vater hier wohnt. »Warum ist denn dein Papa nie da?«, fragt sie ihn.
»Der arbeitet in Italien.«
»In Italien? Wieso arbeitet er nicht hier?«
»Seit er im Vorstand von FIAT sitzt, muss er dort sein und kommt nur ab und zu nach Hause.«
Natürlich hören sie nicht nur Musik. Hannes hat Anna Irene schon nach den ersten Wochen gelernt, was er als Mann braucht, aber er begnügt sich vorläufig damit, wenn sie es ihm mit der Hand macht. Sie findet das sehr anstrengend und es tut ihr jedesmal der Arm davon weh.
Als sie eine kurze Pause macht, um ihren Arm zu erholen, drückt Hannes sie etwas nach unten und hält ihr seinen steifen Schwanz entgegen. »Du kannst ihn auch in den Mund nehmen.«
Ist das grauslich … aber ich will ihn nicht verlieren, sonst komme ich nie von der Mutti weg.

*

Zwei Wochen vor Weihnachten holt Frau K. während des Essens tief Luft, richtet sich auf, um in wichtigem Ton zu sagen: »Ich musste heute aufs Jugendamt.«
Nach einer Spannungspause, in der Anna Irene überlegt, ob sie irgendetwas Schwerwiegendes verbrochen hat, spricht Frau K. weiter: »Astrid will zu uns kommen.«
»Astrid will zu uns kommen?«, fragt Anna Irene ungläubig.
»Ja, sie hat am Jugendamt in Linz ausgesagt, dass sie dort von dieser Ilse nur ausgenützt wird. Da siehst du wieder, wie gut es dir geht. Astrid muss ihre kleinen Halbgeschwister in der Früh im Kindergarten und in der Volksschule abliefern, bevor sie in die Schule gehen kann.« Anna Irene weiß nichts darauf zu sagen, sie fände das schöner als jeden Tag neben Frau K. zu gehen, die nun weiterspricht: »Wir haben ausgemacht, dass sie in der zweiten Woche der Weihnachtsferien erst einmal probeweise herkommt und sich ansieht, ob sie auch hier bleiben will.«
»Aha …« Das wäre ja schön, wenn sie dableibt! Dann wären wir zu zweit – und bestimmt hört die Mutti dann auf, immer auf mich loszugehen! Schließlich hab ich dann eine große Schwester, die mir hilft. Und die Astrid kann sich viel besser wehren, die ist jetzt schon fünfzehn. Es soll ihr hier alles gefallen … bitte … hoffentlich bleibt sie da! Wir könnten alles gemeinsam machen, und richtig zusammenhalten, wie »das doppelte Lottchen«, und überhaupt niemand kann uns irgendwas tun!

Hannes erzählt Anna Irene, dass er in der Sozialakademie gelernt hat, welche Phasen ein Paar durchmacht, bis es zum ersten Mal miteinander schläft. »Und wir sind jetzt schon die längste Zeit auf der vorletzten Stufe. Es wird Zeit, dass wir miteinander schlafen. Als Mann brauche ich das einfach.«
Ich muss versuchen, ihm eine richtige Frau zu sein, damit ich ihn nicht verliere … Aber ich fürcht mich so davor …
Als er probiert, in sie einzudringen, hat Anna Irene Angst, etwas falsch zu machen. Er gibt den Versuch auf und meint, Anna Irene sei zu verkrampft. Später fragt er: »Hast du eigentlich schon einmal die Regel gehabt?«
»Nein …«
»Warum sagst du das denn nicht?«
»Ich dachte, das hättest du schon mitbekommen.«
Und wenn er sich jetzt eine andere sucht, bei der schon alles funktioniert, wie es soll? … Wenn ich ihn nicht hab, komme ich doch nie von der Mutti weg! …Warum war ich auch so verkrampft? Warum hab ich es nicht richtig gemacht? Bin ich zu blöd dazu?
Zufällig macht Hannes seit einem Monat das für seine Ausbildung erforderliche Praktikum. Über seine Parteikontakte hat er eine Stelle in einem Krankenhaus gefunden.
Er bringt Anna Irene Hormontabletten mit, die helfen sollen, dass sie bald die Regel bekommt. Anna Irene fühlt sich minderwertig und unvollständig und hofft, dass sie bald wirken. Sie hat Angst, ihn an eine Frau zu verlieren, bei der schon alles funktioniert, wie es soll, und strengt sich die nächsten Male noch mehr an, es ihm mit den Händen oder dem Mund schön zu machen.

Als Astrid wenige Tage nach Weihnachten kommt, wird sie mit einigen Geschenken empfangen. Zwar hat Astrid die letzten Jahre nie etwas von Frau K. bekommen, aber jetzt ist sie ja da. Sie freut sich einen Moment über Blusen und einen handgestrickten Pullover, dann sagt Frau K.: »Für die ersten Tage wird das reichen. Wenn du dann bei uns bleibst, können wir noch mehr besorgen.«
Astrid fragt verwundert: »Wie … wieso ›reichen‹? Ich hab doch meine Sachen …«
»Die Sachen, die du mitbekommen hast?«, fragt Frau K. und kichert, als hätte Astrid etwas besonders Dummes gesagt. »Die alle diese Ilse ausgesucht hat? Da muss ich mich ja genieren, wenn ich so mit dir auf die Straße gehe.«
Astrid wirft ihr einen strafenden Blick zu, doch Frau K. fixiert selbstzufrieden den Löffel, mit dem sie ihren Kaffee umrührt. Nach der Löffelmeditation beginnt sie, ihre Torte zu essen. Dann ist ein leises »Hm-hm!« zu vernehmen, so, als wäre ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen, das sie beinahe vergessen hätte, und sie schaut Astrid wieder ernst an. »Eines muss dir natürlich klar sein.«
Sie wartet extra, bis Astrid nachfragt: »Was denn?«
»Bei uns wirst du natürlich auch mithelfen. Es geht nicht, dass du hierher kommst, nur um dich vorm Arbeiten zu drücken.«
Als Anna Irene Astrids Blick sieht, weiß sie bereits: Sie fährt wieder heim …
Die beiden Mädchen verbringen zweieinhalb Tage gemeinsam, spielen »Mensch ärgere dich nicht«, wie damals, als es im Kindergartenalter noch Besuchswochenenden gab, die während der Volksschulzeit spärlicher wurden und schließlich gar nicht mehr stattfanden, reden über ihre Vorlieben, Freunde und Erinnerungen, lachen heimlich unheimlich über Frau K., was Anna Irene besonders gut tut, weil es so befreit und sie seit der Übersiedlung, durch die sie von ihren Freunden getrennt wurde, niemanden mehr hat, mit dem sie darüber lachen könnte. Mit Onkel Joe und Frau K. gemeinsam fahren sie auf den Donauturm, und bei allem spürt Anna Irene eine Stimmung in der Luft liegen, als wüsste bereits jeder von ihnen, dass Astrid nicht dableibt. Frau K. streut zwischendurch noch weitere nette Aussagen ein, in denen sie Astrid oder die Familie väterlicherseits und ganz besonders Ilse herabwürdigt, gibt ein paar schroffe Arbeitsanweisungen, und am vierten Tag sitzt Astrid bereits wieder im Zug nach Hause. »Ich weiß jetzt wenigstens, dass ich in Linz eine Familie habe, in der man mich lieb hat«, sagt sie zum Abschied, und das Frau K. direkt ins Gesicht, die ihre bereits heftig zuckende Hand sichtlich zurückhält – sie weiß schließlich, wann sie sich zurückhalten muss und wann sie sich gehen lassen kann.

Warum kann Astrid es sich eigentlich aussuchen, wo sie wohnt, und ich nicht? … Ich würde mich ja gar nicht trauen, zu sagen, dass ich woanders hin will … Die Mutti würde es erfahren, bevor ich wirklich weg bin, und dann … Außerdem wäre ich dann auch von Onkel Joe weg, und den will ich doch nicht verlieren.

*

Als sie endlich die Regel bekommt, drückt Hannes ihr zwei Päckchen einer leichten Anti-Baby-Pille in die Hand und sagt: »Es ist besser, wenn du die ab jetzt nimmst.«
Anna Irene liest abends im Bett den Beipackzettel. Sie kann erst ab der nächsten Periode mit der Einnahme beginnen, also verstaut sie die beiden Päckchen ganz hinten in ihrer Schreibtischlade.
Tage später liegen die beiden Päckchen am Wohnzimmertisch, als sie von der Schule kommt. Scheiße, warum hab ich sie bloß nicht besser versteckt? Ich weiß doch, dass sie immer in meinen Sachen stierlt! Warum bin ich nur so blöd?
Frau K. kommt aus der Küche, nimmt die Päckchen, fuchtelt damit herum und fragt: »Was soll das?! Was willst du damit?!«
»Na, willst du vielleicht jetzt schon Oma werden?«
Frau K. steigt die Zornesröte ins Gesicht, sie schimpft Anna Irene alles Mögliche und geht auf sie los.
Die Pille verschwindet spurlos. Trotzdem akzeptiert sie Hannes weiterhin, lässt sich in seiner Gegenwart nichts anmerken, ist nach wie vor freundlich zu ihm, als wäre er ihr Vorgesetzter.

*

In der Schule strengt sich Anna Irene jetzt besonders an, damit sie einen guten Notendurchschnitt bekommt. Das muss sie schaffen, damit sie überhaupt zur Aufnahmsprüfung der HTL zugelassen wird.
Am Tag nach ihrem vierzehnten Geburtstag bekommt sie das Halbjahreszeugnis, und zum ersten Mal seit der Volksschule vermiest es ihr nicht den Geburtstag. Sie kann sich freuen, sieht sich schon als Architektin und Frau K. hat keinen Grund, sich über irgendeine Note aufzuregen.
Ich werde sicher die schönsten Häuser in der Stadt bauen. Sie erinnert sich an die Wohnung der alten Frau in Linz, die sie manchmal vom Kindergarten abgeholt hat. Mit Zimmern, durch die man im Kreis laufen kann, damit es keinen letzten Winkel gibt, in den man gedrängt werden kann, sondern die Kinder immer von einem Zimmer ins nächste flüchten können.

Vor der Aufnahmsprüfung im April wird sie trotzdem nervös. Ich muss es schaffen …
Für jede Seite des Tests ist eine bestimmte Zeit vorgegeben, dann werden alle zum Umblättern aufgefordert. Sie füllt eine Seite nach der anderen aus.
Danach geht sie mit drei anderen Kindern, die mit ihr in der Klasse saßen, in den gerade erst eröffneten McDonalds am Schwarzenbergplatz. Es ist die erste Filiale in Wien und für alle vier noch neu. Bei Hamburgern und Cola unterhalten sie sich über manche Details der Prüfung und ob sie glauben, dass sie es geschafft haben. Anna Irene ist unsicher, obwohl sie alles ausgefüllt hat und die anderen erzählen, dass sie viele Aufgaben nicht lösen konnten. Ich kann ja auch vieles falsch gemacht haben …
Im Mai hängen die Ergebnisse in der Schule aus. Frau K. fährt mit Anna Irene hin, um nachzuschauen. Vor den Zetteln mit den aufgenommenen Schülern steht bereits eine Menschentraube, also fängt Anna Irene die nach Prüfungsergebnissen geordnete, zwanzigseitige Namensliste von hinten zu lesen an und ist froh um jedes Blatt, auf dem ihr Name nicht steht. Ich bin also zumindest nicht bei den Schlechtesten …
Da kommt Frau K., die sich bei Seite eins nach vorn gedrängt hat, und zieht Anna Irene aufgeregt am Arm. »Du bist aufgenommen! Du hast die viertbeste Prüfung gemacht!« Anna Irene fällt vor allem ein riesiger Stein vom Herzen. Endlich ist sie diese Angst los.
Onkel Joe freut sich ebenfalls, als er das erfährt, und verspricht, Anna Irene ein Auto zu kaufen, wenn sie die fünfjährige Schule fertigmacht. Jetzt weiß ich, dass er bei uns bleibt, sonst würde er mir das nicht versprechen. Aber wann kommt er endlich nach Wien? Er soll endlich bei uns wohnen …
Vor Freude erlaubt Frau K. sogar, dass Anna Irene zu Pfingsten mit Hannes und der SJ zum Arbeiterjugendtag nach Berlin fährt. Sie übergibt Hannes für diese Zeit schriftlich die Verantwortung für Anna Irene.
Mit zwei Autobussen und einer Sondergenehmigung, für die Bundeskanzler Kreisky persönlich gesorgt hat, fahren sie quer durch die Tschechoslowakei und die DDR nach Westberlin, nehmen dort an Diskussionsveranstaltungen und an einer Demonstration gegen die Mauer teil und schlafen in einem Turnsaal. Sie fühlt sich mit den anderen richtig verbunden und findet es schade, als sie wieder heimfahren müssen.

*

Gegen Schulschluss im Juni fragt Uschi Dagmar und Anna Irene: »Im September kommt die Nina Hagen in die Stadthalle. Wollen wir da vielleicht gemeinsam hingehen?«
Dagmar sagt am nächsten Tag zu. Anna Irene weiß noch nicht, ob sie darf.
»Mein Papa will uns bald die Karten besorgen, damit wir gute Plätze haben«, fordert Uschi nach einigen Tagen.
»Ich hab mich noch nicht fragen getraut.«
»Sag ihr einfach, dass mein Papa mitgeht«, schlägt Uschi vor, »dann kann sie gar nichts dagegen haben. Dagmars Eltern erlauben es doch auch.«
Anna Irene wartet bis zum Wochenende, wenn Onkel Joe da ist, und weiht ihn zuerst ein. Er meint, die Stadthalle sei ja ein seriöser Betrieb, da würde sie schon nichts dagegen haben, aber er verspricht trotzdem, mit Frau K. zu reden.
Diese fragt am nächsten Tag: »Und wer ist das, diese Nina Hagen?«
»Eine neue deutsche Sängerin«, gibt Anna Irene Auskunft und muss insgeheim schmunzeln. Sicher stellt sie sich jetzt sowas wie ihre Daliah Lavi vor …
»Also, ich werde da einmal mit Dora drüber reden, was sie meint.«
In dem Moment klingelt das Telefon. Uschis Vater ist dran und möchte wissen, ob er denn nun für Anna Irene eine Karte mitbesorgen soll oder nicht. Frau K. schaut nervös herum, und sagt mit wichtigtuerischer Stimme: »Ich bekomme Karten für die Stadthalle billiger, ich werde sie besorgen.«

*

Die Ferien beginnen, und Anna Irene muss sich von Hannes verabschieden. Er fliegt mit Robert und Sonja für zwei Wochen nach Schottland, sie mit Onkel Joe und Frau K. drei Wochen nach Griechenland.
Auf der Insel Ios angekommen, beziehen sie ihr Hotelzimmer und gehen anschließend durch die Hafenstadt. Anna Irene gefällt es hier und sie hat gerade das Gefühl, dass es ein friedlicher Urlaub werden könnte. Frau K. trinkt zum Essen in einer Taverne Samos und ist gut aufgelegt. Anschließend entdeckt sie einen kleinen Schneider, der für Touristen von einem auf den anderen Tag Hosen näht – aus dünnem Baumwollstoff und oben und unten mit Bändern zuzubinden. Die Mutti hatte doch noch nie eine Hose an, weil sie zu dick dafür ist, sagt sie immer …
Zum Baden suchen sie sich eine einsame Bucht, denn Frau K. will nicht da baden, wo alle baden. Lieber auf Steinen und alleine, als mit den anderen auf dem Sandstrand. Anna Irene macht es nichts aus, sie springt mit der Taucherbrille von einem Felsvorsprung und erkundet das Leben unter Wasser.
Als sie am späten Nachmittag die fertigen Pumphosen probieren und abholen, gehen sie gleich ins Hotel, um sie anzuziehen. Danach schlendern sie den Strand entlang. Frau K. greift nach Onkel Joes Hand. Das schaut richtig komisch aus … überhaupt die Mutti in der Pumphose … Sie kann sich nicht erinnern, wann sie die beiden jemals so gesehen hat. Vielleicht wird sie ja jetzt doch anders?
Aber als Frau K. plötzlich mit erhöhter Stimme zu Onkel Joe sagt »Jetzt sind wir richtig intellektuell«, weiß Anna Irene: Sie spielt nur Theater … in ihrer Verkleidung mit der Pumphose … Und als der Kellner die Bestellung verwechselt und Frau K.s Souvlaki am Nebentisch serviert, während sie das Gyros des anderen Gastes bekommt, verlangt sie, es frisch gemacht zu bekommen, obwohl der Mann es überhaupt nicht angerührt hat. … nix mit intellektuell.
Den Ausflug auf die Vulkaninsel Santorin findet Anna Irene spannend, besonders, bevor sie mit der Fähre im Hafen anlegen. Frau K. liest aus dem Reiseführer vor, dass in den Höhlen der Bimssteinwände früher Hippies gehaust haben. Da wär ich gern dabei gewesen!
Nach dem Anlegen müssen sie einen Serpentinenweg auf dem Rücken von Mulis zurücklegen, was Anna Irene lustig findet. Frau K. kreischt den ganzen Weg hinauf vor Angst, befolgt nicht die Ratschläge, die ihr Onkel Joe die ganze Zeit gibt, und beschuldigt am Ende die Betreiber der Mulilinie, ihr absichtlich den störrischsten Esel gegeben zu haben.
Die Tage gehen trotzdem ohne größere Streitereien vorüber, und auch wenn Anna Irene sich nicht mehr so wohl fühlt, wie am ersten Tag, und am liebsten ein Schild vor sich hertragen würde, dass sie nicht zu dieser Frau gehört, so ist es doch der friedlichste Urlaub, den sie bisher erlebt hat. Das gibt ihr Mut zur Hoffnung, als sie leise auf den Balkon des Hotelzimmers geht und alleine den Sonnenaufgang genießt. Sicher wird alles gut, Onkel Joe wird bestimmt zu uns ziehen, wenn sie sich so gut vertragen. Hoffentlich bekommt er bald eine passende Stelle …

Wie ausgemacht, holt Hannes sie bei der Rückkehr vom Flughafen ab und bringt sie nach Hause. Frau K. hat zwar wegen des verrauchten Autos schon die Nase gerümpft, als Hannes sich angeboten hat, aber mit ihm ist es ja doch bequemer als im Taxi, und er trägt auch gleich zwei Koffer hinauf.
Anschließend gehen er und Anna Irene ins Kino und sehen »Jesus Christ Superstar«. Hannes spielte schon vor den Ferien immer die Kassette mit der Filmmusik im Auto, und sie freut sich sehr, dass sie den Film nun auch sehen wird.
Nach der Kinovorstellung fahren sie in den Wienerwald und spazieren mit der Decke von der Rückbank des Autos auf eine Lichtung, wo er zum zweiten Mal versucht, richtig mit Anna Irene zu schlafen, aber auch diesmal macht ihr der Druck, funktionieren zu müssen, zu viel Angst, und sie muss seine Befriedigung wieder mit dem Mund erarbeiten, der ihr vor Anstrengung weh tut, als sie danach durch den finsteren Wald zurück zum Auto gehen und Hannes sie nach Hause bringt.

Die restlichen Ferien unternehmen sie viel gemeinsam und auch mit anderen aus der SJ. Sie nehmen an einer Autorätselrallye teil, gehen zu einer Lesung von Helmut Zenker in die Alte Schmiede, schauen sich eine Ausstellung über alternative Energieformen an oder treffen sich einfach nur so bei Hannes. Dort sagt sie eines Tages zu ihm:
»Ich würd so gern wieder einmal meinen Papa sehen.«
»Und warum besuchst du ihn nicht?«
»Weil ich mich nicht trau, das meiner Mutter zu sagen.«
»Naja, bei deiner Mutter …«
»Kannst du nicht mit mir einmal nach Linz fahren? Wir könnten ja sagen, dass wir einen Ausflug machen.«
Eine Woche später sind sie unterwegs nach Linz, besuchen überraschend Anna Irenes Papa, der sich ebenfalls freut, sie wiederzusehen, und er fragt: »Warum hast du denn nicht vorher angerufen?«
»Das hab ich mich nicht getraut, weil die Mutti ja nichts davon wissen darf.«
Er ist allein zuhause, Ilse verbringt mit den drei Kindern einige Tage am Attersee.
Hannes fragt, ob er rauchen darf, und sie gehen gemeinsam auf den Balkon. »Rauchst du nicht mehr, Papa?«, fragt Anna Irene erstaunt.
»Nein, schon ein paar Jahre nicht mehr. Das hat mir nicht gut getan«, sagt er, und Anna Irene muss daran denken, wie sie sich immer gefreut hat, wenn er seine leeren Zigaretten-Weichpackungen für sie gesammelt hat, weil sie mit einer im Hort erlernten Falt- und Flechttechnik einen Papierkorb daraus basteln wollte. Als die Besuchswochenenden irgendwann im Sand verliefen, blieb der halbfertige Papierkorb liegen und Frau K. warf ihn eines Tages mit den Worten »Du machst ihn ja eh nicht mehr fertig« in den Mistkübel.
Sie reden über die Schule und wie lange die beiden schon zusammen sind, gehen essen, dann fahren Hannes und Anna Irene wieder nach Wien, damit sie nicht zu spät von ihrem Ausflug kommen.

*

Ab September hat Anna Irene einen weiten Schulweg: Über eine Stunde ist sie mit der veralteten Stadtbahn und der Straßenbahn unterwegs, um in ihre neue Schule am gegenüberliegenden Ende der Stadt zu kommen. Achtunddreißig Wochenstunden Unterricht, und damit sich stundenplantechnisch alles ausgeht, gibt es in der Schule auch eine »nullte Stunde«, die bereits um sieben in der Früh beginnt; einmal in der Woche trifft es ihre Klasse, dann gibt es Englisch zum Frühstück.
Hauptsache, ich muss nicht mehr mit der Mutti gemeinsam fahren!

Neben den üblichen Unterrichtsgegenständen und Spezialfächern wie Baukonstruktionslehre und Bautechnisches Zeichnen, gibt es einmal in der Woche Praxisunterricht auf dem Bauhof. Maurern und Zimmern wird hier gelehrt, das macht Anna Irene besonders Spaß und hier wird sie auch am meisten gelobt. Stets weiß sie als Erste, wie die Holzverbindungen aussehen müssen, um den gestellten Anforderungen zu entsprechen, und durch Genauigkeit und Liebe zu der Arbeit fertigt sie die klassenbesten Werkstücke an. Das Mischen des Mörtels hat sie schnell im Gefühl und die Mauern, die sie mit Athanasios gemeinsam in den verschiedensten Ziegelverbindungen aufstellt, sind gerade.

Mit Athanasios freundet sich Anna Irene sehr schnell an. Oft verbringen sie gemeinsam die Mittagspause, essen im Schulbuffet oder gehen auf den St. Marxer Friedhof spazieren. Anfangs war ihr mulmig dabei, sie hatte noch nie mit dem Tod direkt zu tun, und hatte Angst, ihn auf dem Friedhof zu spüren. Doch Athanasios sagte: »Der Friedhof ist so alt, da ist sogar der Tod schon tot.«
Und tatsächlich: Als sie durch den aus Ziegelsteinen gemauerten Eingang gehen, den sowohl ein Judenstern als auch ein Kreuz zieren, ist es mehr so, als würden sie durch einen Park spazieren. Vorbei an verwilderten Gräbern und Grabsteinen, an denen die Zeit deutliche Spuren hinterlassen hat. Der Tod ist hier längst verwest und eins mit der Erde.
»Da liegt der Mozart«, sagt Athanasios und zeigt auf ein ungepflegtes Grab mitten am Weg.
»Aha. – Bist du eigentlich Grieche?«, fragt sie.
»Ist das wichtig?«, fragt er zurück. »Nein, ich bin kein Grieche.«
»Warum hast du dann den Namen?«
Er zieht die Schultern hoch und senkt sie wieder. »Keine Ahnung. Hat meinen Eltern wohl gefallen.«

*

An einem Sonntag Mitte September gehen Hannes und sie in den Wiener Wald spazieren. Sie reden über Dinge, die die SJ betreffen, und Anna Irene spürt bereits, dass etwas nicht stimmt. Es dauert zwei Stunden, bis Hannes sich überwindet, ihr zu sagen: »Ich habe eine andere Freundin.«
Anna Irene muss erst schlucken, wirre Gedanken fliegen durch ihren Kopf, ohne Halt zu finden. Ihre Welt bricht zusammen. Sie fühlt sich als Versagerin, weil sie noch nicht seinen Vorstellungen einer Frau entsprechen konnte, und gleichzeitig, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Alle ihre Hoffnungen sterben und Hannes tritt seine Zigarette am Boden aus.
Als er sie kurz darauf nach Hause bringt, hat sie nur mehr den einen Gedanken: Die Mutti darf nicht wissen, dass mit Hannes Schluss ist.

In der Woche darauf findet das Konzert von Nina Hagen statt, und die Vorfreude hilft Anna Irene, ihren Kummer wegen Hannes zu verdrängen.

Sie beginnt vor Erleichterung fast zu schweben, als sie endlich bei der Haustür hinaus und zum Konzert geht. Alles wirkt seltsam fremd auf dem Weg zur Straßenbahn, als wäre es gar nicht echt. Bei jeder Gelegenheit hatte Frau K. gedroht, ihr das Konzert doch noch zu verbieten, und sie hatte brav gelernt und gebügelt, ihr Zimmer aufgeräumt und geputzt, im Wohnzimmer gleich weitergeputzt, zum Einkaufen ist sie so oft wie möglich mitgegangen, um Frau K. die Taschen abzunehmen, im Pensionistenheim hat sie besonders freundlich gelächelt und beim Fernsehen hat sie nicht dreingeredet, wenn Frau K. eine ihrer vielen Lieblingssendungen anschauen wollte, bei denen man sich gleich nicht mehr auskennt, wenn man nur ein Wort nicht versteht.
Nur zweimal konnte Anna Irene es nicht verhindern, dass Frau K. abends nach Blitz und Donner den Konzertbesuch verbot, woraufhin Anna Irene kaum schlafen konnte. Sie erbettelte am nächsten Tag unter Tränen die neuerliche Erlaubnis.
Nun hat sie es geschafft, sie ist pünktlich am Treffpunkt, schaut sich kurz um und sieht Uschi und Dagmar. Sie haben ihre Großvaterhemden an! Als Uschi Anna Irene sieht, holt sie das weiße Hemd und die schmale, schwarze Krawatte für Anna Irene aus der Tasche, und Anna Irene fühlt sich wie ein kleines Kind zu Weihnachten. Sie zieht das Hemd über ihr T-Shirt an und gibt Uschi einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein echter Schatz!«

Alle stehen von ihren Sitzplätzen auf, als Nina in ihrem engen, schwarzen Kostüm die Bühne betritt und die ersten Instrumente einsetzen. Anna Irene steht fasziniert da, kann es noch immer kaum glauben, dass sie es geschafft hat, hier zu sein, und spürt die Musik plötzlich in ihrem ganzen Körper. Das Einsetzen von Ninas Stimme, im Publikum leuchten Feuerzeuge auf, buntes Scheinwerferlicht bewegt sich mit Nina und zur Musik, alles ist wie ein lauter Traum. Anna Irene genießt die Stimmung, fühlt sich eins mit den anderen, bewegt sich im Rhythmus und fühlt sich von Ninas gesungenen Worten immer mehr angesprochen. Ich will hier nie wieder hinaus, das sollte ewig so weitergehen …

Langsam wird alles um Anna Irene zur Kulisse, sie nimmt nur mehr Nina wahr. Und dann geht Nina am Ende eines Liedes ganz nach vorne auf die Bühne und sagt laut und deutlich: »Macht nicht, was andere von euch wollen, handelt nach eurem eigenen Gefühl, nach eurer eigenen Überzeugung! Versucht nicht, das Leben zu leben, das irgendjemand von euch erwartet – nur wenn man wirklich man selbst ist, kann man glücklich und ein freier, aufrichtiger Mensch sein.«
Anna Irene bekommt bei diesen Worten Gänsehaut, sie legen sich sperrig in ihren Kopf und werden auch von den folgenden Liedern nicht handlicher. Die Musik lässt sie aber nicht da stehen und nachdenken, sie nimmt Anna Irene einfach wieder mit, fliegt mit ihr noch eine Runde durch die Höhen und Tiefen von Ninas Stimme, und die Kraft darin lässt Anna Irene ihre eigene innere Kraft spüren. So möcht ich auch einmal sein, so stark … dass keiner über mich bestimmt.
Bevor die endgültig letzte Nummer gespielt wird, fordert Nina die Konzertbesucher auf, zu einem Treffen am Samstag in den Burggarten zu kommen. Ja, da will ich hingehen. Irgendwie muss ich das dürfen! … Ich könnte so tun, als würde ich mich mit Hannes treffen …

Ninas Worte gehen Anna Irene nicht mehr aus dem Kopf. Das Großvaterhemd schmeißt sie zur Schmutzwäsche, wenig später liegt sie im Bett und kann nicht schlafen. Wie soll das denn gehen? Wie kann ich denn tun, was ich will, wenn die Mutti über alles bestimmt? Mein Leben ist ja jetzt schon nicht mehr meins, denn dann wäre ich doch noch in Linz. Alles wäre ganz anders, wenn es nach mir gehen würde und mein Leben wäre. Und wie soll ich irgendetwas tun, was der Mutti nicht recht wäre, oder etwas nicht tun, was sie sich erwartet, wenn sie mich nachher womöglich umbringt? – Wie kann ich denn ich selbst sein? – Wie kann ich das machen, dass es mein Leben ist? Ich muss unbedingt mit Nina reden und sie fragen, wie das geht. Die kann mir das sicher sagen. … Nina … Der Gedanke, Nina so richtig gegenüberzustehen und mit ihr zu reden, ist überwältigend, lässt sich in hundert Varianten bildhaft vorstellen und wirkt doch so unecht. Irgendwann wirken die Bilder mit Nina doch noch, wie die unzähligen gezählten Schäfchen es angeblich tun.

Am Ende des Frühstücks überwindet sie sich, zu fragen: »Darf ich heute Nachmittag weggehen?«
»Wieso, was hast du denn vor?«, fragt Frau K. zurück.
Anna Irene bringt es nicht fertig, sie anzulügen. »Nur ein paar Leute treffen.«
»Was für Leute
Onkel Joe, der ebenfalls dabeisitzt und kurz Luft holt, als wollte er etwas sagen, bekommt einen giftigen Blick von Frau K. zugeworfen, der erfahrungsgemäß Halt den Mund! heißt, dann fragt sie Richtung Anna Irene weiter: »Wer sind die und wie kommst du zu denen?«
»Die Nina Hagen hat die Leute aus dem Konzert für heute Nachmittag in den Burggarten eingeladen.«
»Nein, na wirklich nicht! Das kommt ja gar nicht in Frage! In den Burggarten …!« Sie zeigt Anna Irene den Vogel, die rein gar nichts über den Burggarten weiß, außer, dass er am Burgring liegt, wo der Neunundvierziger Endstation hat. »Ich lass dich doch nicht zu dem ganzen Gesindel, du hast genug zu tun.« Ihr Blick weist auf den wiederum auf Lehnenhöhe angewachsenen Bügelwäscheberg auf dem Bügelbergsessel. »Und wenn du damit fertig bist, kannst du wieder einmal Schuhe putzen.« Ohne merklich Luft zu holen, wendet sie sich Onkel Joe zu, verzieht dabei ihr Gesicht zu einem künstlichen Lächeln und sagt: »Und wir fahren dann zum Ikea. Ich möchte mir diese wunderbaren gusseisernen Kochtöpfe anschauen, die ich im Katalog gesehen habe.«
Wenn sie wegfahren, dann … Da ist doch vorgestern in der Zeitung gestanden, in welchem Hotel sie wohnt … Dann kann ich ja vielleicht dort anrufen und mit Nina am Telefon reden! Als sie kurz darauf ins Badezimmer geht, schaut sie im Vorzimmer unauffällig in die Schachtel, in der das Altpapier gesammelt wird. Ja! Halb voll, da sind sicher noch alle Zeitungen drin! Sie freut sich innerlich, aber sie denkt auch daran, dass sie sich nichts anmerken lassen darf, und bügelt mit heimlicher Vorfreude. Hoffentlich erreiche ich Nina dort … ich muss mit ihr reden …

Endlich verlassen Frau K. und Onkel Joe das Haus. Anna Irene wartet eine Weile, für den Fall, dass Frau K. etwas vergessen hat und noch einmal zurückkommt, und sucht dann die richtige Zeitung aus dem Altpapier. Sie durchblättert die AZ nach der kleinen Meldung. Kurz darauf liest sie im Telefonbuch. Hotel Intercontinental … Da ist es! Sie nimmt den Hörer ab, hält ihn kurz in der Hand und legt wieder auf; überlegt erst: Wie fange ich denn an? Was sage ich zuerst? … Dass mir ihr Konzert gefallen hat, ja, genau.
Sie wählt die Nummer des Hotels, bringt ihren Wunsch, mit Nina Hagen sprechen zu dürfen, vor und wird prompt verbunden. Kurz darauf meldet sich Nina: »Hallo, hier ist Nina, wer spricht denn da?«
»Hallo, Nina! Ich heiße Anna Irene und ich war auf deinem Konzert gestern. Das hat mir super gefallen! Und meinen Freundinnen auch, wir waren zu dritt da.«
»Das freut mich, dankeschön!«
»Und heute ist ja dieses Treffen«, Anna Irene steigen plötzlich Tränen in die Augen und sie versucht, sie zurückzuhalten, »und ich darf nicht kommen.«
»Na, das macht doch nichts …«
»Aber ich wollte dich so gern etwas fragen, und weil ich nicht kommen darf und gerade allein bin, hab ich jetzt die Nummer rausgesucht …«
»Was wolltest du denn wissen? Frag mich ruhig!«
»Also, wie das geht, was du gesagt hast …«
»Hm?«
»Dass man man selber sein soll.«
»Und was verstehst du denn da nicht?«
»Wenn meine Mutter alles bestimmt, kann ich doch nie ich selbst sein. Ich muss doch immer tun, was sie will.«

Nina nimmt sich Zeit für Anna Irene, spricht eine halbe Stunde mit ihr, tröstet sie und macht ihr Mut. Erklärt ihr, dass sie versuchen soll, die Zeit gut zu überstehen und dabei ihr Ziel nie aus den Augen zu verlieren.
»Ich weiß, dass du es schaffst, das höre ich aus deinen Worten. Du darfst nur nie aufgeben

Ihr Herz rast, als wäre sie drei Runden im Stadion gelaufen, während sie den Hörer wieder auf die Gabel legt. Ich werd es schaffen, hat sie gesagt. Sie muss einfach Recht haben!

Das Bügeleisen gibt ein Klacken von sich und erinnert sie daran, weiterzubügeln, damit Frau K. nicht bemerkt, dass sie etwas anderes gemacht hat. Schnell noch die Zeitung wieder zurücklegen. Ihre Gedanken fahren Achterbahn. Ein Auf und Ab zwischen der Euphorie um Ninas Zuspruch und der Angst davor, wie die nächste Zeit wohl wird, ohne Hannes. Dazwischen Loopings aus der Angst, Frau K. könne anhand der Telefonrechnung bemerken, wie lange sie telefoniert hat.
Der Schlüssel im Schloss bremst die Fahrt. Aussteigen, die Realität ist zurück.

*

Tage später findet Anna Irene im Wohnzimmerregal eine A4-Broschüre, auf deren blassgelbem Deckblatt steht in Fettschrift »Drogen«, und darunter etwas kleiner: »Informationen für Sozialarbeiter«
Weil Frau K. bald da sein wird, traut sie sich nicht, darin zu lesen, sondern wartet auf einen Zeitpunkt, wenn sie sicher sein kann, länger allein zu sein. Währenddessen fragt sie sich immer wieder, ob Frau K. das Heft von Hannes oder von Tante Dora bekommen hat. Immerhin arbeitet Tante Dora inzwischen im Bundeskanzleramt, als Mitarbeiterin der Frauen-Staatssekretärin, und die Broschüre ist von einem Ministerium herausgegeben. Sie findet keine Antwort, nur noch mehr Fragen.
Zwei Wochen später liest sie über die Wirkungen sämtlicher bekannter Rauschgifte, die in dem Heft nüchtern und objektiv beschrieben werden, weil Sozialarbeiter einen realistischen Einblick in die Welt ihrer Klienten bekommen sollen. Sie liest, dass Cannabis Stimmung und Kreativität hebt und die Menschen das Gefühl haben, dass sie eingeraucht sich selbst näher sind, und dass es dabei im Gegensatz zu anderen Drogen keine körperliche Sucht gibt. Das will ich einmal probieren … Ich muss die Leute finden, die das haben …

Als sie die nächsten Male bügeln muss, wartet sie immer, dass ihr Hemd bei der Bügelwäsche ist, aber es kommt nicht. Sie fragt Frau K.: »Wo ist denn mein neues Hemd?«
»Dein neues Hemd?! Das hab ich natürlich weggeschmissen. Hat ja ausgesehen, wie aus dem Mistkübel herausgezogen. Sollen die Leute glauben, wir können uns kein ordentliches Gewand leisten?!«
Anna Irene fühlt sich wieder ein Stück mehr abgetötet. »Das Hemd war schön, und ich hab es von der Uschi bekommen!«
»Aber wenn ich dir eine schöne Bluse kaufe, dann willst du sie nicht.«

Bald merkt Frau K. auch, dass Hannes nicht mehr kommt. »Warst ihm wohl nicht gut genug?«, stellt sie mehr fest, als dass sie fragt. »Naja, du hast ja eh genug zu lernen. Und von der SJ kommst du in Zukunft pünktlich nach Hause. Wenn du am nächsten Tag Schule hast, ist das sowieso nichts, wenn du so lange unterwegs bist.«

Onkel Joe kommt am Wochenende mit einer erfreulichen Meldung: Er wird zweimal für je eine Woche in Wien sein. Obwohl es eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehört, wird er für die Vöest im November Montagearbeiten ausführen.
Anna Irene genießt die beiden Wochen, als wäre sie im Paradies gelandet. Er lernt mit ihr, sie gehen in die Stadthalle schwimmen, er bringt sie mit dem Auto zur Schule, und sie muss keine Angst vor Frau K. haben. Warum kann es nicht einfach ewig so bleiben? Wann wohnt er endlich ganz bei uns?

*

Es weihnachtet und Onkel Joe hat Urlaub bis über Silvester. Vielleicht fahren wir ja sogar einmal schifahren? Das wäre schön, wir waren schon so lange nicht!
Am 24. und 25. Dezember ist auch noch die Oma zu Besuch und Frau K. ist gestresst und nervös, weil sie immer besonders gut kochen will, wenn ihre Mutter da ist.
Oma weiß dies auch zu würdigen, wischt sich mit der Serviette über die Lippen und sagt: »Das schmeckt wirklich sehr gut – wie im Restaurant!«
Frau K. schnappt empört nach Luft. »Das ist ja wohl die Höhe! Mein Essen mit einem Gasthaus-Essen zu vergleichen … ist eine Beleidigung!«
Die beiden geraten wieder einmal in Streit und Anna Irene hat Mitleid mit ihrer Oma. Sie hat es doch nur gut gemeint …

Als Anna Irene und Onkel Joe die Oma am nächsten Tag zum Zug bringen, fragt sie ihn bei der Rückfahrt: »Können wir vielleicht auch einmal schifahren in den Ferien?«
»Nein, ich hab meine Schi ja bei meinen Eltern in Linz.«
»Aber wann fahren wir denn wieder einmal?«
»Das kann ich dir nicht sagen …«
Sie spürt, dass Onkel Joe irgendwie verändert ist.

Am nächsten Tag sitzt sie in ihrem Zimmer, hört gerade das Lied »Hiroshima« und träumt vom Frieden zuhause, als sie ein Geräusch vernimmt, als würde die Wohnzimmertür zugemacht. Das ist ungewöhnlich, normalerweise steht sie immer offen. Sie geht hinaus, um sich zu überzeugen. Tatsächlich, die Tür ist zu.

Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in ihrem Magen aus, sie bekommt Angst. Irgendetwas stimmt nicht. Sie würde gerne an der Tür horchen, aber da diese Glaseinsätze hat, traut sie sich gar nicht näher hin. Sie ahnt, worum es geht, betet, dass alles nur Einbildung ist.
Wie versteinert sitzt sie auf ihrem Bett. Leere. Die Frage, was wird, wenn ihre Befürchtungen stimmen, endet mit dem Fragezeichen. Die Antwort lässt sich nicht denken.
Nach rund einer Stunde kommt Onkel Joe zu Anna Irene ins Zimmer und erklärt auch ihr, dass er sich von Frau K. scheiden lässt.
Unter Tränen bittet sie ihn: »Bittebitte überleg dir das noch einmal … Bittebitte bleib bei uns, ich brauch dich doch!«
»Das geht nicht. Eine Frau in Linz bekommt ein Kind von mir …«

Wie überlebe ich die Wochenenden ohne ihn? Wer hilft mir dann? Wer beruhigt die Mutti, wenn sie sich aufregt? Wenn Onkel Joe weg ist, bin ich immer ganz alleine mit ihr … das halt ich doch nicht aus!
Vor Anna Irene öffnet sich ein Abgrund, immer tiefer, bietet freie Sicht in die Hölle, und egal, in welche Richtung sie schaut, sämtliche Wege sind abgeschnitten, kein Wald ist mehr übrig, alles um sie ist nur mehr blutende, glühende Erde, in deren Tiefe ein vernichtendes Feuer lodert.
Jetzt ist alles aus … das überleb ich nicht …
Den Rest des Tages fängt sie jedesmal, wenn sie ihn ansieht, zu weinen an. Sie kann gar nicht anders.

Am Tag danach fährt Onkel Joe nach Linz und nimmt auch gleich fast alle seine Sachen mit. Viel hatte er ja nie da. Silvester möchte er mit seiner neuen Frau feiern. Anna Irene bekommt kaum mehr etwas mit, ihr Hirn ist wie eingenebelt. Sie isst fast nichts mehr und nachts träumt sie davon, der Frau in Linz das Kind aus dem Bauch zu treten, damit Onkel Joe wieder zurückkommen kann.

*

Tante Dora schickt Frau K. nach den Ferien in die von den SPÖ-Frauen unterstützte Familienberatung, um sich dort zu erkundigen, wie sie bei der Scheidung mit dem Wohnungsverbesserungskredit am besten aussteigt.
»Du kommst natürlich mit. Wir gehen die Besucherfrequenz steigern, und da zählst du auch.«

Die Beraterin bespricht mit Frau K. Dinge, die an Anna Irene vorbeigehen, und sagt anschließend zu ihr:
»Du musst jetzt deiner Mutti viel helfen. Sie hat es jetzt schwer. Dich betrifft das ja nicht so, weil er ja nur dein Stiefvater war und nicht dein richtiger.«

Anna Irene fühlt sich, wie mit einem Dolch abgestochen, aber sie sagt nichts darauf, weil Frau K. danebensitzt.

Wieder zuhause, kommt Frau K. plötzlich in ihr Zimmer und erklärt: »Wir haben jetzt natürlich weniger Geld, und wenn ich dir die Schule weiterhin finanzieren soll, erwarte ich auch, dass du ordentlich lernst. Dann gibt es kein Fortgehen mehr, du hast zu lernen und zu lernen und zu lernen. Du steckst deine Nase in nichts anderes mehr, als in deine Schulbücher. Solange ich dich durchfüttern muss, will ich die Gewissheit haben, dass es nicht umsonst ist.« Das halte ich doch keine fünf Jahre aus … Ich kann die Schule nicht fertigmachen …

*

Anna Irene sieht Onkel Joe nicht mehr. Sie muss in der Schule sein, als er und Frau K. ihren Termin am Gericht haben und er seine letzten Sachen abholt, die Frau K. schon bereitgestellt hat.
Von Hannes und Onkel Joe verlassen, werden die körperlichen Übergriffe von Frau K. auf Anna Irene wieder häufiger. Haarereißen, irgendwo hinstoßen. Immer öfter gegen die Türschnalle der Wohnungstür, das tut viel mehr weh im Rücken als der hölzerne Türstock mit den abgerundeten Ecken. Anna Irene möchte brav sein und versucht, jegliche Schmerzenslaute zu unterdrücken, alles hinzunehmen, selbst die Angst, irgendwann blöd zu fallen. Sie weiß, dass es nur schlimmer wird, je mehr sie jammert und heult.
Und immer öfter hat sie das Gefühl, sterben zu müssen, obwohl sie körperlich gesund ist.

Athanasios und Anna Irene beschließen, den zweistündigen Turnunterricht, für den sie während der Mittagspause in einen anderen Bezirk fahren müssen, gemeinsam zu schwänzen.
»Kennst du das Café Eos?«
»Nein.«
»Wird dir sicher gefallen.«
Sie gehen durch die mit einem schweren, roten Vorhang verhängte Tür in das Lokal. Es wirkt recht bieder. Als Pinguine verkleidete Ober, gepolsterte Sitzbänke an den Wänden, davor kleine, runde Kaffeehaustische und Thonet-Sessel, einige in Zeitungen, Bücher oder Gespräche vertiefte alte und junge Menschen.
Anna Irene schaut sich nach einem guten Platz um, doch Athanasios sagt: »Komm, wir gehen nach hinten.«
Im Hinterzimmer steht ein Flipper, an dem bereits zwei junge Burschen spielen.
»Können wir mitspielen?«, fragt Athanasios. Als die beiden das Spiel beendet haben, wirft er eine Zehn-Schilling-Münze in den Apparat und sie spielen zu viert.
Die Turnstunde ist schnell um, Anna Irene fährt pünktlich nach Hause, damit nichts auffällt.

»Wieso stinkst du so nach Rauch?«, fragt Frau K. zur Begrüßung.
Darauf ist Anna Irene nicht vorbereitet, deshalb fragt sie zurück: »Was? Ich stink nach Rauch?«
»Na, riechst du das etwa nicht?«
»Nein. Wir waren in der Mittagspause was essen, vielleicht von da?«
»Wer ist ›wir‹?«
»Ein paar von meiner Klasse und ich.«
Frau K. sieht auf die Uhr. Keine Zeit für ein Theater. »Geh dich baden und wasch dir die verstunkenen Haare. Wir gehen heute mit Dora zur Vorbesprechung des Frauentags, da kann ich dich so nicht brauchen. Was sollen denn die von uns denken.«

Zwei Stunden später sitzen sie bei Kuchen und Orangensaft mit wichtigen Frauen in einem Besprechungszimmer. Frau K. schaut aufgeregt und stolz. Die Aufgabe Anna Irenes ist beschlossene Sache.
»Wir wollen, dass du etwas machst, womit du zeigst, dass die HTL auch eine Schule für Mädchen ist. Du kannst doch sicher irgendetwas von dem, was du gelernt hast, vorführen, nicht?«
Anna Irene wird mulmig, aber sie weiß, es bleibt ihr nichts anderes übrig, als den Plänen zuzustimmen. Frau K. würde sich schämen und alles in Zorn umwandeln …
»Einen Plan zeichnen, vielleicht?«, schlägt Anna Irene vor. Dann könnte ich da einfach meine Hausübung machen … Aber wenn mir dann alle zuschauen …
»Naja, wir haben eher an eine praktische Arbeit gedacht, etwas, was du am Bauhof lernst, damit man auch etwas sieht. Eine Mauer aufstellen oder sowas.«
»Ja, oder eine Holzverbindung sägen und stemmen.«
Der wohnzimmergroße Raum ist inzwischen ganz vernebelt, die Frauen diskutieren untereinander, sind der Meinung, eine Mauer wäre ein viel besserer Blickfang, und beschließen sogleich den Standort von Anna Irene. »Da in dem Durchgang zwischen den beiden großen Räumen wäre es optimal.«

Im Unterricht fällt es Anna Irene immer schwerer, sich zu konzentrieren, und auch zuhause kann sie stundenlang lernen, ohne sich etwas zu merken. Im Halbjahreszeugnis, das sie heuer genau an ihrem Geburtstag bekommt, stehen die ersten Vierer und Fünfer. Einzig in Deutsch, Englisch und am Bauhof hat sie noch Einser.
Und je schlechter die Noten werden, desto öfter nimmt Frau K. sie als Anlass, sich wieder einmal so richtig körperlich auszutoben. Anna Irene kann gar nicht mehr in ihre Nähe gehen, ohne Angst zu bekommen, und wenn sie in ihrem Zimmer ist und hört, wie sich Frau K.s Schritte auf dem knarrenden Boden nähern, zuckt sie zusammen.

Als Athanasios und sie sich in der Früh sehen, sprechen sie mit den Augen, packen ihre Sachen und gehen einfach wieder aus der Klasse.
»Und jetzt?«, fragt Anna Irene.
»In den Prater?«
»Um die Zeit?«
»Die Flipperhallen haben schon offen. Und ich weiß einen Flipper, wo man noch fünf Spiele mit fünf Kugeln für einen Zehner bekommt.«
»Gut, fahren wir in den Prater.«

*

Anna Irene ist kalt von draußen, als sie das Künstlerhaus betritt. Sie geht in den für sie vorgesehenen leeren Raum, in dem ihr Material bereitgestellt ist, aber ihr wird nicht wärmer.
In den Sälen links und rechts von ihr werden Infotische und Verkaufsstände aufgebaut, auch am Frauentag unentbehrliche, helfende Männer mit Schraubenziehern und wichtige Frauen mit Block und Kugelschreiber laufen herum. Anna Irene fühlt sich so fremd, wie sie abseits steht. Hoffentlich geht der Tag schnell vorbei …
Endlich kommt eine der Frauen zu ihr, begrüßt sie und fragt, ob sie alles hat, was sie braucht.
»Wasser brauch ich auch, wenn ich einen Mörtel mischen soll. Und kommt da zu mir kein Infotisch?«
»Nein, wofür? Wenn die Leute Fragen haben, kannst du sie ja beantworten. Wasser bekommst du dann gleich.«
Was soll ich denn den Leuten erzählen? Ich will mich doch gar nicht hervortun, dass ich als Mädchen in diese Schule geh. Da komm ich mir dann sicher ur blöd vor. Und ich will auch niemandem einreden, dass jetzt alle Mädchen unbedingt technische Berufe ergreifen sollen … mich interessiert es halt zufällig, weil ich den Onkel Joe … Hoffentlich reden mich nicht viele an …

Kübel mit Wasser werden gebracht, Anna Irene zieht ihr viel zu großes, weißes Maurergewand an und beginnt mit der Arbeit.
Die ersten Besucherinnen spazieren herum, und als sie von einem Raum in den anderen gehen, werfen sie Blicke auf Anna Irene, als wäre sie ein Fremdkörper. Nur wenige sprechen sie an, und dann gibt sie Verlegenheitsantworten. »Ja, ich soll hier zeigen, dass Mädchen das auch können.«
Von Stunde zu Stunde fühlt sie sich unwohler. Frau K. und Tante Dora sind nun auch da, aber sie haben zum Glück anderes zu tun, als sich bei Anna Irene aufzuhalten.
Die Mauer wächst, und bald kann sie sich dahinter für ein paar Momente verstecken und unbeobachtet sein. Wenn nur Athanasios da sein könnte … Aber als Bub darf er mir ja am Frauentag nicht helfen … Und muss ich das jetzt eigentlich dann jedes Jahr machen, wenn ich die Schule weiter besuche? Wieso können alle anderen ganz normal in die Schule gehen, aber ich muss mich hier so blöd herstellen?

Schließlich schleppen sich die Zeiger doch noch Richtung achtzehn Uhr, Anna Irene beginnt, die Mauer wieder abzubauen. Da kommt Tante Dora und meint, das brauche sie nicht, das machten eh die Arbeiter. »Und da musst du noch unterschreiben, dass du dein Künstlerhonorar den SPÖ-Frauen spendest.«

*

Flippern lenkt Anna Irene gut von dem Druck ab, den sie nicht aushält, und oft fährt sie gar nicht mehr bis zur Schule, sondern steigt auf halber Strecke des Einundsiebzigers aus und trifft Athanasios direkt im Café Eos. Oder auch nicht, sie kennt mittlerweile die Gäste, die gerne flippern. Und eigentlich ist es egal, mit wem sie spielt, solange sie sich auf die Kugel konzentrieren und alles andere damit verdrängen kann. Meistens kommt sie mit einem Zehner pro Vormittag aus, da sie fast immer Freispiele macht. Immer wieder kommt ihr ein Und das als Mädchen … in den Kopf, dann muss sie schmunzeln und stellt sich die dummen Gesichter von Frau K. und Tante Dora vor, wenn sie ihr zuschauen könnten. Aber hier fühlt sie sich vor ihnen sicher.

In der Schule rollt die Kugel als Folge immer weniger gut, und je mehr schlechte Noten sie unterschreiben lassen muss, desto öfter versucht Frau K., mittels Gewalt Anna Irenes Lernbereitschaft zu steigern.
Als es wieder einmal soweit ist, und Anna Irene sich gerade noch abfangen kann, bevor sie auf das Eck des Schuhkastls fallen würde, packt sie anschließend ein bisschen Wäsche in ihre Sporttasche, zieht sich Schuhe und Jacke an, ruft ins Wohnzimmer »Ich geh! Auf nimmerwiedersehen!« und schlägt die Wohnungstür von außen zu.
Frau K. ruft ihr durchs Stiegenhaus »Ich will wissen, wo du hingehst!« nach, doch Anna Irene lacht nur über die Frage, geht bei der Haustür hinaus und schlägt in schnellem Schritt den Weg zur U-Bahn ein. Bei einem von den Typen aus dem Eos kann ich bestimmt übernachten …
Je näher sie zur Stadtbahn kommt, desto flauer wird ihr Gefühl im Magen, aber umzukehren und wieder zu Frau K. zurückzugehen macht ihr noch mehr Angst als die Ungewissheit. Irgendwie geht es schon. Es sind nur noch drei Jahre, bis ich achtzehn bin, irgendwie komme ich schon durch.
In der Stadtbahn beginnt sie zu weinen und schaut durch das Fenster in die alles spiegelnde Finsternis. Die Fahrt bis zum Karlsplatz wirkt endlos lang. Als sie endlich da ist, am Künstlerhaus vorbei Richtung Schwarzenbergplatz geht und auf den Einundsiebziger wartet, werden ihre Knie immer weicher. Sicher sieht mir jeder an, dass ich abgehaut bin …
Schließlich erreicht sie das Café und geht gleich nach hinten.
Eine Menge Leute sind da, aber keiner, den sie kennt. Sie stellt sich zum Flipper, die Tasche darunter, wartet, bis sie mitspielen kann. Währenddessen fragt sie die Burschen, ob sie ihre Freunde gesehen haben, doch die kennen sie gar nicht. Wo soll ich denn dann hin? … Ich bleib jetzt einfach einmal da und warte, was passiert … Vielleicht kann ich mich vor dem Zusperren irgendwo verstecken und mich hier einsperren lassen?
Doch nach einer Weile beschließen die drei Burschen, mit denen sie gespielt hat, noch etwas anderes zu unternehmen, und Anna Irene fragt: »Darf ich mit euch mitkommen?«
Die drei haben nichts dagegen, nehmen sie in ihrem Golf mit zu einer abgelegenen Straße, um da ein wenig Rollschuh zu fahren. Da Anna Irene keine Rollschuhe mit hat, schaut sie ihnen zu und wird dabei wieder trauriger. Schließlich haben sie genug, beschließen nach Hause zu fahren, da fragt der Fahrer des Golfs: »Wo kann ich dich denn hinbringen?«
»Nirgends …«
»Du musst doch nach Hause …?«
»Ich will nicht mehr nach Hause. Hat vielleicht einer von euch einen Platz zum Schlafen für mich?«
»Nana, so machen wir das nicht. Du sagst mir jetzt, wo du wohnst, und wenn du willst, bringe ich dich noch rauf und beruhige deine Eltern.«
Hätte ich nur Eltern, die man so einfach beruhigen kann … »Meine Mutter kann man nicht ›beruhigen‹ …«
»So schlimm kann das gar nicht sein, sie hat dich sicher lieb, auch wenn sie mal schimpft.«
»Nein, hat sie nicht, und ich will nicht mehr nach Hause.«
Die drei geben keine Ruhe, bohren immer mehr, bis Anna Irene doch ihre Adresse sagt. Während der Fahrt reden sie noch weiter auf sie ein und sie wünscht sich, dass die Fahrt ewig dauern möge, sie nie ankommen.
»Das ist ja quer durch Wien, wie kommst du denn ins Café Eos?«
»Ich geh da immer schulstageln.«
»In welche Schule gehst du denn?«
»In die HTL-Hochbau.«
»Na, dann schau, dass du da was draus machst! Lern, statt ins Eos zu gehen, dann hat deine Mutter auch keinen Grund zum Schimpfen.«
»So einfach ist das nicht …«
Als sie schließlich doch ankommen und einer der drei mitgehen will, lehnt sie ab, doch er erwidert. »Bis zur Haustür komm ich mit und ich warte, bis du in der Wohnung bist.«
Frau K. fragt: »Spinnst du, so spät daherzukommen?! Was ich mir Sorgen gemacht habe! Geh dich waschen und verschwinde, ich will heute nichts mehr von dir sehen!«

Am nächsten Tag erzählt sie Athanasios von ihrem Abenteuer, und da sie recht müde ist, sagt sie: »Ich geh heute Nachmittag sicher nicht turnen. Und du?«
»Ich auch nicht. Schauen wir uns ›Gesichter des Todes‹ an.«
»Was ist das?«
»Eine Dokumentation über verschiedene Todesarten.«
»Da dürfen wir doch sicher noch nicht rein.«
»In dem Kino lassen sie uns rein.«
»Na gut, dann schauen wir uns den an.«
Nur ein handgeschriebenes Plakat weist auf den Film hin. Am richtigen Programm steht ein Sex-Film, den es non-stop spielen sollte. Anna Irene ist komisch zumute, als sie in das Kino gehen.
Schließlich sitzen sie in der zweiten Reihe und sehen zu, wie Menschen sterben. Wie sie einen zum Tode bestraften Mann am elektrischen Stuhl festschnallen und ihm die Augen zukleben, und Anna Irene fragt sich, warum sie sie zukleben. Schließlich wird der Strom eingeschaltet und sie sieht, wie die Augen gegen das Klebeband drücken und herausspringen wollen. Blut rinnt aus den Augen, Anna Irene kann nicht wegschauen. Ein paar Szenen später ein Affe, der irgendwo als Delikatesse für Reiche in der Mitte eines speziellen Holztisches so weit versenkt wird, dass gerade noch sein Kopf herausschaut. Zwei Holzbretter mit je einem halben Loch werden um seinen Hals zusammengeschoben und fixiert, sodass er sich nicht mehr bewegen kann. Den feinen Leuten rinnt sichtbar das Wasser im Mund zusammen, während der Kellner dem lebenden Affen die Schädeldecke abnimmt. Danach essen sie schmatzend sein Hirn, sezieren es Bissen für Bissen direkt aus dem Kopf heraus.
Anna Irene hat Mitleid mit den sterbenden Menschen und dem Affen und sie denkt nach über so viel grausame Unmenschlichkeit.
Es drängt sie noch zu weiteren zwei Vorstellungen in das Kino, als könne sie nicht genug davon bekommen, und Athanasios kommt jedes Mal mit. Anna Irene fühlt sich immer viel leichter, wenn sie aus dem Kino kommt, als ließe sie einen Teil ihres eigenen Schmerzes auf der Leinwand zurück.

Als Anna Irene nach Hause kommt, findet Frau K. endlich Zeit, ihr die Rechnung für den Vorabend zu präsentieren. Erst steigert sie sich mittels Fragen wie »Was hast du dir dabei gedacht?« in ihren Zorn, dann geht sie wieder einmal so richtig auf Anna Irene los. Eigentlich müsste ich schon gegen sie ankommen, aber ich kann ihr doch nichts tun, sie ist doch meine Mutter! Anna Irene kann sich nur verteidigen und schafft es oft gerade noch, den plötzlichen Stößen so entgegenzuwirken, daß sie nicht blöd fällt. Sie bringt mich noch irgendwann um!
Zum Glück möchte Frau K. das Essen bis zu den Nachrichten um sieben fertig haben und beendet das Theater plangemäß rechtzeitig. Sie stellt die Teller auf den Tisch, als das Österreich-Bild beginnt.
Während Frau K. gebannt die Meldung über die Räumung des Siemens-Werkes wegen einer Bombendrohung verfolgt, kaut Anna Irene an ihrem endgültigen Entschluss herum, nur noch dieses Schuljahr fertigzumachen, obwohl ihr schon seit geraumer Zeit bewusst ist, dass ihr eigentlich keine andere Wahl bleibt. Entweder würde sie es körperlich nicht überleben, oder seelisch sterben; um zu überleben, muss sie ihren Traum begraben. Das kann ich aber noch nicht der Mutti sagen …

*

In den nächsten Wochen sucht Anna Irene nach einer günstigen Gelegenheit, um Frau K. ihr Vorhaben entschlossen vorzubringen, doch sie findet keine. Vielleicht ist es auch besser, wenn sie es erst zum Schulschluss erfährt …
Für die Ferien braucht Anna Irene einen Praktikumsplatz, meint Frau K., denn es müssen während der fünf Jahre zwei Praktika gemacht werden. Jetzt sollte ich es ihr aber sagen … Zwei Tage später hat sie einen über Parteikontakte organisierten Praktikumsplatz im Baubüro einer Pensionistenheim-Baustelle. Einfach so, ohne Vorstellen. Immerhin kann ich da mein erstes Geld verdienen …

Während die Selbstmordepidemie der letzten beiden Jahre mit einem Elfjährigen, der sich mit seinem Schuhband erhängt, einen weiteren traurigen Höhepunkt erreicht, und wenige Tage später durch Marschall Titos Tod plötzlich Angst vor einem Krieg ausbricht, beginnt Frau K., Anna Irenes Zeugnis vorauszuahnen, und macht sich Sorgen: »Wie ich dann dastehe, nur weil du zu blöd bist, etwas für die Schule zu tun!«

*

Anna Irene sitzt beim Frühstück. Hhh! Ich hab heute Test in Baukonstruktionslehre, und das in der ersten Stunde! Auf den Test hab ich ganz vergessen … Und wenn der nicht positiv ausfällt, hab ich ein »Nicht genügend« im Zeugnis … Scheiße …
Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen, vermeidet jeden Blickkontakt mit Frau K.
Auf dem Weg zur Stadtbahn fahren ihre Gedanken Karussell, immer schneller versuchen sie, aus dem Kreis zu entfliehen, doch sie drehen sich nur um den einen Punkt.
Ich müsste plötzlich ur krank werden, vierzig Fieber, mindestens … aber ich werde ja nicht krank … einen Unfall müsste ich haben … in ein Auto laufen. Wenn ich im Krankenhaus lieg, kann ich keinen Test schreiben. Das trau ich mich aber nicht … Warum bin ich bloß so feig, verdammt, das wäre doch so einfach …
Als sie in der Station die vielen Menschen sieht, will sie am liebsten laut »Helft mir!« schreien. Sie würden mich ja doch nur dumm anschauen …
In der Stadtbahn setzt sie sich auf einen Einzelplatz, schaut aus dem Fenster, wo es zwischen den Haltestellen nichts anderes zu sehen gibt, als eine Mauer, an der eine schmale Kabeltasse entlangläuft, und das Spiegelbild der Frau gegenüber, die vertieft ist in ihr Buch. Neun Stationen muss sie fahren, und mit jeder, die sie hinter sich bringt, wird ihre Angst größer. Tränen laufen ihr das Gesicht hinunter, aber niemand fragt, warum. Ich hab überhaupt niemanden mehr, der mir hilft, seit Onkel Joe weg ist. … Ich kann den Test nicht schreiben, sie bringt mich um … Ich will in einem Loch versinken und erst morgen wieder auftauchen. Kann ich nicht einfach vom Weinen Fieber kriegen? … Schon Kettenbrückengasse, gleich kommt der Karlsplatz und ich weiß noch immer nichts … Ich will das nicht, ich hab so Angst … Wieso hilft mir denn niemand? Mir ist so kalt …
Sie zittert innerlich, als sie zum Ausstieg geht.
Am vorderen Ende des Bahnsteigs fährt gerade die U4 ein, die etappenweise die Stadtbahn ablösen und schon bald bis Meidling fahren soll. Die kommt aber mit einem ganz schönen Tempo in die Station … das geht sicher schnell … und schmerzlos … Sie geht langsam den Bahnsteig vor, wartet, bis die U-Bahn wieder abfährt, schaut auf die Gleise. … und dann bin ich alle Sorgen los, brauche keine Angst mehr haben, keine Tests mehr schreiben, die Mutti könnte mir nicht mehr weh tun … und dann würde es ihr leid tun, dass sie mich immer so behandelt hat … Aber dann würde es auch nicht besser, weil ich ja dann nicht mehr da bin … Außerdem hat die Nina gesagt, ich werde es schaffen – ich werde es schaffen … aber wenn ich nicht mehr da bin, geht das ja nicht, und ich will, dass sie Recht hat. – Aber was mach ich dann mit dem Test heute? Die nächste U-Bahn fährt ein und der Bahnsteig füllt sich mit Menschen, die aus den Türen strömen. Anna Irene sieht ihnen zu. Eine Bombendrohung wie bei Siemens, dann müssten sie die Schule evakuieren und wir hätten keinen Test … ich müsste mich nicht fürchten. Das wäre schön … Aber sie legen die Bomben überall anders hin, nur nicht da, wo sie mir helfen würden … Während sie mit der Rolltreppe hinauffährt, spinnt sich der Gedanke wie von selbst weiter. Eigentlich muss ja gar keine Bombe in der Schule sein, um ein paar Stunden ausfallen zu lassen. Bei Siemens war ja auch keine … Bevor sie mich umbringt … Und die anderen wären ja vielleicht auch ganz froh … Wenn ich anrufe und meine Stimme verstelle, das kann ich ja gut … Sie müssen dann die Schule räumen … suchen überall nach der Bombe. Da haben sie viel zu tun, in so einer großen Schule … überhaupt, wenn sie sie nicht finden. Sie muss kurz lachen. Und wenn wir wieder in die Schule können, ist Baukonstruktionslehre vorbei … dann kann ich noch lernen, bis zum nächsten Mal, und die Mutti bringt mich nicht um … da ist ja eine Telefonzelle. Soll ich da jetzt wirklich …? Sie erblickt zwei Türen mit der Aufschrift »WC«. Man hört sicher, dass ich weine; ich muss mir zuerst die Augen waschen und den Mund ausspülen, dann kann ich leichter aufhören; so verheult will ich ja auch gar nicht in die Schule kommen …
Nachdem sie das Weinen und einen Teil ihrer Angst weggewaschen hat, geht Anna Irene in die Telefonzelle, ihr Herz pocht, als setzte es zum Hochsprung über das Schlüsselbein an. Ich muss mich beruhigen. Sie nimmt den Hörer bereits in die Hand und legt ihn ans Ohr, um nicht aufzufallen, wenn sie in der Telefonzelle herumsteht, ohne zu telefonieren. Nachdem sie sich den Satz ein paar Mal vorgesagt hat, wirft sie einen Schilling in den Schlitz, wählt die Nummer der Schule, hält ihren Pullover über die Sprechmuschel, und als sich eine männliche Stimme meldet, sagt sie mit verstellter Stimme und schön nach der Schrift gesprochen: »In der Schule liegt eine Bombe.« Dann hängt sie den Hörer ein und ist plötzlich außer Atem, als wäre sie kilometerweit gerannt. Ihre Knie sind so weich, dass sie Acht geben muss, nicht einzuknicken, während sie die Telefonzelle verlässt. Endlos scheint der Weg vom Karlsplatz zum Schwarzenbergplatz. In der Straßenbahn sind alle Plätze besetzt. Sie stellt sich ganz nach hinten, eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen klammert sie sich fest an eine Stange, um ein Zittern zu vermeiden. Ich darf mir nichts anmerken lassen, sonst kombinieren die Leute das womöglich, wenn sie in den Nachrichten die Meldung von der Bombendrohung hören … So schlecht wäre das aber eigentlich auch nicht – wenn sie mich einsperren, bin ich auch von ihr weg, und dann wollen sie wissen, warum und wieso … Aber warum sollten sie mich denn einsperren, es ist ja gar keine Bombe da, niemandem passiert etwas, außer, dass der Test verschoben werden muss.
Wenige Minuten später kommt sie bei der Schule an, ein Lehrer steht im Eingangstor und lässt keinen mehr hinein. Hinter ihm kommen die Schüler wieder heraus, die schon im Schulhaus waren. Die Polizei trifft ein, geht ins Gebäude. Anna Irene sieht Athanasios vor den blühenden Fliederbüschen stehen, der meint: »Cool. Sowas könnten die öfter machen!« Die beiden gehen in ein Café und Anna Irene überlegt, ob sie ihm sagen soll, dass sie es war. Aber sie entschließt sich doch, es für sich zu behalten. Ich muss das selbst vergessen, dann kann ich mich auch nicht verraten … Ich weiß eigentlich überhaupt von gar nichts …
Athanasios bestellt sich einen »strammen Max«. Anna Irene hat keine Ahnung, was das ist. »Wie Ham and Eggs, aber mit Schinken«, erklärt er, dann rätseln beide, warum das wohl »strammer Max« heißt und lachen über ein paar dumme Ideen, die ihnen dazu einfallen. Als sie nach zwei Stunden wieder zur Schule zurückgehen, wo bereits alle wieder in den Klassen sitzen und lernen, fühlt sich Anna Irene schon viel leichter. Zum Glück sind wir in der selben Klasse, so komm ich nicht alleine zu spät …
»Wieso kommt ihr erst jetzt?«, fragt der Lehrer. »Ihr solltet doch bei eurer Klasse bleiben.«
Die beiden sehen sich kurz an und antworten fast im Chor: »Das haben wir nicht gewusst, wir waren im Kaffeehaus.« Und Anna Irene setzt nach: »Wenn die Schule in die Luft fliegt, will ich doch nicht direkt daneben stehen.«
»Wie es aussieht, war es auch nur ein Schülerstreich«, entgegnet der Lehrer, dann fährt er mit dem Unterricht fort.
Bis zum Abend hat sie es selbst schon beinahe vergessen. Nur, als Frau K. wie üblich »Was war denn los in der Schule?« fragt, wird sie noch einmal daran erinnert und erzählt, dass es eine Bombendrohung gegeben hat, aber eh nichts war. Frau K. regt sich kurz über die Zustände auf, danach ist von dem Ereignis nichts mehr zu bemerken, nicht einmal im Fernsehen taucht es auf. Ein Schülerstreich ist ein Schülerstreich ist ein Schülerstreich.

*

Anna Irene fasst nun jeden Tag aufs Neue den Entschluss, es Frau K. endlich zu sagen, und genau so oft verschiebt sie es doch wieder auf den nächsten Tag. Sie würde einmal ordentlich schimpfen, aber dann würde sie vielleicht damit aufhören. Entweder, sie will den vorhandenen Zorn nicht verschlimmern, oder sie will die Ruhe nicht zerstören, wenn Frau K. besser aufgelegt ist.
Schließlich schafft sie es doch nicht, alle Fächer positiv abzuschließen, und wird, samt Athanasios und einigen anderen aus der Klasse, gefragt, ob sie das Jahr wiederholen oder aus der Schule austreten möchte. Sie sagt »Ich gehe lieber arbeiten«, und zugleich schießen ihr die Tränen in die Augen. Ich weiß gar nicht, warum ich jetzt weinen muss …

Ein letztes Mal geht sie mit Athanasios in den Prater, um auf der Achterbahn Sorgen und Ängste zu vergessen.
Zwei Tage vor dem Zeugnis schafft sie es doch, fluchtbereit auf der anderen Seite des Esstischs stehend, Frau K. aufzuklären. Nach der dritten Runde um den Tisch befiehlt Frau K. Anna Irene, stehenzubleiben; sie folgt; Frau K. kommt näher, Anna Irene geht langsam rückwärts, sagt »Bitte tu mir nichts«, und im selben Moment greift Frau K. nach ihren Haaren, zieht sie daran bis in ihr Zimmer, während sie über die Schande schimpft, die das für sie und auch noch für Dora bedeute, und stößt sie dann so auf ihr Bett, dass sie mit dem Rücken und dem Kopf gegen die Wand fliegt.
Als Anna Irene am nächsten Morgen unter Schmerzen ihre Haare frisiert, fragt Frau K. in einem Ton, als wäre eine Antwort völlig undenkbar: »Und was willst du jetzt machen?«
»Eine Lehrstelle werd ich mir suchen. Und jetzt hab ich ja erst einmal das Praktikum.«
»Und was willst du werden?«
»Vielleicht Goldschmied.«
»Ich werde da einmal mit der Dora reden, die hat bestimmt irgendwelche Kontakte.«

 

Hallo Häferl,

dieser Teil ist dir recht lang geraten. Es passiert schließlich auch viel.

Zu sagen, mir hätte die Geschichte »gefallen«, erscheint mir falsch formuliert. Sie hat vielmehr gewirkt, genau wie die anderen Anna-Irene-Episoden. Und wie immer bedaure ich, dass man den Text kaum freiweg, d.h. der angenommenen Intention ungeachtet interpretieren darf, will man die Gefühle der Autorin nicht verletzen. Das ist vielleicht ein allgemeines Problem tragischer Biografien, die mit salziger Tinte geschrieben sind.

Ich habe so ein bisschen einen Nina-Hagen-Bezug zum Ende hin vermisst, so als Lichtblick. Das ist bestimmt solch ein Kritikpunkt, dessen Umsetzung wahrscheinlich nicht zur Geschichte passt. Sie wehrt sich doch vehement dagegen, den Leser zu unterhalten. Der Leser muss sie ausstehen, genau wie Anna-Irene ihre Kindheit ausstehen musste, statt sie leben zu dürfen. Während man die Lektüre leicht abbrechen könnte, ist dies beim realen Leben unmöglich. Ähnlich geht es mir mit dieser Geschichte: Ich schleife widerwillig meine Aufmerksamkeit durch den Text, ständig auf der Suche nach einer Geste von Frau K., die halbwegs dem Lehrbuchkonzept einer Mutter entsprechen würde. Wie zu erwarten war, hat sich diese Hoffnung abermals nicht erfüllt.

Wer sich solche Geschichten freiwillig antut, ist entweder Masochist oder er tut es aus Mitleid. Und wer noch die Wahl hat, will im Leben vielleicht gar nicht mehr Mutter/Vater werden, nachdem man sie gelesen hat. Frau K. ist allgegenwärtig in unserer Kultur, auch heute noch in abgewandelter Gestalt.

Ich fühle mich nun leer.
Und wenn du nicht so recht weißt, ob die Kritik nun positiv oder negativ ist: Sie ist weder noch. Es ist keine Kritik, alles nur meine Gedanken zu dieser Geschichte.

-- floritiv.

P.S.: »abgehaut«, 2. Vergangenheit von abhauen, ist Österreichisch? Hört sich für das deutsche Ohr sehr seltsam an. Schau mal, ob »abgehauen« dem österreichischen Flair keinen Abbruch tut.

 

Hallo floritiv!

Danke fürs Lesen und Antworten! :)

dieser Teil ist dir recht lang geraten. Es passiert schließlich auch viel.
Ja, deshalb hab ich auch zwei Jahre dafür gebraucht. Aber das gehört irgendwie alles zusammen, besonders die beiden Enden, also die Scheidung und der Schluß der Geschichte, brauchen die Vorgeschichte.

Zu sagen, mir hätte die Geschichte »gefallen«, erscheint mir falsch formuliert. Sie hat vielmehr gewirkt,
Wenn sie wirkt, bin ich schon zufrieden.

Und wie immer bedaure ich, dass man den Text kaum freiweg, d.h. der angenommenen Intention ungeachtet interpretieren darf, will man die Gefühle der Autorin nicht verletzen.
So weiß ich dann natürlich auch nicht, was wie wirkt und wo ich vielleicht noch was machen sollte. ;)

Das ist vielleicht ein allgemeines Problem tragischer Biografien
Nein, das ist nur das Problem mancher Kritiker. ;)
Und dadurch natürlich auch das des Autors, wenn er nicht erfährt, ob alles so ankommt, wie er gern wollte, sich also darauf verlassen muß, daß es schon so sein wird …

Ich habe so ein bisschen einen Nina-Hagen-Bezug zum Ende hin vermisst, so als Lichtblick.
Hast Du den Satz bei der U-Bahn, »Außerdem hat die Nina gesagt, ich werde es schaffen – wenn ich nicht mehr da bin, geht das ja nicht, und ich will, dass sie Recht hat«, überlesen oder ist er Dir zu wenig? – Ich hab noch eine Wiederholung (»ich werde es schaffen«) eingebaut, damit er mehr heraussticht.

Sie wehrt sich doch vehement dagegen, den Leser zu unterhalten.
Reine Unterhaltungslektüre ist es natürlich nicht, aber ich hab mich schon bemüht, sie gut und vor allem als eigenständige Geschichte lesbar zu machen, und ich glaube, das ist mir bei dieser auch so gut wie bei keiner anderen bisher gelungen.

Ich schleife widerwillig meine Aufmerksamkeit durch den Text, ständig auf der Suche nach einer Geste von Frau K., die halbwegs dem Lehrbuchkonzept einer Mutter entsprechen würde. Wie zu erwarten war, hat sich diese Hoffnung abermals nicht erfüllt.
Kann es sein, daß Du beim Lesen einen falschen Schwerpunkt legst? Die Serie heißt nicht »Frau K.« … ;)
Siehst Du, genau deshalb finde ich es schade, daß Du nicht auf Details eingehst – ich weiß gar nicht, was Du in der Geschichte liest, kann so nichts korrigieren etc.

Wer sich solche Geschichten freiwillig antut, ist entweder Masochist oder er tut es aus Mitleid. Und wer noch die Wahl hat, will im Leben vielleicht gar nicht mehr Mutter/Vater werden, nachdem man sie gelesen hat. Frau K. ist allgegenwärtig in unserer Kultur, auch heute noch in abgewandelter Gestalt.
Ich hoffe, es lesen sie manche auch noch aus anderen Gründen, denn es sind noch viele andere Dinge als bloß Frau K. in der Geschichte zu finden. Zum Beispiel zeigt sie, wie wichtig Außenstehende sind, die so einem Kind Mut zusprechen, wie Nina Hagen es getan hat. Der Satz »Ich weiß, dass du es schaffen wirst« ist sowas wie ein Haltegriff, der immer da ist, wenn er gebraucht wird.
Aber das sollte nur ein Beispiel sein, es gibt schon noch mehr zu finden.
Und keineswegs sollten meine Geschichten jemanden davon abhalten, Kinder zu kriegen – sie aber vorher zu lesen, kann nicht schaden, um eigene Fehler, auch im Kleinen, leichter erkennen und vermeiden zu können.

Ich fühle mich nun leer.
Das tut mir leid, aber ich glaube, Du warst wirklich zu sehr auf Frau K. fixiert. ;)

»abgehaut«, 2. Vergangenheit von abhauen, ist Österreichisch? Hört sich für das deutsche Ohr sehr seltsam an. Schau mal, ob »abgehauen« dem österreichischen Flair keinen Abbruch tut.
Grundsätzlich kann ich zwar beides schreiben, aber »abgehauen« hört sich in dem Zusammenhang für mich furchtbar an. Wir haben da auch noch die Redewendung »sich über etwas abhauen« (laut über etwas lachen), da würde ich »abgehauen« verwenden.

Danke nochmal, und ich würd mich wirklich über Ausführlicheres freuen! :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Häferl,

ich fürchte, den Vorwurf ;) der Frau-K.-Fixierung kann ich so nicht gelten lassen. Dies ist eine Anna-Irene-Folge und enthält folglich eine Figur, die unter dem Namen "Frau K." den Inbegriff der Schwarzen Pädagogik darstellt. Da ich ein treuer Leser dieser Reihe bin, der soweit alle Anna-Irene-Folgen kennt, kann ich die Geschichte nicht mehr für sich betrachten, und natürlich laufe ich Gefahr, der Figur, die in den vorigen Folgen den Großteil meiner Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, entsprechend stark zu fokussieren.

Auch wenn sich das jetzt vielleicht sehr gemein anhört -- so meine ich das nicht -- aber unter konzeptionellen Gesichtspunkten hat die Reihe einiges von einer Daily Soup. So fragte ich mich vor dem Lesen "Was passiert in dieser Folge zwischen dem Kind Anna-Irene und der tyrannischen Frau K.", statt einfach "Was erlebe ich in dieser Geschichte". Zudem sehe ich im Schluss einen impliziten Verweis auf eine mögliche Fortsetzung, was mir den Vergleich bestätigt.

Ich hoffe, es lesen sie manche auch noch aus anderen Gründen, denn es sind noch viele andere Dinge als bloß Frau K. in der Geschichte zu finden.
Dies hoffe ich auch. Jede Geschichte hat unvoreingenommene Leser verdient. Es tut mir leid, das ich keiner bin, und dass ich meinen Kommentar als Erster gepostet habe. War bestimmt nicht so gut.

Und keineswegs sollten meine Geschichten jemanden davon abhalten, Kinder zu kriegen – sie aber vorher zu lesen, kann nicht schaden, um eigene Fehler, auch im Kleinen, leichter erkennen und vermeiden zu können.
Naja, meinte das auch eher bezüglich des schlechten Gewissens, das man bekommt, falls man es verpassen sollte so zu reagieren, wie man es sich auf solche Geschichten hin einmal versprochen hat. Das Vermeiden ist (hier) die vernunftgeleitete Entscheidung, etwas nicht zu tun. Doch die Vernunft ist nur eine Nussschale im aufgefühlten seelischen Ozean ...
Es läuft eben darauf hinaus, sich mit dem Unterbewusstsein konfrontieren zu müssen, und sich um sein seelisches Wohlbefinden zu kümmern. Nur so kann man das Seewetter langfristig beeinflussen.

Hast Du den Satz bei der U-Bahn, »Außerdem hat die Nina gesagt, ich werde es schaffen – wenn ich nicht mehr da bin, geht das ja nicht, und ich will, dass sie Recht hat«, überlesen oder ist er Dir zu wenig?
Den Bezug habe ich nicht überlesen, noch ist er mir zu wenig. Er ist mir zu früh. Ich fände es besser, wenn die Geschichte mit Nina Hagen abgeschlossen würde.


-- floritiv.

 

Hallo floritiv!

Danke fürs nochmalige Melden! :)

ich fürchte, den Vorwurf ;) der Frau-K.-Fixierung kann ich so nicht gelten lassen. Dies ist eine Anna-Irene-Folge und enthält folglich eine Figur, die unter dem Namen "Frau K." den Inbegriff der Schwarzen Pädagogik darstellt. Da ich ein treuer Leser dieser Reihe bin, der soweit alle Anna-Irene-Folgen kennt, kann ich die Geschichte nicht mehr für sich betrachten, und natürlich laufe ich Gefahr, der Figur, die in den vorigen Folgen den Großteil meiner Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, entsprechend stark zu fokussieren.
Es wird auch Folgen ganz ohne Frau K. geben – dann wirst Du Dir ganz verloren vorkommen … ;)
Klar ist Frau K. in den Folgen, in denen Anna Irene ein Kind ist, fast immer mit dabei (das »Oktoberfest« ist fast ohne sie), aber das liegt mehr am Alter von Anna Irene, weniger am Schwerpunkt der Geschichten.

Gerade in dieser Folge ist wesentlich mehr, was auf Anna Irene einwirkt, als bloß Frau K. Da gibt es zwei sehr positiv wirkende Menschen – Uschi und Nina Hagen –, dann gibt es Menschen, die positiv und negativ zugleich wirken, und solche, die sich durch Oberflächlichkeit falsch verhalten, blind ihre Ziele verfolgen oder einfach gekonnt wegschauen.
Das ist wie eine Spendenbüchse: Jeder schmeißt etwas hinein und am Schluß ist sie voll. Wenn Du nur Frau K. verfolgst, verfolgst Du eine der Hände, die etwas in die Büchse schmeißen, und siehst die anderen vielleicht gar nicht.

Zudem sehe ich im Schluss einen impliziten Verweis auf eine mögliche Fortsetzung, was mir den Vergleich bestätigt.
Es ist aber auch ein Schluß: Anna Irene zieht Konsequenzen, beendet die Schule, um den Druck loszuwerden. Die Ohrfeige am Schluß, daß wieder Tante Dora herangezogen wird, kann genausogut als halboffenes Ende dastehen, wie als Hinweis auf die Fortsetzung. ;)

Dies hoffe ich auch. Jede Geschichte hat unvoreingenommene Leser verdient. Es tut mir leid, das ich keiner bin, und dass ich meinen Kommentar als Erster gepostet habe. War bestimmt nicht so gut.
Nein, leid braucht es Dir nicht tun, ich freu mich doch, daß Du sie so schnell gelesen hast! Inzwischen würde ich schon an der Kommentarlosigkeit verzweifeln, wenn Deiner nicht wäre. :)
Ich würd mir nur wünschen, daß Du es schaffst, sie anders zu lesen, und dafür ist es ja nur gut, wenn wir mal drüber reden.

Naja, meinte das auch eher bezüglich des schlechten Gewissens, das man bekommt, falls man es verpassen sollte so zu reagieren, wie man es sich auf solche Geschichten hin einmal versprochen hat. Das Vermeiden ist (hier) die vernunftgeleitete Entscheidung, etwas nicht zu tun. Doch die Vernunft ist nur eine Nussschale im aufgefühlten seelischen Ozean ...
Es läuft eben darauf hinaus, sich mit dem Unterbewusstsein konfrontieren zu müssen, und sich um sein seelisches Wohlbefinden zu kümmern. Nur so kann man das Seewetter langfristig beeinflussen.
Was gibt es Besseres, als zukünftige Eltern, die sich schon Gedanken machen, bevor es soweit ist? :) Sollen nur die Leute Kinder kriegen, die sich keine Gedanken machen?
Natürlich kann und wird es immer passieren, daß Eltern Fehler machen. Perfekte Eltern gibt es nirgends. Wenn aber der Wille da ist, es besser zu machen, kann man sich erstens entschuldigen und zweitens aus seinen Fehlern lernen. Das ist etwas anderes, als wenn man seinem Kind vermittelt, daß man im Recht ist.

Den Bezug habe ich nicht überlesen, noch ist er mir zu wenig. Er ist mir zu früh. Ich fände es besser, wenn die Geschichte mit Nina Hagen abgeschlossen würde.
Ja, das wäre sicher schön, läßt sich aber schwer machen, da ich kein so ausgelutschtes Ende mit »und sie geht nach Hause und legt die Nina-Hagen-Kassette auf« schreiben will. Andererseits soll sie hier viel mehr als Mensch auftreten und weniger als Star, der unbedingt noch in die allerletzte Szene muß. – Dann würde ich Dir mit der Soap Recht geben. ;)

Danke nochmal,
liebe Grüße,
Susi :)

 

Liebe Susi,

ich habe schon sehr lange keine deiner Anna Irene Geschichten mehr gelesen, deswegen bin ich nun um so gespannter gewesen.

Zunächst, bevor ich dir meinen Gesamteindruck und meine Kritik schreibe, möchte ich die nachfolgenden Dinge anmerken.
Da ich nicht so genau weiß, ob ichs alles auf einmal schaffe, werde ich vielleicht meine Kritik bzw. meine Anmerkungen in mehreren Kästen unterbringen, je nachdem wie ich Zeit habe. Mal sehen. Ich fange einfach mal an:

Oder besser: sich selbst näher, echter, freier.
Hier verlässt du die Erzählebene der Anna und schlüpfst in die Rolle des allwissenden Erzählers. Das würde ich nicht machen, weil dieser Wechsel nur ablenkt und wirkt, als wolltest du etwas manipulieren. Haste aber gar nicht nötig, weil du schlicht beschreiben könntest, wie sich Anna mit dem Hemd fühlt. Sie fühlt sich nicht sich selbst näher, echter, freier. Du weißt selbst, dass manchmal noch nicht mal wie Erwachsene so reflektiert über unsere Emotionen nachfühlen können. Beschreibe, wie sie sich fühlt. Z.B. könnte sie sich mutig fühlen, weil sie etwas Verwegenes tut, etwas Verbotenes tut, weil sie sowas zu Hause NIE dürfte, oder sie fühlt sich als hätte sie sich verkleidet und sei nun in eine andere Person geschlüpft, eine unverwundbare oder eine tapfere, mutige, verwegene und genau das hat ihr Spass gebracht.

der Ernst des Tages beginnt.
hier nimmst du meiner Meinung nach den Leser wieder an die Hand. Dass später für Anna der Ernst des Tages beginnt, das hast du entweder so gut nachfolgend beschrieben, dass es jeder VON SELBST erkennt oder eben nicht. Aber jetzt schon sagen, die Rose ist rot, ist zu manipulativ. Liebe Susi, wir Leser mögen nicht das Gefühl haben, manipuliert zu werden und du kannst es ja auch anders. Nimm keine Wertung vor. Schreibe einfach, dass für Anna dann ein ganz anderer Tagesabschnitt beginnt und warte ruhig ab, bis der dann beschrieben wird.


All die schönen Erlebnisse ohne Frau K.
;) du entwickelst dich zur Serientäterin. Was glaubst du wohl, hat der Leser bis hier begriffen?
:) Er hat begriffen, dass Anna eine schöne Zeit verlebt und zwar mit Joe und eben grad dadurch, dass sie mit ihm allein zusammen ist. Nun beleidige mich als Leserin nicht, indem du das nochmals klarstellst und es mir nochmals sagst. Also ich würde deswegen "ohne Frau K." einfach weglassen.

und wenn sie hier einmal einen Ausflug machen, will Frau K. plötzlich immer mitkommen,
Die obiges Aussage und diese Aussage hier würde ich nicht zusammen in einen Satz packen, sondern trennen. Weil beides sehr wichtig ist und nicht verwaschen werden sollte. Das tut es aber, wenns zusammen steht.


wodurch die Erlebnisse sehr langweilig werden, jeglicher Spontanität beraubt, ein ernstes Spazierengehen von A nach B, bei dem alles verboten ist, was sonst den meisten Spaß gemacht hat.
diesen Teil würde ich streichen. Er ist nicht aussagekräftig genug, sondern zieht nur gerafft all das zusammen, was der Leser sich entweder sowieso schon denkt oder nun von dir gezwungen wird, es zu denken. Gezwungene Leser sind unwillige Leser. Entweder du beschreibst es, was genau die neuen Spaziergänge und Unternehmungen so unerträglich macht oder du lässt es fallen. Ich bin mir sicher, der Leser weiß es eh aus deinem Vorangeschriebenem. Ich glaube sogar, dass hier Weniger, mehr Effekt bringt.

Auf diese Tasche …? Als ich versehentlich mit dem Schlüssel angekommen bin, hat sie mich niedergebrüllt und durchs Vorzimmer gestoßen, weil ich sie hätte zerkratzen können …
Also ich hab jetzt nicht im voraus gelesen, ob du nun laufend diese Gedankengänge der Anna einschiebst. Aber bislang waren in dem Bisherigen auch schon Gedankengänge der Anna dabei, denk z.B. an die Hemdentragerei und da hast du es auch nicht so unvermittelt in ihrer Gedankensprache ausgedrückt. Warum nun?
Entweder oder! Also entweder du streust wirklich wichtige Gedankengänge als persönliche Gedankenrede dazwischen oder aber du glättest es auf einen einheitlichen Stil. Das musst du entscheiden. Die Tatsache, dass Mutter hier verlogen reagiert ist bestimmt wichtig, aber die Sache mit dem Hemden am Anfang wäre es dann aus meiner Sicht auch wert, in die wörtliche Gedankenrede zu setzen.
Auf jeden Fall erscheint mir das hier einfach viel viel zu unvermittelt. Ich habe erst gedacht, du hast dort Text verloren und noch niemand hat bemerkt, dass da was fehlt. Dann wurde mir klar, dass du es extra als Gedanken formuliert hattest.

Ah ich habe weitergelesen und da folgen noch reale Gedankenworte der Anna. Ja, dann würde ichs eigentlich weiter oben auch noch so ändern, dass es einheitlich wirkt.

Die möchte das zwar auch nicht,
nämlich am Fenster sitzen.
Ich glaube,hier wäre entweder so eine Gedankeneinschub nicht verkehrt und obendrein wirkt das "Die" so unpersönlich. Du beschreibst doch Anna Gedanken, jetzt auf einmal steht da ein Erzähler, der über sie redet. Das passt nicht recht.


hatte Frau K. allerdings schon vor zwei Jahren einen triftigen Grund
wieso schon vor 2 Jahren? Das versteh ich nicht und ausserdem frage ich mich, obs auch wirklich inhaltlich unerlässlich ist, dass es zwei Jahre waren. Ich würds weglassen.

Es gibt panierte Knacker mit Erdäpfeln und Fisolen,
nur für mich, falls ich mal in Österreich was essen möchte: was sind bittschön panierte Knacker? Knacker sind dicke Würstchen, die gekocht werden in Deutschland. Erdäpfel ist klar,das sind Pomme de terres, aber Fisolen, was sind Fisolen? *schmatz*

Die Zeiger der Uhr scheinen im Koma zu liegen
Die Formulierung gefällt mir!

Und der Satz ist auch wuchtig:

Der Friedhof ist so alt, da ist sogar der Tod schon tot.«

Entweder würde sie es körperlich nicht überleben, oder seelisch sterben; um zu überleben, muss sie ihren Traum begraben. Das kann ich aber noch nicht der Mutti sagen …
An dieser Stelle ist es nicht so gut nachzuvollziehen, was Anna denkt, denn sie könnte ja abhauen und trotzdem die Schule weiter machen. Da würde ich noch was einfügen, damit es deutlicher wird.


So ich habe die Geschichte zuende gelesen, Kritik folgt später, jetzt geh ich erstmal ins Bett.

Lieben Gruß
lakita

 

Liebe Elvira!

Das freut mich ja ganz besonders, daß Du wieder einmal bei einer meiner Anna Irene-Geschichten vorbeischaust, danke! :)

Da ich nicht so genau weiß, ob ichs alles auf einmal schaffe, werde ich vielleicht meine Kritik bzw. meine Anmerkungen in mehreren Kästen unterbringen, je nachdem wie ich Zeit habe. Mal sehen. Ich fange einfach mal an
Ja, sie ist leider recht lang geworden, sorry. ;-) Aber es ging nicht anders, weil das meiner Meinung nach alles zusammen gehört. – Umso schöner finde ich es, daß Du Dir die Zeit genommen hast, sie zu lesen, und sogar konstruktive Vorschläge gemacht hast, und ich bin sehr gespannt auf Deinen noch folgenden Kommentar! :)

Also gleich mal zu Deinen Vorschlägen:

lakita schrieb:
Beschreibe, wie sie sich fühlt. Z.B. könnte sie sich mutig fühlen, weil sie etwas Verwegenes tut, etwas Verbotenes tut, weil sie sowas zu Hause NIE dürfte, oder sie fühlt sich als hätte sie sich verkleidet und sei nun in eine andere Person geschlüpft, eine unverwundbare oder eine tapfere, mutige, verwegene und genau das hat ihr Spass gebracht.
Das mit dem Verkleiden hatte ich ursprünglich auch überlegt, es erschien mir jedoch falsch, weil sie ja nicht jemand anderer wurde, sondern mehr sie selbst, es war also mehr ein »entkleiden«, was aber blöd klingt und falsch verstanden werden könnte. Jetzt bin ich auf diese Lösung gekommen:
Als wäre das Hemd eine verkehrte Verkleidung, in der sie nicht mehr das darstellt, was sie sein soll, sondern so ist, wie sie sein möchte.

lakita schrieb:
Schreibe einfach, dass für Anna dann ein ganz anderer Tagesabschnitt beginnt und warte ruhig ab, bis der dann beschrieben wird.
Ich hab es gestrichen und nach »Schule verlassen« einen Punkt gemacht.
Du hast schon recht mit den wertenden Stellen, aber ich seh sie nicht immer und bin sehr froh, wenn die Kritiker sie mir nennen. :)

lakita schrieb:
Also ich würde deswegen "ohne Frau K." einfach weglassen.
Ist gestrichen.

lakita schrieb:
Die obiges Aussage und diese Aussage hier würde ich nicht zusammen in einen Satz packen, sondern trennen. Weil beides sehr wichtig ist und nicht verwaschen werden sollte. Das tut es aber, wenns zusammen steht.
Sätze durch Punkt getrennt.

lakita schrieb:
diesen Teil würde ich streichen. Er ist nicht aussagekräftig genug, sondern zieht nur gerafft all das zusammen, was der Leser sich entweder sowieso schon denkt oder nun von dir gezwungen wird, es zu denken. Gezwungene Leser sind unwillige Leser. Entweder du beschreibst es, was genau die neuen Spaziergänge und Unternehmungen so unerträglich macht oder du lässt es fallen. Ich bin mir sicher, der Leser weiß es eh aus deinem Vorangeschriebenem. Ich glaube sogar, dass hier Weniger, mehr Effekt bringt.
Hab ich gekürzt auf: »wodurch die Erlebnisse ein ernstes Spazierengehen von A nach B werden.«

lakita schrieb:
Also ich hab jetzt nicht im voraus gelesen, ob du nun laufend diese Gedankengänge der Anna einschiebst. Aber bislang waren in dem Bisherigen auch schon Gedankengänge der Anna dabei, denk z.B. an die Hemdentragerei und da hast du es auch nicht so unvermittelt in ihrer Gedankensprache ausgedrückt. Warum nun?
Entweder oder! Also entweder du streust wirklich wichtige Gedankengänge als persönliche Gedankenrede dazwischen oder aber du glättest es auf einen einheitlichen Stil. Das musst du entscheiden. Die Tatsache, dass Mutter hier verlogen reagiert ist bestimmt wichtig, aber die Sache mit dem Hemden am Anfang wäre es dann aus meiner Sicht auch wert, in die wörtliche Gedankenrede zu setzen.
Auf jeden Fall erscheint mir das hier einfach viel viel zu unvermittelt. Ich habe erst gedacht, du hast dort Text verloren und noch niemand hat bemerkt, dass da was fehlt. Dann wurde mir klar, dass du es extra als Gedanken formuliert hattest.
Ich hab das mit der Tasche jetzt rausgenommen, weil ich beim Lesen auch schon ein paarmal drüber gestolpert bin. An sich fand ich es zwar auch wichtig wegen der Widersprüchlichkeit von Frau K.s Handlungen, aber da der ganze Absatz das ohnehin aufzeigt, ist es letztlich doch nur eine Kleinigkeit. – Andererseits hat mir neulich ein Gespräch aufgezeigt, wie wichtig gerade diese Menge an Widersprüchlichkeiten war, weil mir dadurch viel leichter, als anderen in ähnlichen Situationen, klar werden konnte, daß da etwas faul ist. Also vielleicht überleg ich mir das noch und schreib den Satz wieder hinein, ich hab ihn noch. ;)

Zu den Gedanken grundsätzlich: Ich habe das bei allen Folgen bisher so gemacht (außer den allerersten, wo Anna Irene noch zu klein war) und mein Plan war, durch diese Gedanken auch zu zeigen, wann Anna Irene sich selbst näher ist und wann nicht, und ich verwende nur die, an die ich mich auch erinnern kann. Inzwischen bin ich draufgekommen, daß beides eins ist, also daß ich ohnehin nur an den Stellen Gedanken in der Erinnerung habe, wo sie auch hingehören. Dadurch ergibt sich vielleicht eine ungleichmäßige Verteilung bzw. sind sie nicht konsequent nach einem Schema angewendet, aber es hat seinen Sinn. ;-)

lakita schrieb:
nämlich am Fenster sitzen.
Ich glaube,hier wäre entweder so eine Gedankeneinschub nicht verkehrt und obendrein wirkt das "Die" so unpersönlich. Du beschreibst doch Anna Gedanken, jetzt auf einmal steht da ein Erzähler, der über sie redet. Das passt nicht recht.
[…]
wieso schon vor 2 Jahren? Das versteh ich nicht und ausserdem frage ich mich, obs auch wirklich inhaltlich unerlässlich ist, dass es zwei Jahre waren. Ich würds weglassen.
Das mit den zwei Jahren war wirklich überflüssig, weil ich sowieso dem Leser vorenthalten hab, daß Frau K. in zwei verschiedenen Pensionistenheimen gearbeitet hat. Zwei Jahre waren es seit dem Übersiedeln aus Linz, wobei sie die ersten beiden Jahre in einem der beiden Heime gewohnt haben, Frau K. also nur zweimal die Woche mit Anna Irene gefahren ist, während es nach dem Übersiedeln in die Wohnung fast jeden Tag war. Ist aber wie gesagt eine Nebensache, deshalb hab ich die Stelle auf …
Frau K. rechts, sie möchte nicht eingesperrt beim Fenster sitzen; Anna Irene will das zwar auch nicht will, mit »Ich steig aber früher aus als du« hat Frau K. allerdings schon seit sie gemeinsam fahren einen triftigen Grund und somit das letzte Wort.
… geändert.

lakita schrieb:
nur für mich, falls ich mal in Österreich was essen möchte: was sind bittschön panierte Knacker? Knacker sind dicke Würstchen, die gekocht werden in Deutschland. Erdäpfel ist klar,das sind Pomme de terres, aber Fisolen, was sind Fisolen? *schmatz*
Ja, da hab ich extra für LeserInnen wie Dich ein ganz österreichisches Gericht zusammengestellt … :D
Zur Panier sagt Ihr glaub ich Panade – also in Mehl, Eiern und Semmelbrösel wenden und herausbacken. Und zu den Kartoffeln gibt es grüne Bohnen. :)

lakita schrieb:
Die Zeiger der Uhr scheinen im Koma zu liegen
Die Formulierung gefällt mir!
lakita schrieb:
Und der Satz ist auch wuchtig:
Der Friedhof ist so alt, da ist sogar der Tod schon tot.«
Freut mich, daß Dir die beiden Stellen gefallen!

lakita schrieb:
An dieser Stelle ist es nicht so gut nachzuvollziehen, was Anna denkt, denn sie könnte ja abhauen und trotzdem die Schule weiter machen. Da würde ich noch was einfügen, damit es deutlicher wird.
Da muß ich noch überlegen, bzw. warte ich noch auf andere Kommentare. Wenn man abhaut, will man ja nicht gefunden werden, da kann man schlecht weiter zur Schule gehen, deshalb ist das für mich eigentlich ganz klar. Aber mal sehen, wenn es noch jemand erwähnt, werde ich da noch was machen, oder falls ich eine wirklich gute Idee habe. ;-)

jetzt geh ich erstmal ins Bett.
Ich hoffe, Du konntest gut schlafen, nachdem Du die Geschichte gelesen hast … ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Zerbrösel-Pistole!

Zum einen sehe ich keine Fokussierung auf mich als Leser. In meinen Augen funktioniert eine Geschichte, wenn sie eine Wirkung auf den Leser verfolgt,
[...]
Untern Strich erlebe ich die Schilderungen als recht distanziert, so als sollten die Fakten für sich sprechen,
Bei meinen ersten Anna Irene-Geschichten, als ich noch ziemlich neu war auf kg.de, hatten mir die Kritiker erklärt, das dürfe ich nicht, denn das klänge nach Mitleidheischen (die Kritiken sind leider nicht mehr da, weil ich die Geschichten zwischenzeitig löschen ließ und dann neu gepostet hab). Daher der nüchterne Stil in dieser Serie. Ich hab ja schon bei jeder Gefühlsbeschreibung ein schlechtes Gewissen, ob es auch nicht zu sehr nach Mitleidheischen klingt!

ich vermisse sehnlichst, die Steigerung über Konflikte - die es ja gibt - aber über Konflikte, die die Geschichte in eine erkennbare Richtung steuern - zu einem (wie auch immer gearteten) Höhepunkt hin.
Solange Du sie nicht fertigliest, kann ich so ein Urteil nicht annehmen.

So lese ich aber Wort um Wort die Geschichte von Anna, die von Frau K drangsaliert wird.
Ach ja, und da ist ja kein Hannes, und kein Onkel Joe, und die netten Frauen aus der Partei - aber wahrscheinlich hast Du ja nicht einmal so weit gelesen und behauptest trotzdem, es sei so.

Wichtig wäre es aber, den Leser zu der Frage zu treiben: "Was macht Anna Irene als nächstes?"
Wenn Du sie fertiggelesen hättest, könntest Du mir ja vielleicht Tips geben, wie ich das besser machen kann. Aber da Du noch nicht einmal weißt, wo sie hinführt, natürlich nicht.

Deine erste Szene ist zwar unmittelbar, aber sie packt mich nicht; sie ist mir zu still,
Die bekommt auch später noch Sinn, aber so weit zu lesen war es Dir ja zu beschwerlich ...

Ich / der Leser ‚muss‘ Frau K. als Schurkin einstufen, weil der Inhalt es unmissverständlich suggeriert.
Da ist weit mehr drin als Frau K. als böse Schurkin. Aber wenn man nicht fertigliest, kann man das natürlich nicht feststellen.

Grüße,
Susi

 

Hallo Susi,

ich möchte dir nicht verheimlichen, dass ich für mich entschloß, mich aufgrund deiner langen, fundierten Kommentare bei anderen Geschichten durch deine neue Geschichte zu arbeiten. Ich finde, dass hast du, unabhängig davon, was du nun hier präsentierst, verdient.

Ansonsten hätte ich sie sicher nach einem Drittel oder der Hälfte beendet, weil sie mir in der Länge zu eintönig wäre. Ich kann auch diesbezüglich deine sehr einseitige Antwort an Z-P nicht verstehen, da scheinst du mir doch etwas pikiert zu sein.
Er hat sich daran versucht und dir, soweit er gelesen hat, erklärt, an was er gescheitert ist. Das ist doch für dich auch eine wichtige Rückmeldung, denn:

Ich habe zum ersten Mal, seit ich hier auf kg.de bin, bewusst auf die Uhr gesehen, als ich eine - diese - Geschichte las. Als recht flotte Leserin brauchte ich 50 Minuten.

Ich bin der Meinung, dass man sich dann als Leser auch schon nach der Hälfte einer solchen Länge ein Urteil erlauben darf - wenn Z-P zB meint, es gäbe keine Steigerung, ist das eben ein Grund, irgendwann aufzuhören zu lesen.

Das sehe ich auch so: Du beschreibst einen wichtigen pubertären Lebensabschnitt von Anna, aber es sind für mich wie tagebuchartige Szenen, die in eine Geschichte umgeschrieben werden. Ich kann nicht verstehen, wieso das alles in eine KG gepackt werden muss. Du machst es dir meiner Meinung nach zu komplex, weil du zu sehr in der Handlung verwoben bist.

Als Leser könnte ich mir zB die Episode mit Hannes als einzelner Serienteil vorstellen (dann hätte dieser auch einen Spannungsbogen) oder der Rückzug von Onkel Joe - die Erfahrung mit den Klamotten oder das Abenteuer von Nina Hagen.

Du versuchst, viel zu viel in dieser Geschichte zu erzählen - da kapituliert man als Leser. Entweder, weil einem auf Dauer Frau K. auf den Keks geht, (irgendwann hat man dann auch genug von einem unsymphatischen Prot), die Geschichte von einem Situation zur nächsten plätschert (obwohl die Ereignisse doch teilweise gravierend sind nehmen sie mich nicht mit, weil es für mich zu linear beschrieben wird) und man dann über die ganzen vielen Zeilen natürlich auch Anna immer wieder mal in den Hintern treten will und deren Situationen gibt es viele; das fordert den Leser über Gebühr.

Dieser Serienteil ist für mich wie ein Kapitel aus einem Buch. Mein Verständnis einer Serie ist aber ein anderes: Mit bekannter Infrastruktur werden kleine Episoden erzählt.
Natürlich kannst du dies auch in deiner Manier nutzen und ich möchte damit nicht ausdrücken, dass ich es als falsch empfinde - aber es entspricht nicht meiner Erwartung als Leser eines Serienteiles und werde dadurch fast erschlagen.

Im Übrigen erfährt man erst sehr spät, dass Onkel Joe mit Frau K. verheiratet ist, ich dachte dauernd, er wird sie dann einmal heiraten, wenn sie wieder in Wien zusammenwohnen. Auch die Konstellation mit dem Vater und der Astrid wird anfangs nicht klar.

Von den Formulierungen und den Detailbeschreibungen bin ich teilweise sehr positiv angetan. Ich bin wohl genau in der gleichen Zeit mit den Hemden rumgerannt und habe die Hagen an einem Konzert erlebt - auch kenne ich einige Mechanismen (Klamotten erst außer Haus anziehen; Bammel, irgendwo nicht hindürfen zu können - nur wurde mir mein erster Freund nicht so direkt ins Haus serviert ;) ) und habe von daher noch vielleicht etwas mehr Interesse daran gehabt, weiterzulesen als jemand anderes, der mit dieser Zeit nicht mehr soviel anfangen kann.

Das Telefonat mit der Hagen ist zwar in der heutigen Security-Zeit etwas unglaubwürdig, aber vielleicht war das vor dreißig Jahren tatsächlich noch anders.

Aufgrund deiner österreichischen Ausdrücke würde ich fast eine Erklärungsliste unter die Geschichte anbringen - es gibt ein paar, die ich nur aus dem Kontext erahnen kann.

Die Anna Irene ist dein Ding und du hast dich dafür entschieden, es so aufzuziehen. Daran will ich auch nicht herumrütteln, aber ich will dir begreiflich machen, wieso es schwierig ist, diese Geschichte zu lesen und ich hoffe, du kannst das so annehmen, ohne dass du mir lange erklärst, wieso dass deiner Meinung nach so sein muss - das interessiert im Grunde keinen Leser, der will nämlich unterhalten / und oder zum Denken angeregt werden, egal, ob mit lustigen oder ernsten Geschichten: Aber die Verpackung dazu muss stimmen.

Liebe Grüße
bernadette

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo bernadette!

Danke fürs Lesen bis zum Schluß und Deine Gedanken dazu.

Ich kann auch diesbezüglich deine sehr einseitige Antwort an Z-P nicht verstehen, da scheinst du mir doch etwas pikiert zu sein.
Es geht darum, daß ich mir Konstruktives erhoffe, was aber wohl nur jemand beisteuern kann, der die Geschichte auch ganz liest und sieht, wo die Fäden hinführen.

Ich kann nicht verstehen, wieso das alles in eine KG gepackt werden muss. Du machst es dir meiner Meinung nach zu komplex, weil du zu sehr in der Handlung verwoben bist.
Weil das alles zu dem Schluß führt, der wäre doch sonst nicht zu verstehen. Es gehört einfach alles zusammen. Beispielsweise steht das mit dem Hemd doch nur da, weil es gegen Schluß (und damit meine ich nicht das Konzert, sondern was danach damit geschieht, und dessen Bedeutung wird wohl nur klar, wenn man die Bedeutung des Hemdes für Anna Irene kennt) noch einmal wichtig ist.

Als Leser könnte ich mir zB die Episode mit Hannes als einzelner Serienteil vorstellen (dann hätte dieser auch einen Spannungsbogen) oder der Rückzug von Onkel Joe - die Erfahrung mit den Klamotten oder das Abenteuer von Nina Hagen.
Nein, eben nicht. Wenn nicht das alles zusammengekommen wäre, gäbe es den Schluß nicht. Auch die »Episode« mit Hannes: Wären die Umstände nicht so gewesen, wie sie waren, wäre doch da gar nichts gewesen. Interessieren würde mich auch, was genau Du in der »Episode« mit Hannes liest.

Du versuchst, viel zu viel in dieser Geschichte zu erzählen - da kapituliert man als Leser.
Wie gesagt, das muß alles drinstehen. Wo ich etwas machen kann, ist das Wie, aber dafür brauche ich Tips, weil ich das selbst nicht sehe. Für mich liest sich die Geschichte nicht so, wie Du und Zerbrösel sie gelesen haben, daher sehe ich nicht, was ich anders machen könnte.
Leider sehe ich auch, daß es für solche Tips notwendig wäre, daß Du/Ihr sie erst einmal richtig versteht, und ich bin ja schon fast soweit, die einzelnen Fäden bzw. Ereignisse selbst zu erklären, aber ich warte noch ein wenig und hoffe, daß es doch noch ein Leser schafft.

weil es für mich zu linear beschrieben wird
Das kann ich bei den ersten Absätzen nachvollziehen, genaugenommen bis Tante Dora sagt »Die Mädchen sind alle so dumm«, aber ich sehe nicht, wie ich es anders machen kann.
Ich hab anfangs ziemlich viel Rückblick, weil ja jeder Serienteil für sich lesbar sein muß, und mir wichtig war, die Wichtigkeit der Rolle von Onkel Joe zu zeigen (was regelmäßige Leser ja längst wissen).
Aber ich sehe wirklich nicht, was ich anders machen könnte. Alles, was mir einfällt, ist, daß ich die erste Szene, mit dem Hemd, direkt zum Konzert als Rückblick schreiben könnte, wenn Uschi das Hemd aus der Tasche zieht. Damit wäre aber wohl nicht viel gewonnen, weil ich mir dann wieder einen anderen Einstieg suchen müßte, um nicht direkt mit dem Rückblick zu beginnen.

Im Übrigen erfährt man erst sehr spät, dass Onkel Joe mit Frau K. verheiratet ist, ich dachte dauernd, er wird sie dann einmal heiraten, wenn sie wieder in Wien zusammenwohnen.
Steht doch gleich im zweiten Absatz »Onkel Joe, Anna Irenes Stiefvater«. Wären sie nicht verheiratet, wäre er nicht Stiefvater.

Auch die Konstellation mit dem Vater und der Astrid wird anfangs nicht klar.
Muß sie das? Astrid und der Vater spielen da ja auch noch keine Rolle.

Von den Formulierungen und den Detailbeschreibungen bin ich teilweise sehr positiv angetan.
Danke, Lob zwischendurch tut natürlich gut.

nur wurde mir mein erster Freund nicht so direkt ins Haus serviert ;)
Ist Hannes denn in Deinen Augen ein richtiger »erster Freund«? Oder hat er nicht eigentlich eine ganz andere Rolle?

Das Telefonat mit der Hagen ist zwar in der heutigen Security-Zeit etwas unglaubwürdig, aber vielleicht war das vor dreißig Jahren tatsächlich noch anders.
Damals ging das jedenfalls einfacher als ich dachte, ich sagte, daß ich mit ihr sprechen will, und war schon verbunden. Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, daß das heute nicht mehr gehen sollte, ist doch nur das Telefon, da kann man ja niemandem etwas tun.

Aufgrund deiner österreichischen Ausdrücke würde ich fast eine Erklärungsliste unter die Geschichte anbringen - es gibt ein paar, die ich nur aus dem Kontext erahnen kann.
Ich hatte eigentlich vor, so eine Liste anhand der Rückfragen der Kritiker zu erstellen. Bisher wären das aber nur die Panier und die Fisolen, die ja nicht unbedingt übersetzt werden müssen, da eigentlich egal ist, was da auf den Tellern liegt.

ohne dass du mir lange erklärst, wieso dass deiner Meinung nach so sein muss - das interessiert im Grunde keinen Leser, der will nämlich unterhalten / und oder zum Denken angeregt werden, egal, ob mit lustigen oder ernsten Geschichten: Aber die Verpackung dazu muss stimmen.
Wir sind ja nicht auf literaturkritik.de, sondern in einem konstruktiven Forum, und da finde ich es, wenn ich Kritiken schreibe, nicht uninteressant, was der Autor eigentlich wollte, denn daran orientiere ich meine Verbesserungsvorschläge. Und dafür muß der Autor eben auch manchmal etwas erklären, damit der Kritiker in die richtige Richtung helfen kann.

Danke nochmal,

liebe Grüße,
Susi :)

 

Liebe Susi,

so nun kommt der zweite Teil meiner Kritik bzw. meines Feedbacks zu deiner Geschichte.

Ich habe mir überlegt, dass ich zwei Teile daraus mache, weil der eine Teil nicht direkt etwas mit dem anderen zu tun hat.

Der erste Teil meiner Kritik behandelt das, was ich persönlich, losgelöst von schriftstellerischen Wünschen, in dieser Geschichte entdeckt habe.

Ich kenne ja, wenn auch nicht alle, einige deiner Anna Irene Geschichten und diese hier, ist anders als die früheren. Das ist sie deswegen, weil Anna Irene nun ein gewisses Alter erreicht hat und weil sie altersentsprechend anders reagiert als in den früheren Geschichten.
Ich selbst konnte die Not, in der sich Anna Irene befand in dieser Geschichte jeweils gut aushalten und weiterlesen, während ich in den früheren Geschichten oft mehr als nur einmal schlucken musste.

Das liegt daran, dass immer wieder der Widerstand Anna Irenes durchblitzt in dieser Geschichte. Da wächst ein Kind heran, dass zwar gestraft ist mit solch einer Mutter, aber das zum Teil Auswege findet, um aus dem fatalen Einfluss heraus zu gelangen.
Im Grunde genommen ist es eine Geschichte über das Mutigsein und das "AusallemdasBestemachen". Anne Irene wehrt sich, das tut gut, es in dieser Geschichte zu lesen.

Auch wenn sie sich noch mehr wehren könnte, noch heftiger hätte Widerstand leisten können und und und, ABER man spürt das Potential, die Kraft, die in diesem Kind heranwächst.

Vom Inhalt her könnte ich nicht sagen, dass die Geschichte zu lang ist, denn einiges muss sich erst innerhalb des Textes entwickeln, um Wirkung zu erzielen und das Bild abzurunden.
Das ist ein ganzer Lebensabschnitt, der mir komplett erscheint.
Durch die Geschichte gezogen hat mich die Frage, was Anna Irene jetzt noch alles tut, um sich von der Mutterherrschaft zu lösen und da sind viele Ansätze zu lesen gewesen.

Durch diese Weiterentwicklung Anna Irenes wirkt die Geschichte authentisch und lebensnah, zumal ich selbst einige Kindheitserinnerungen wachrufen konnte, in denen ich mit meinen Eltern um Dinge gefeilscht habe, um an irgendwelchen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Ich erinnere mich an zähe widerliche Verhandlungen mit ihnen. Das hat deine Geschichte auslösen können.


Ok und nun zur Kritik unter Autoren:

der Geschichte fehlt es an einem gehörigen Spannungsbogen, der wie ein Zugpferd durch die Handlungen zieht. Du reihst im Grunde genommen etliche Begebenheiten aneinander, die fast wie ein Mosaik am Ende ein komplettes Bild eines Lebensabschnitts der Anna Irene ergeben, ABER die Tatsache, dass am Ende aus all diesen Sequenzen ein Gesamtbild entsteht, reicht nicht aus, um Spannung zu erzeugen.
Deine Geschichte wirkt wie ein Bericht, den man jemandem gegenüber macht, z.B. einem Therapeuten oder vertrauten Freund, um einen Überblick über dieses Leben zu geben. Da reicht es aus, dass die Dinge bildhaft und durch die schnörkellose Sprache anschaulich beschrieben werden.

Als Leser verlange ich aber mehr!
Ich möchte unterhalten werden. Will Neues erleben oder mitfiebern mit der Protagonistin, will ihre innerlichen und äusserlichen Kämpfe miterleben und mit ihr fürchten und bangen und mich am Ende freuen, über den Triumph, etwas überwunden zu haben.
Der rote Faden fehlt also in deiner Geschichte.
Der könnte sein, dass der Leser von Anbeginn an weiß, dass Anna Irene z.B. zu einem Konzert möchte. Du könntest dann anfänglich in Ruhe schildern, wieso ihr ausgerechnet dieses Konzert so wichtig ist. Wieso fast ihr Leben dran hängt, dorthin gehen zu dürfen.
Am Ende muss ich als Leser mit ihr mitfühlen können und ihre Fürsprecherin sein mögen. Und dann müsste gerade dann, wenn ich Leser eigentlich aufatmen möchte, weil die Mutter Anna Irene erlaubt, zum Konzert zu gehen, das erste Problem auftauchen. Es scheitert und wieder steht alles in den Sternen, ob sie dorthin gehen darf. Es müssten sich auf einmal die Hindernisse nur so auftürmen und es müsste das Gefühl heranwachsen, dass nun alles vergebens war.
So könntest du den Spannungsbogen aufbauen und halten, steigern und ihn dann zum HappyEnd führen, nämlich dem Konzert.
Ich habe das mit dem Konzert nur als Beispiel gewählt.

Wichtig ist mir, dass du siehst, dass du diese Geschichte auch anders aufzäumen könntest. Löse dich von all den Details, die dir im Moment unerlässlich erscheinen und von denen du glaubst, sie müssten dringend dort stehen.
Ziehe den roten Faden, indem du Anna Irene ein Ziel verfolgen lässt und dem Leser immer wieder Impulse gibst, zu erkennen, auf welchem Pfad sich Anna Irene grad befindet, welche Hindernisse sich grad ihrem Ziel entgegen gesetzt haben und wie sie diese Hindernisse überwindet auf ihrem Weg.

Und dann pack ruhig jede Menge Begebenheiten drumherum, die dir wichtig erscheinen, aber sie müssen allesamt insoweit passen, als sie eine Begleitung auf Anna Irenes Weg zum Ziel sind.
Glaube mir, wenn du es so darstellst, dann kommt die Botschaft deiner Geschichte sehr viel wuchtiger rüber. Es geht ja nicht darum, dass du so detailgetreu wie nur möglich etwas aus Anna Irenes Leben darstellen, sondern es geht darum, dass du etwas mitteilen möchtest.


Wenn ich an deine Geschichte denke, die um das verlorene Kind in der Sekte gerankt ist, dann ist es dir dort gelungen, höchst spannend zu beschreiben.
Vergleiche doch bitte mal beide Geschichten: in der Geschichte mit dem sog. Sektenkind ist das Ziel deiner Protagonistin, aus der Sekte mitsamt dem Kind gesund heraus zu gelangen. Das ist der Weg und zugleich der Spannungsbogen, der dadurch entsteht.
Es stellen sich den beiden jede Menge Hindernisse in den Weg, die die Spannung erhöhen, ja bis ins Unerträgliche steigern, weil man mit den beiden mitfiebert, bangt und hofft. Das ist Spannung!

Lieben Gruß
lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Häferl,

der Plot zeigt in seiner Zusammenfassung, wie Missbrauch entsteht, wie man dazu getrieben wird, sich zum Missbrauch anzubieten und wie man zum Missbraucher wird.
Kennzeichnend ist vor allem die Beziehungslosigkeit, die Reduzierung von Personen auf ihre Funktionalität.
Das Denken kreist nur um die dominante Frau K., andere Menschen werden nur danach wahrgenommen, wie gut sie von dieser ablenken oder vor ihr beschützen können.
Onkel Joe, der eigentlich im Verlauf der Serie schon längst die Koffer gepackt haben müsste, tut dies endlich. Es war nie zu verstehen, was ihn bei Frau K. gehalten hat. Natürlich ist das schwer für Anna Irene, verliert sie doch dadurch ihren einzigen Schutz, den Mann, mit dem sie auch mal allein unterwegs sein durfte, mit dem sie Spaß haben konnte, dessen Anwesenheit aber vor allem dazu diente, die Schläge durch Frau K. zu reduzieren. In diesem Kontext erlebte Anna Irene ihn als wichtig. Letztlich war nicht er gemeint, sondern seine Funktion. Über diese wird er auch beschrieben.
Die Tante ordnet sich der Parteidisziplin unter. Das hat den Vorteil, gute politische Lektüre zu bekommen, Gedankenfreiheit zu bekommen, wo es nur Zwang gibt. Gedankenfreiheit, die letztlich selbst zum Zwang wird, zum Missbrauch durch und für die hehren Ziele. Das Kind wird vorgeführt, Emanzipationsvorzeigekind im technischen Beruf, das über die Gage nicht frei bestimmen darf. Im Grunde bleibt die Tante blass. Sie scheint nicht mehr zu haben oder zu sein als die Partei, Sehnsucht kann sie nicht hervorrufen, denn letztlich paktiert sie mit der bösen Frau K.
Hannes, genehmigter Freund, da er zur Partei gehört, Jugendgruppenleiter ist, der sich nicht schämt, einem dreizehnjährigen Mädchen vorzurechnen, warum sie jetzt mit ihm schlafen müsste, entgegen ihres Gefühls, aber sie würde ihn doch verlieren. Die Parteidisziplin sieht beim Missbrauch zu, nicht beim Akt, aber doch bei dessen Anbahnung. Die Beziehung der beiden ist bekannt, niemand sagt etwas. Und letztlich wird auch Hannes durch Anna Irene missbraucht, denn auch ihn meint sie nicht, nur die Funktion, die sie nicht verlieren will, denn auch er ist letztlich ein Rettungsanker vor Frau K, mehr nicht. Von Liebe ist keine Rede, nicht mal von einem freundschaftlichen Gefühl, nur von der Angst, ihn zu verlieren, wenn sie nicht willig ist. Ein leicht zu manipulierendes Opfer, in einer Zeit, in der die Freiheit der Sexualität groß geschrieben wurde und sich wohl jeder spießig vorgekommen wäre, gegen die Liaison etwas zu sagen, selbst, wenn die Gesetze sie verboten. Auch Hannes muss als Jugendgruppenleiter davon gewusst haben, Gedanken darüber wird er sich nicht gemacht haben, Jugendschutzgesetze wurden gemeinhin als Jugendärgergesetze empfunden, nur geschaffen, um die Jugend an der freien Entfaltung zu hindern. Schuldbewusstsein oder gar das Gefühl, etwas Schlechtes zu tun, wird er nicht gehabt haben, eher vielleicht sogar das Gefühl stolzer Rebellion. Der Zeitkontext kommt aus der Geschichte allerdings weniger vor, dazu wird zu sehr auf die Zwangslage verwiesen, in der Anna Irene sich befindet. Und letztlich ist Hannes wirkliches Selbstverständnis dafür ja auch Spekulation, niemand kann es wirklich kennen. Aber Hannes muss selbst dann noch herhalten, als es längst zuende ist. Die übermächtige Mutter darf von der Trennung nichts wissen. Hannes, der Missbraucher wird weiterhin als Schutzschild missbraucht.
Die Freundinnen (Uschi zum Beispiel) reduzieren sich auf Dienstleistungen. Die Großvaterhemden, der gemeinsame Besuch des Nina Hagen Konzerts, kleine Lügen, die auch gegen Frau K. unterstützen. Auch sie werden fast ausschließlich vor diesem Fokus geschildert und verlieren so die Eigenständigkeit. Letztlich konsequent, von einer Seele, die doch so sehr leidet.
Athanasios, die arme Seele, eignet sich als Pausenclown. Zwar steht in der Geschichte, Anna Irene freundet sich rasch mit ihm an, er geht ja auch mit ihr ins Kino, öffnet ihr Welten und Drogen, aber sie vertraut ihm nicht. Bei ihm ist vom letzten Besuch des Praters die Rede, nicht von Abschied, nicht davon, ihn zu vermissen. Eher erscheint er als der, der sie bei aller Freundschaft letztlich verführt hat, nicht zum Sex, sondern zum Schuleschwänzen, zu verbotenen Filmen, zum Ausstieg. Er lässt sie Sorgen und Ängste vergessen, aber von Zuneigung ist im Text nicht die Rede. Dabei scheint er der zu sein, der sie am besten versteht, sie einfach nimmt, wie sie ist, fast ein Seelenverwandter. Der einzige, der frei ist von der Dominanz Frau K.s. Vielleicht kann Anna Irene ihn nicht lieben, weil er es zu gut mit ihr meint. Aber auch das ist Spekulation.
Und Nina, eine Ikone der Hoffnung, auf die Freiheit reduziert, die sie verspricht.
Der Text erzählt also etwas zwischen den Zeilen, etwas das Anna Irene noch mehr zum Opfer aller macht, aber auch etwas davon, dass sie sich dazu förmlich anbietet. Und etwas davon, dass Opfertum nie unschuldig bleibt, weil es die Liebesfähigkeit ruiniert und alle Menschen, gerade die, die als wichtig eingestuft werden, nur auf den Schutz reduziert, den sie bieten. Das ist durchaus nachzuvollziehen.

Es ändert aber leider nichts an den Schwächen, die ich dir per Mail schon genannt habe. Der Text hakt Stationen des Leidens ab, ohne es greifbar zu machen. Die überwiegend narrative Erzählstimme berichtet in der gleichen Tonart vom Nina Hagen Konzert, von den Ausflügen mit Joe, wie von den Strafen.
Lediglich in den kursiven Gedankenpassagen bricht er daraus aus, vor allem während der U-Bahn-Fahrt zu dem bevortehenden Test.
Gefühle werde fast immer benannt, nicht dargestellt. Viel zu viele Sätze beginnen mit Chronolgieanfängen:"Danach; Zwei Tage vor; Am nächsten Tag; fasst nun; Wenige Minuten später; Nachdem;
Viele Sätze ähneln sich im stgrukturellen Aufbau: Anna Irene stellt ihre Schultasche ...
Uschi nimmt grinsend einen der Säcke ...
Dagmar nimmt ein blassrosa Hemd...
Anna Irene entscheidet sich für ...
Subjekt - Prädikat - Objekt, Subjekt - Prädikat - Objekt
Subjekt - Prädikat - Objekt

Einiges wird kommentierend erzählt - "Anna Irene hatte gelernt, dass sie ..."
Das ermüdet. Bis zum Inhalt muss man dabei gar nicht gehen. Es sind die grammatisch sicher einwandfreien Sätze, die den Text schwer lesbar machen, nicht der Inhalt. Und es ist diese Gleichförmigkeit, die den Fokus noch mehr auf die Dominanz der Mutter und das Leiden darunter richtet.
So leid es mir tut.

Das Ende ist tatsächlich ohne die ganzen Erzählungen zuvor nicht zu verstehen. Besonders der Missbrauch durch die Partei ist dafür wichtig. Das Ende ist aber auch ohne Kenntnis der 19 vorangegangenen Folgen nicht zu verstehen. Denn angesichts der Reaktion Frau K.s könnte man sonst den Eindruck bekommen, die Angst Anna Irenes davor sei nur fantasiert gewesen. In dem simplen Satz, sie entspräche allen Erwartungen, wird das Ausmaß dessen was geschieht nicht im geringsten deutlich, schon gar nicht für jemanden, der die anderen Folgen nicht kennt. Frau K. erweist sich auf einmal als Pragmatikerin. Das dominiert so, dass ich zwei Mal lesen musste, um zu begreifen, dass das erst die Reaktion am nächsten Tag war. Und in diesem Pragmatismus wird der gleiche Missbrauch durch die Partei als Fortsetzung angekündigt.

als eine Mauer, an der eine schmale Kabeltasse entlangläuft
Kabeltrasse oder wirklich Kabeltasse?
Bis zum Abend hat sie es selbst schon beinahe vergessen
und musste sie die Arbeit nun schreiben?


Lieben Gruß
sim

 

Hallo Susi,

von mir nur eine kurze Rückmeldung, weil schon viel gesagt wurde (s. zum Beispiel lakita und sim), was ich unterschreiben kann. Für den Leser ist der Text tatsächlich recht eintönig und berichthaft. Ich habe mich vor einigen Tagen auch mehr durchgekämpft, als dass ich Wort für Wort verschlungen hätte. Tut mir leid. Das Thema hat mehr verdient. Aber die besten Hinweise haben sim und lakita schon gegeben, ich würde sie nur wiederholen.

Aber ich habe noch eine zusätzliche Anmerkung. Dazu möchte ich vorwegschicken, dass ich bisher nicht alle Anna-Irene-Folgen zur Gänze gelesen habe. Jeder Teil soll ja für sich genommen funktionieren. Im Großen und Ganzen funktioniert das hier auch. Aber in einem Punkt meiner Ansicht nach nicht so gut. Du schilderst oft die Angst von Anna Irene vor Frau K., besser gesagt: Du sagst oft, dass sie Angst hat, ohne diese Angst wirklich zu zeigen (außer an einigen wenigen Stellen). Die ganze Zeit tut Frau K. aber nichts, um diese Angst vor körperlichen Strafen zu rechtfertigen - zumindest bis kurz vor Schluss und gefühlte 60 Seiten lang nicht. Und dort wird es nur kurz gestreift ("Frau K. geht auf sie los" - wie muss ich mir das vorstellen?). Hier sind dann doch die anderen Anna-Irene-Folgen Voraussetzung, ansonsten fragt man sich die ganze Zeit, was Anna Irene denn zu ihren Ängsten getrieben hat. Das hinkt in dieser Geschichte und müsste noch aufgegriffen werden - obwohl ich insgesamt denke, dass die Geschichte deutlich gekürzt werden müsste.

Ich hoffe, du kannst mit den Anmerkungen etwas anfangen.

Liebe Grüße
Kerstin

 

Liebe lakita!

Danke für die viele Arbeit, die Du Dir mit meiner Geschichte gemacht hast! :)

lakita schrieb:
dass immer wieder der Widerstand Anna Irenes durchblitzt in dieser Geschichte. Da wächst ein Kind heran, das zwar gestraft ist mit solch einer Mutter, aber das zum Teil Auswege findet, um aus dem fatalen Einfluss heraus zu gelangen.
Im Grunde genommen ist es eine Geschichte über das Mutigsein und das "AusallemdasBestemachen". Anne Irene wehrt sich, das tut gut, es in dieser Geschichte zu lesen.
Die Sicht gefällt mir sehr gut.

lakita schrieb:
Auch wenn sie sich noch mehr wehren könnte, noch heftiger hätte Widerstand leisten können und und und, ABER man spürt das Potential, die Kraft, die in diesem Kind heranwächst.
Ja, wäre schön gewesen, wenn sie zur Kraft auch noch den Mut gehabt hätte, sich noch mehr zu wehren.

lakita schrieb:
Vom Inhalt her könnte ich nicht sagen, dass die Geschichte zu lang ist, denn einiges muss sich erst innerhalb des Textes entwickeln, um Wirkung zu erzielen und das Bild abzurunden.
Danke für die Bestätigung.

lakita schrieb:
Durch die Geschichte gezogen hat mich die Frage, was Anna Irene jetzt noch alles tut, um sich von der Mutterherrschaft zu lösen und da sind viele Ansätze zu lesen gewesen.
Freut mich, daß Dich die Frage trotz des fehlenden Spannungsbogens bis zum Schluß lesen ließ.

lakita schrieb:
Durch diese Weiterentwicklung Anna Irenes wirkt die Geschichte authentisch und lebensnah, zumal ich selbst einige Kindheitserinnerungen wachrufen konnte, in denen ich mit meinen Eltern um Dinge gefeilscht habe, um an irgendwelchen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Ich erinnere mich an zähe widerliche Verhandlungen mit ihnen. Das hat deine Geschichte auslösen können.
Wenn ich im Leser eigene Erinnerungen wecken kann, freut mich das immer wieder. :)

lakita schrieb:
der Geschichte fehlt es an einem gehörigen Spannungsbogen, der wie ein Zugpferd durch die Handlungen zieht. Du reihst im Grunde genommen etliche Begebenheiten aneinander, die fast wie ein Mosaik am Ende ein komplettes Bild eines Lebensabschnitts der Anna Irene ergeben, ABER die Tatsache, dass am Ende aus all diesen Sequenzen ein Gesamtbild entsteht, reicht nicht aus, um Spannung zu erzeugen.
Ja, das hab ich inzwischen eingesehen. Bloß weiß ich noch nicht, was ich dagegen machen kann. Also theoretisch weiß ich es schon, aber ich sehe noch nicht, womit ich den Bogen spannen könnte.

lakita schrieb:
Will Neues erleben oder mitfiebern mit der Protagonistin, will ihre innerlichen und äusserlichen Kämpfe miterleben und mit ihr fürchten und bangen und mich am Ende freuen, über den Triumph, etwas überwunden zu haben.
Der rote Faden fehlt also in deiner Geschichte.
Ja, der rote Faden – ich finde ihn auch nicht, und ich kann mir bisher auch nichts als solchen vorstellen, vor allem deshalb, weil für mich durch die Scheidung in der Mitte ein Bruch ist, über den sich irgendwie nichts spannen kann. Aber ich vermute, das kommt daher, daß der Verlust von Onkel Joe der Punkt ist, der mir noch immer am meisten weh tut. Empfindest Du die Scheidung als Bruch oder liest sie sich nur wie einer von vielen Punkten?

lakita schrieb:
Der könnte sein, dass der Leser von Anbeginn an weiß, dass Anna Irene z.B. zu einem Konzert möchte. […]
So könntest du den Spannungsbogen aufbauen und halten, steigern und ihn dann zum HappyEnd führen, nämlich dem Konzert.
Ich habe das mit dem Konzert nur als Beispiel gewählt.
Hast Du das Konzertbeispiel gewählt, weil Du auch nicht siehst, was das stattdessen in der ganzen Geschichte sein könnte? ;)

lakita schrieb:
Ziehe den roten Faden, indem du Anna Irene ein Ziel verfolgen lässt und dem Leser immer wieder Impulse gibst, zu erkennen, auf welchem Pfad sich Anna Irene grad befindet, welche Hindernisse sich grad ihrem Ziel entgegen gesetzt haben und wie sie diese Hindernisse überwindet auf ihrem Weg.
Alles, was mir dazu im Moment einfällt, sind Dinge, wie das Wegkommenwollen von Frau K., für die ich die Geschichte dann über einen noch größeren Zeitraum schreiben müßte, und das wäre sicher auch nix.

lakita schrieb:
Und dann pack ruhig jede Menge Begebenheiten drumherum, die dir wichtig erscheinen, aber sie müssen allesamt insoweit passen, als sie eine Begleitung auf Anna Irenes Weg zum Ziel sind.
Glaube mir, wenn du es so darstellst, dann kommt die Botschaft deiner Geschichte sehr viel wuchtiger rüber. Es geht ja nicht darum, dass du so detailgetreu wie nur möglich etwas aus Anna Irenes Leben darstellen, sondern es geht darum, dass du etwas mitteilen möchtest.
Ja, ich werde die Geschichte erst einmal noch ein bisschen liegenlassen und sie dann noch einmal gründlich überarbeiten.

lakita schrieb:
Wenn ich an deine Geschichte denke, die um das verlorene Kind in der Sekte gerankt ist, dann ist es dir dort gelungen, höchst spannend zu beschreiben.
Vergleiche doch bitte mal beide Geschichten: in der Geschichte mit dem sog. Sektenkind ist das Ziel deiner Protagonistin, aus der Sekte mitsamt dem Kind gesund heraus zu gelangen. Das ist der Weg und zugleich der Spannungsbogen, der dadurch entsteht.
Es stellen sich den beiden jede Menge Hindernisse in den Weg, die die Spannung erhöhen, ja bis ins Unerträgliche steigern, weil man mit den beiden mitfiebert, bangt und hofft. Das ist Spannung!
»Wo wir uns dann wiedersehen« ist vor allem in Ich-Form geschrieben, dabei gelingt mir das immer besser. Das finde ich übrigens interessant, daß Dir dazu die Sektengeschichte einfällt, da nicht umsonst da wie dort der Name Athanasios vorkommt. ;)

Danke nochmals,
alles Liebe,
Susi :)


Liebe Zerbrösel-Pistole!

Verzeih bitte meine erste Reaktion auf Deine Kritik, es hat mich erst etwas zu sehr zerbröselt, daß Du nicht zuende gelesen hast. Aber ich will natürlich trotzdem danke sagen und freu mich, daß Du es zumindest versucht und mir geschrieben hast, woran es liegt, daß sie nicht funktioniert.

Zerbrösel-Pistole schrieb:
Zur Unterhaltung ist 1) das Thema zu problematisch und 2) die Entwicklung nicht erkennbar - ich vermisse sehnlichst, die Steigerung über Konflikte - die es ja gibt - aber über Konflikte, die die Geschichte in eine erkennbare Richtung steuern - zu einem (wie auch immer gearteten) Höhepunkt hin.
Über 1) kann man streiten, das kommt wohl auf jeden persönlich an. Ich selbst langweile mich eher, wenn ich nur unterhalten werde. ;-)
Punkt 2) hab ich mittlerweile eingesehen, und wie Du in meiner Antwort an lakita lesen kannst, denke ich darüber noch nach.

Zerbrösel-Pistole schrieb:
Ich frage mich die ganze Zeit: "Was wird mit Anna Irene als nächstes gemacht?" Wichtig wäre es aber, den Leser zu der Frage zu treiben: "Was macht Anna Irene als nächstes?"
Bei lakita scheint das doch anders angekommen zu sein, sie sieht die Suche nach Auswegen, aber ich muß das wohl deutlicher machen.

Zerbrösel-Pistole schrieb:
So oder so: Das sind meine Hauptprobleme. Nebenbei fiel mir auf, soweit ich gelesen habe, dass du Narrative Zusammenfassungen weit mehr als unmittelbare Handlungen einsetzt;
Ja, da hast Du leider auch recht, und es war mir beim Schreiben auch schon bewußt, aber um sie nicht noch länger zu machen, hab ich es dabei belassen. Mal sehen, was bei der Überarbeitung draus wird. ;-)

Zerbrösel-Pistole schrieb:
Ich / der Leser ‚muss‘ Frau K. als Schurkin einstufen, weil der Inhalt es unmissverständlich suggeriert. Gut gegen Böse, in dieser Form weitesgehend schwarz-weiß.
Das kann ich nicht ganz bestreiten, allerdings … ich sag es einfach so: Besser, Du liest die vorigen Folgen nicht … :D
Das ist ja ein Kritikpunkt, der mich die ganze Serie lang schon begleitet, aber ich seh da wirklich nicht viel, was ich dagegen tun kann. Ich hab ja versucht, zumindest ein bisschen Grau einzufügen, etwa den Besuch in der Konditorei, und es sind auch die anderen Figuren nicht so einfärbig, aber so richtig Positives fällt mir zu Frau K. nicht ein; sie hat gut gekocht (am liebsten nach Brigitte-Rezepten) und sie hat schöne Pullover gestrickt – beides nicht unbedingt das Wichtigste für eine glückliche Kindheit, und damit in meinen Augen nicht unbedingt geeignet, in der Geschichte ein anderes Bild von ihr abzugeben.

Zerbrösel-Pistole schrieb:
An der Ausführung deiner Geschichte erkenne ich trotz meiner Kritik ein immens hohes Maß an Arbeit. Und weil auch ich dir hier weitaus lieber Positiveres zu vermelden gehabt hätte - und ich denke, das weißt du auch -,
Danke. :) (Klar weiß ich das. ;-))

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo sim!

Danke natürlich auch für deinen Kommentar, auch wenn ich darüber zu einem guten Teil eigentlich nur den Kopf schütteln kann. Wundern tut er mich allerdings nicht, denn du hast mir ja angekündigt, daß du deine Launen in der Kritik auslassen wirst. Ich mußte stellenweise darüber schmuzeln, wie du, nur um deinen Zweck zu verfolgen, Dinge verbiegst, die jeder Laie besser weiß.

Der Plot zeitgt in seiner Zusammenfassung, wie Missbrauch entsteht, wie man dazu getrieben wird, sich zum Missbrauch anzubieten und wie man zum Missbraucher wird.
Ich würde ein Kind oder eine Jugendliche, die sich dorthin wendet, wo sie Schutz findet, nicht als Mißbraucher bezeichnen. Wo denn sonst soll sie hin?
Das hat mir gestern ein anderer kg-ler geschrieben (den ich natürlich nicht nennen werde):
Ich hab diesen geballten Absatz, den sim da hingeschrieben hat, selbst beim zweiten Lesen nicht wirklich verstanden ... oder aber eine völlig andere Auffassung von dem Begriff „Missbrauch“. Wenn jemand Schutz oder Hilfe sucht, ist das kein Missbrauch – da wird die Bedeutung dieses Wortes völlig verdreht.

sim schrieb:
Das Denken kreist nur um die dominante Frau K., andere Menschen werden nur danach wahrgenommen, wie gut sie von dieser ablenken oder vor ihr beschützen können.
Onkel Joe, der eigentlich im Verlauf der Serie schon längst die Koffer gepackt haben müsste, tut dies endlich. […] Natürlich ist das schwer für Anna Irene, verliert sie doch dadurch ihren einzigen Schutz, den Mann, mit dem sie auch mal allein unterwegs sein durfte, mit dem sie Spaß haben konnte, dessen Anwesenheit aber vor allem dazu diente, die Schläge durch Frau K. zu reduzieren. In diesem Kontext erlebte Anna Irene ihn als wichtig. Letztlich war nicht er gemeint, sondern seine Funktion. Über diese wird er auch beschrieben.
Aber natürlich war er gemeint. Und auch seine Funktion. Nicht umsonst zähle ich anfangs eine Reihe schöner Erlebnisse mit ihm auf. Natürlich war dabei auch wichtig, daß Frau K. nicht dabei war, sonst wären die Erlebnisse ja nicht so entspannt gewesen, wie sie waren. Aber daß es um Onkel Joe auch als Mensch ging, geht doch wohl z. B. daraus hervor, daß sie sogar seine Bücher liest, um sich mit ihm verbunden zu fühlen, oder sie es nicht ausstehen kann, als die SPÖ-Frauen ihre technische Begabung als ihr Werk ausgeben, wo sie doch alles von Onkel Joe gelernt hat, was auch anfangs schon erwähnt wird.
Es gehört meiner Ansicht nach zum Allgemeinwissen, daß ein Kind denjenigen am meisten liebt, der mit ihm etwas unternimmt und Zeit mit ihm verbringt, mit dem es Spaß hat – auch dafür sind die vielen Beispiele gut. Und Kinder spüren, wer sie mag; Onkel Joe hätte das alles wohl nicht gemacht, wenn er Anna Irene nicht geliebt hätte, und dafür hat sie ihn auch geliebt, das muß ich wohl nicht extra anführen; das in der Geschichte zu erklären käme mir vor, als gäbe ich Nachhilfe in Hausverstand.
Wo man sich beschützt fühlt, fühlt man sich geborgen, und eben diese Geborgenheit ist ein weiterer Punkt, warum Kinder einen Menschen lieben. Warum unterstellst Du Anna Irene hier mißbrauchende Absichten?

sim schrieb:
Die Tante ordnet sich der Parteidisziplin unter. Das hat den Vorteil, gute politische Lektüre zu bekommen, Gedankenfreiheit zu bekommen, wo es nur Zwang gibt. Gedankenfreiheit, die letztlich selbst zum Zwang wird, zum Missbrauch durch und für die hehren Ziele. Das Kind wird vorgeführt, Emanzipationsvorzeigekind im technischen Beruf, das über die Gage nicht frei bestimmen darf. Im Grunde bleibt die Tante blass. Sie scheint nicht mehr zu haben oder zu sein als die Partei, Sehnsucht kann sie nicht hervorrufen, denn letztlich paktiert sie mit der bösen Frau K.
Ja, die Tante ist Partei, so gibt sie sich, und es gab keine anderen Themen. Die Bücher, die der positive Einfluß der Tante sind, hat Anna Irene ja nicht geordert; sie haben ihr gefallen und eine positive Wirkung auf ihr Denken, aber sie dienten letztlich auch zum Heranziehen einer guten Sozialistin. Zweckdienliche statt herzliche Geschenke.

sim schrieb:
Hannes, genehmigter Freund, da er zur Partei gehört, Jugendgruppenleiter ist, der sich nicht schämt, einem dreizehnjährigen Mädchen vorzurechnen, warum sie jetzt mit ihm schlafen müsste, entgegen ihres Gefühls, aber sie würde ihn doch verlieren. Die Parteidisziplin sieht beim Missbrauch zu, nicht beim Akt, aber doch bei dessen Anbahnung. Die Beziehung der beiden ist bekannt, niemand sagt etwas. Und letztlich wird auch Hannes durch Anna Irene missbraucht, denn auch ihn meint sie nicht, nur die Funktion, die sie nicht verlieren will, denn auch er ist letztlich ein Rettungsanker vor Frau K, mehr nicht. Von Liebe ist keine Rede, nicht mal von einem freundschaftlichen Gefühl, nur von der Angst, ihn zu verlieren, wenn sie nicht willig ist.
Natürlich ist er ein Rettungsanker, trotz des Mißbrauchs, aber daraus einen Mißbrauch abzuleiten, ist schon wieder sehr verbogen. Auch hier gilt das bei Onkel Joe Gesagte. Und: Anna Irene hat sich in Hannes verliebt, als sie noch gar nicht wissen konnte, welche Vorteile er für sie bringt. Und jeder andere hätte die Vorteile in der Situation wohl auch angenommen. Oder hättest du zu deiner Mutter gesagt »Nein, die Freiheiten will ich nicht, du gibst sie mir ja nur wegen xy. Ich bleibe lieber zuhause, damit ich jederzeit für dich greifbar bin«?

sim schrieb:
Auch Hannes muss als Jugengruppenleiter davon gewusst haben, Gedanken darüber wird er sich nicht gemacht haben, Jugenschutzgesetze wurden gemeinhin als Jugendärgergesetze empfunden, nur geschaffen, um die Jugend an der freien Entfaltung zu hindern. Schuldbewusstsein oder gar das Gefühl, etwas Schlechts zu tun, wird er nicht gehabt haben,
Hier ignorierst du einfach, daß Hannes angehender Sozialarbeiter war und daher gerade über diese Dinge sehr gut Bescheid wußte.

sim schrieb:
Und letztlich ist Hannes wirkliches Selbstverständnis dafür ja auch Spekulation, niemand kann es wirklich kennen.
Stellen wie diese ignorierst du einfach:
Als sie wieder einmal mit Hannes alleine ist, meint dieser, er würde gern mit Anna Irene etwas ausprobieren, was er auf der Sozialakademie gelernt hat, dazu müsse Anna Irene nur ein paar Fragen beantworten.
»Stell dir einen Wald vor. Wie sieht er aus?«
»Ist das jetzt eine Scherzfrage?«
»Nein, das ist Psychologie. Du sollst nur den Wald beschreiben. Ist er hell oder finster, zum Beispiel.«
»Finster«, sagt sie spontan und überlegt dann kurz: Komisch, warum sage ich finster? Wenn ich mit Onkel Joe im Wald war, war es da doch gar nie finster.
»Und? Weiter? Ist da ein Weg?«
»Ja, natürlich.«
»Wie sieht er aus? Eben und breit, oder …«
»Nein, er ist schmal und die Wurzeln von den Bäumen ragen überall heraus.« Solche Wege sind mir die liebsten.
»Siehst du hinaus aus dem Wald, wird es irgendwo lichter?«
»Nein, es ist ein großer Wald, in dem man lange gehen kann.«
Hannes lächelt und sagt: »Danke, das war’s schon.«
»Und was hast du jetzt über mich herausgefunden?«
»Das kann ich dir natürlich nicht sagen.«
Warum wohl stellt er ihr analytische Fragen, die ihm ihr Inneres zeigen, ohne ihr zu sagen, worum es geht? Bestimmt, weil er so gar nicht wußte, was er tut … :hmm:

sim schrieb:
Aber Hannes muss selbst dann noch herhalten, als es längst zuende ist. Die übermächtige Mutter darf von der Trennung nichts wissen. Hannes, der Missbraucher wird weiterhin als Schutzschild missbraucht.
Nur, damit die Mitlesenden sehen, wie sehr er hier mißbraucht wird:
Ja, da will ich hingehen. Irgendwie muss ich das dürfen! … Ich könnte so tun, als würde ich mich mit Hannes treffen …
Hier der mißbrauchende Gedanke von Anna Irene, und hier, die Situation etwas später:
Anna Irene bringt es nicht fertig, sie anzulügen. »Nur ein paar Leute treffen.«
Sie hat ihn also nicht einmal tatsächlich als Ausrede benutzt.

sim schrieb:
Die Freundinnen (Uschi zum Beispiel) reduzieren sich auf Dienstleistungen. Die Großvaterhemden, der gemeinsame Besuch des Nina Hagen Konzerts, kleine Lügen, die auch gegen Frau K. unterstützen. Auch sie werden fast ausschließlich vor diesem Fokus geschildert und verlieren so die Eigenständigkeit. Letztlich konsequent, von einer Seele, die doch so sehr leidet.
Hier ist bloß die Darstellung auf die für die Geschichte relevanten Szenen reduziert – ich wollte schließlich keinen Roman schreiben. Wie du dir aber aus dem Mitbringen der Hemden, einem gemeinsamen Konzertbesuch und dem Aufnehmen einer Schallplatte auf Kassette eine Reduktion auf Dienstleistungen zimmerst, ist mir wirklich schleierhaft. Fast alle Jugendlichen nehmen sich gegenseitig Musik auf, ohne daß dabei von Mißbrauch die Rede ist, viele Mädchen borgen sich untereinander Gewand aus, das ist völlig normal, und gerade in dem Alter definieren sich Freundschaften oft über gemeinsame Interessen und Vorlieben. Man hört dieselbe Musik und fühlt sich verbunden, man kleidet sich gleich oder ähnlich, um Verbundenheit zu zeigen.
Am Beispiel von Uschi zeige ich aber auch, daß Anna Irene Eindrücke von anderen Eltern bekommt, die ihren Kindern mehr erlauben, ja sogar in ihren Interessen unterstützen. Uschi durfte die Hemden zwecks »Verkleidung« mit in die Schule nehmen, Uschi bekam die Nina-Hagen-Platte von ihren Eltern, und es ging von Uschis Vater aus, daß der Konzertbesuch zustande kam. Daraus ergibt sich eben auch ihre »Rolle«, wie sie sich millionenfach unter Jugendlichen ergibt, daß sie es eben zum Beispiel ist, die die Hemden mitbringt oder die Schallplatte auf Kassette spielt; Anna Irenes Rolle hätte das nicht sein können. Du hättest sicher auch nicht gesagt: »Nein, nimm mir das bitte nicht auf, ich will dich nicht mißbrauchen, und auch dein Hemd will ich nicht, sonst kommt noch jemand auf die Idee, ich würde dich darauf reduzieren.« Oder vielleicht so: »Ich will nichts von dir annehmen, nur weil dir deine Eltern alles erlauben.« :lol:

sim schrieb:
Athanasios, die arme Seele, eignet sich als Pausenclown.
Natürlich ist das gemeinsame Verbringen der Mittagspausen ein Benutzen als Pausenclown. Hier nochmal die betreffende Stelle in der Geschichte:
Oft verbringen sie gemeinsam die Mittagspause, essen im Schulbuffet oder gehen auf den St. Marxer Friedhof spazieren. Anfangs war ihr mulmig dabei, sie hatte noch nie mit dem Tod direkt zu tun, und hatte Angst, ihn auf dem Friedhof zu spüren. Doch Athanasios sagte: »Der Friedhof ist so alt, da ist sogar der Tod schon tot.«
Und tatsächlich: Als sie durch den aus Ziegelsteinen gemauerten Eingang gehen, den sowohl ein Judenstern als auch ein Kreuz zieren, ist es mehr so, als würden sie durch einen Park spazieren. Vorbei an verwilderten Gräbern und Grabsteinen, an denen die Zeit deutliche Spuren hinterlassen hat. Der Tod ist hier längst verwest und eins mit der Erde.
»Da liegt der Mozart«, sagt Athanasios und zeigt auf ein ungepflegtes Grab mitten am Weg.
»Aha. – Bist du eigentlich Grieche?«, fragt sie.
»Ist das wichtig?«, fragt er zurück. »Nein, ich bin kein Grieche.«
»Warum hast du dann den Namen?«
Er zieht die Schultern hoch und senkt sie wieder. »Keine Ahnung. Hat meinen Eltern wohl gefallen.«
Hier wird mit dem Friedhofsbeispiel zum ersten, aber nicht zum letzten Mal gezeigt, daß Athanasios in der Lage ist, Anna Irene die Angst zu nehmen. Damit wird er nicht auf die Funktion reduziert, sondern es ist ein Beweis für Vertrauen – jemand, dem ich nicht vertraue, kann mir wohl schwer die Angst vor etwas nehmen.

sim schrieb:
Zwar steht in der Geschichte, Anna Irene freundet sich rasch mit ihm an, er geht ja auch mit ihr ins Kino, öffnet ihr Welten und Drogen, aber sie vertraut ihm nicht.
Wo liest du denn was von Drogen?
Wenn man jemandem nicht gleich alles erzählt, heißt es nicht, daß man ihm gar nicht vertraut, zumal es sich beim Nichterzählten ja auch um etwas handelt, was Anna Irene selbst verdrängen wollte.

sim schrieb:
Bei ihm ist vom letzten Besuch um Prater die Rede, nicht vom Abschied, nicht davon, ihn zu vermissen. Eher erscheint er als der, der sie bei aller Freundschaft letztlich verführt hat, nicht zum Sex, sondern zum Schuleschwänzen, zu verbotenen Filmen, zum Ausstieg. Er lässt sie Sorgen und Ängste vergessen, aber von Zuneigung ist im Text nicht die Rede.
Meinst du, die beiden haben deshalb so viel gemeinsam unternommen, weil sie sich gegenseitig nicht ausstehen konnten?
Vom letzten Besuch im Prater ist die Rede, weil das etwas war, wo sie gemeinsam Spaß gehabt haben. Beide haben dabei ihre Sorgen vergessen. Ein Kind, das dermaßen oft die Schule schwänzt, hat immer Sorgen, das gilt genauso auch für Athanasios, auch wenn sie nicht dargestellt werden, weil ja beide ihre Sorgen gemeinsam verdrängt und nicht darüber gesprochen haben. Sie brauchten beide die Flucht vor der Realität, zumindest für ein paar Stunden in der Woche.

Es wird auch nirgends im Text Athanasios die Schuld für Anna Irenes Ausstieg aus der Schule gegeben, sondern es wird deutlich gezeigt, daß es der Druck von Frau K. und Tante Dora waren, und die seelische Krise durch die Scheidung, die Anna Irene dazu gebracht haben.
Nirgends wird gesagt oder gezeigt, daß er sie verführt – sie machen alles gemeinsam. Und entschieden gegen deine Behauptung steht vor allem diese Stelle:

Am nächsten Tag erzählt sie Athanasios von ihrem Abenteuer, und da sie recht müde ist, sagt sie: »Ich geh heute Nachmittag sicher nicht turnen. Und du?«
Mal hat der eine es vorgeschlagen, mal der andere, und jeder der beiden hat sich jeweils selbst dafür entschieden. So, wie du es behauptest, wird es an keiner Stelle dargestellt.

Es wird Athanasios auch nicht negativ angekreidet, daß er Anna Irene zu dem »verbotenen Film« »verführt« hat, vielmehr steht da:

Anna Irene fühlt sich immer viel leichter, wenn sie aus dem Kino kommt, als ließe sie einen Teil ihres eigenen Schmerzes auf der Leinwand zurück.
Athanasios war eine Hilfe bei Anna Irenes Befreiung/Flucht, aber keineswegs darauf reduziert oder ein Verführer, wie du ihn beschreibst, das kann man wohl nur bei sehr oberflächlicher Lesart so sehen.
Auch in meiner Sektengeschichte heißt der Befreier Athanasios – was nicht grundlos geschah. Teilweise ist »Wo wir uns dann wiedersehen« ein Schlüssel für diese, was nicht heißt, daß man sie lesen muß, um diese zu verstehen, aber da du sie ja gelesen hast, kann ich mich über die Fehlinterpretation wirklich nur wundern.

sim schrieb:
Und Nina, eine Ikone der Hoffnung, auf die Freiheit reduziert.
Es wird in der Geschichte gezeigt, welches Denken Nina in Anna Irene auslöst, welchen Einfluß ihre Worte auf die mittlerweile Vierzehnjährige haben. Sie gibt ihr Hoffnung und spricht ihr Mut zu, und sie sagt zu ihr:
»Ich weiß, dass du es schaffst, das höre ich aus deinen Worten. Du darfst nur nie aufgeben
Besonders am Schluß wird noch einmal deutlich, was sie Anna Irene damit an Glauben an sich selbst schenkt, indem sie ihr zeigt, daß sie an sie glaubt, da kann man doch nicht von Reduktion sprechen. Das ist doch eins der besten und wertvollsten Dinge, die ein Mensch dem anderen überhaupt geben kann, und wenn man da etwas anderes als Dankbarkeit dafür in den Text liest, dann wohl deshalb, weil man etwas anderes lesen will.
»auf die Freiheit reduziert« – laß dir das mal langsam auf der Zunge zergehen!

sim schrieb:
Der Text erzählt also etwas zwischen den Zeilen, etwas das Anna Irene noch mehr zum Opfer aller macht, aber auch etwas davon, dass sie sich dazu förmlich anbietet. Und etwas davon, dass Opfertum nie unschuldig bleibt, weil es die Liebesfähigkeit ruiniert und alle Menschen, gerade die, die als wichtig eingestuft werden, nur auf den Schutz reduziert, den sie bieten. Das ist durchaus nachzuvollziehen.
Wie gesagt und aufgezeigt: Weder steht etwas von »Opfer aller« im Text, noch werden die Menschen so reduziert, wie du sie sehen willst. Und es macht sich niemand schuldig, indem er Schutz bei Menschen findet, die er mag.


Danke für deine stilistischen Anmerkungen, ich werde sie mir beim Überarbeiten zu Herzen nehmen.

sim schrieb:
Kabeltrasse oder wirklich Kabeltasse?
So etwas nennt man Kabeltasse.

sim schrieb:
und musste sie die Arbeit nun schreiben?
Ja, daß der Test eine Woche später stattfand, scheint bei den letzten Überarbeitungen verlorengegangen zu sein, eigentlich stand das schon drin. Kommt bei der Überarbeitung wieder hinein.

Ich sehe gerade, du hast einen Tag nach dem Posten noch einmal editiert und einen Absatz hinzugefügt. Ob du sonst was verändert hast, werde ich jetzt nicht Wort für Wort vergleichen, ich hab mir die Kritiken schon am Freitag ins Word kopiert.

Das Ende ist tatsächlich ohne die ganzen Erzählungen zuvor nicht zu verstehen. Besonders der Missbrauch durch die Partei ist dafür wichtig.
Danke für die Bestätigung.

sim schrieb:
Das Ende ist aber auch ohne Kenntnis der 19 vorangegangenen Folgen nicht zu verstehen. Denn angesichts der Reaktion Frau K.s könnte man sonst den Eindruck bekommen, die Angst Anna Irenes davor sei nur fantasiert gewesen. In dem simplen Satz, sie entspräche allen Erwartungen, wird das Ausmaß dessen was geschieht nicht im geringsten deutlich, schon gar nicht für jemanden, der die anderen Folgen nicht kennt.
Das kann ich natürlich beim Überarbeiten deutlicher machen. Ich habe mich bewußt zurückgehalten, weil bei den vorigen Geschichten immer wieder Kritiker meinten, das wüßten sie mittlerweile und müßten es nicht ständig wieder hören.

sim schrieb:
Frau K. erweist sich auf einmal als Pragmatikerin. Das dominiert so, dass ich zwei Mal lesen musste, um zu begreifen, dass das erst die Reaktion am nächsten Tag war. Und in diesem Pragmatismus wird der gleiche Missbrauch durch die Partei als Fortsetzung angekündigt.
Ja, der Schluß sagt aus, daß damit der Einfluß der Parteitante nicht zuende ist. Das kann sowohl als Schluß für eine einzelne Geschichte stehen, als auch als Vorschau für die Fortsetzung gesehen werden, in jedem Fall ist es eine Aussage, die für sich steht.

Grüße,
Susi

Liebe Kerstin!

Freut mich sehr, daß Du die Geschichte gelesen und mir einen Kommentar geschrieben hast! :)

katzano schrieb:
(s. zum Beispiel lakita und sim), was ich unterschreiben kann.
Da die beiden sehr unterschiedliche Stellungnahmen abgegeben haben, würde mich natürlich sehr interessieren, wem von beiden. Aber noch besser würde mir Deine Meinung in Deinen eigenen Worten gefallen. ;)

katzano schrieb:
Für den Leser ist der Text tatsächlich recht eintönig und berichthaft. Ich habe mich vor einigen Tagen auch mehr durchgekämpft, als dass ich Wort für Wort verschlungen hätte. Tut mir leid. Das Thema hat mehr verdient. Aber die besten Hinweise haben sim und lakita schon gegeben, ich würde sie nur wiederholen.
Ich werde versuchen, sie leserfreundlicher zu machen, und würde mich freuen, wenn Du dann Deine Meinung dazu sagen könntest.

katzano schrieb:
Aber ich habe noch eine zusätzliche Anmerkung. Dazu möchte ich vorwegschicken, dass ich bisher nicht alle Anna-Irene-Folgen zur Gänze gelesen habe. Jeder Teil soll ja für sich genommen funktionieren. Im Großen und Ganzen funktioniert das hier auch. Aber in einem Punkt meiner Ansicht nach nicht so gut. Du schilderst oft die Angst von Anna Irene vor Frau K., besser gesagt: Du sagst oft, dass sie Angst hat, ohne diese Angst wirklich zu zeigen (außer an einigen wenigen Stellen). Die ganze Zeit tut Frau K. aber nichts, um diese Angst vor körperlichen Strafen zu rechtfertigen - zumindest bis kurz vor Schluss und gefühlte 60 Seiten lang nicht. Und dort wird es nur kurz gestreift ("Frau K. geht auf sie los" - wie muss ich mir das vorstellen?). Hier sind dann doch die anderen Anna-Irene-Folgen Voraussetzung, ansonsten fragt man sich die ganze Zeit, was Anna Irene denn zu ihren Ängsten getrieben hat. Das hinkt in dieser Geschichte und müsste noch aufgegriffen werden - obwohl ich insgesamt denke, dass die Geschichte deutlich gekürzt werden müsste.
Wie schon oben gesagt, hab ich mit der körperlichen Gewalt hier gespart und mehr die psychische in den Vordergrund gestellt, weil ich schon öfter zu lesen bekam, daß die Leser das mittlerweile wüßten. Ich hab hier immer das Problem, neuen Lesern genug mitzuteilen, ohne regelmäßigen oder fallweisen Lesern mit Wiederholungen auf die Nerven zu gehen.
Ich kann dem zwar nicht wirklich ganz zustimmen, weil mit dem Stoßen gegen Türstöcke, Türschnallen oder Möbelstücke und ihren Drohgebärden die Gewalt meiner Ansicht nach genug repräsentiert wird, aber es ist natürlich auch ungeschickt, daß ich mit einem Beispiel beginne, bei dem sie nur droht und die Gewalt selbst ausbleibt. Daß da nur jemand, der schon andere Folgen kennt, weiß, wovor Anna Irene sich fürchtet, kann ich nachvollziehen und werde das bei der Überarbeitung miteinbeziehen. Daß sie dabei kürzer wird, glaub ich nicht, aber vielleicht werden ja die gefühlten Seiten weniger. ;)

katzano schrieb:
Ich hoffe, du kannst mit den Anmerkungen etwas anfangen.
Bestimmt, und danke dafür! :)

Liebe Grüße
Susi :)

 

Liebe Susi,

zunächst liegt mir auf dem Herzen, ein wenig zwischen dir und sim zu vermitteln, denn ich kann deine Position gut verstehen, aber auch seine.

Gewiss hat er es fokussiert dargebracht, indem er von Missbrauch schrieb, und ich ahne, dass dir das weh tut, weil du Anna Irene eben als Opfer siehst und nicht als Missbrauchende.
Das Ganze ist vielschichtiger und komplexer und da ich weiß, dass sim keineswegs zu den Unterbelichteten gehört, denke ich, er hat hier einen Teil der Komplexität bewusst ausgeblendet, aus welchen Gründen nun auch immer.

Wenn du dir eine kleine zarte gebrechliche Frau vorstellst, mag sie nun jung oder alt sein, ist völlig egal, die in eine bedrohliche Situation gerät, in welcher sie kräftig und stabil sein müsste, es aber nicht ist, dann ist sie zweierlei: sie ist höchst bedürftig und sie ist anfällig, sie benötigt also dringend Schutz und ist zugleich gefährdet als Opfer.

Wenn sich so eine Frau einen Mann sucht, der sie beschützen kann, weil er über Kräfte verfügt, dann geschieht zweierlei mit ihm: er beschützt sie, schützt sie also davor ,Opfer zu werden und gleichzeitig übernimmt er die Verantwortung, dass ihr nichts geschieht. Geschieht ihr nämlich etwas, dann fällt es auf seine Nachlässigkeit zurück.
Seine Beschützerrolle hat also nicht nur etwas Heldenhaftes, Glorreiches, sondern auch Belastendes, weil er nämlich nun auch unter den Druck gerät, nichts Bedrohliches an die zerbrechliche kleine Person ranzulassen und sie keiner Gefahr auszusetzen. Er ist mehr gefordert als jemand, der grad zufällig sieht, dass jemand in Not ist und kurz eingreift und danach weiterziehen kann.

Die zerbrechliche bedürftige Person ist also schuldig an einem Zustand, den sie vielleicht nicht bewusst herbeiführen wollte, den sie aber verursacht hat, nämlich darin, dass sie als Schutzsuchende den anderen unter Druck setzt für sie mehr zu tun als nur eine kurzzeitige Gefahr abzuwenden. Und das solange wie sie schutzbedürftig ist.
Und genau hier beginnt aus meiner Sicht (sim mag das vielleicht noch anders sehen) eine Form von Missbrauch.
Immer dann, wenn Hilflosigkeit ein Dauerzustand ist, übt der Hilfebedürftige missbräuchlich Druck aus. Denn er verändert an seinem Zustand nichts. Das Opfer wird zum Täter, ohne sein Opferdasein zu verändern.

Je hilfebedürftiger ein Mensch ist, desto eher verliert sich das Gefühl für seinen Partner, er werde um seiner selbst Willen begehrt und geliebt, desto eher mag er vermuten, er werde geliebt, weil er gewisse wichtige Funktionen für den anderen erfüllt.
Das geht so lange gut, wie beide das nicht erkennen oder die Balance dadurch gewahrt ist, dass auch der Schutzgebende von dem starken Bedürfnis getragen wird, helfen zu müssen.
Das Defizit des einen, ist die Stärke des anderen und so fassen die Teile wie Haken und Öse ineinander. Gerät dieser Zustand aus der Fassung fühlt sich der eine verloren und aufgegeben, der andere unter Druck gesetzt und missbraucht.

Vielleicht haben meine Worte dir ein wenig helfen können.

In deiner Erwiderung zu meiner Kritik fragst du, ob das Ereignis, dass Joe sich scheiden lässt, auch nur eines unter vielen war. Ja, stimmt! Es war kein herausragendes Ereignis, sondern eines von all den schlimmen Ereignissen, die da geschahen.

Ich glaube, liebe Susi, das Hauptproblem eine spannende Geschichte aus dieser Anna Irene Serie zu machen, besteht darin, dass noch nicht genügend emotionaler Abstand erworben wurde.
Das ist in Anbetracht der Wuchtigkeit der widrigen Ereignisse keinesfalls verwunderlich.

Ein wenig muss ich an diejenigen Autoren denken, die ab und zu hier auf kg auftauchen und unter Romantik/Erotik eine traurige Geschichte über eine zerbrochene Liebe mit anschließendem Selbstmord(versuch) schildern.
Man spürt meist, wenn man solche Geschichten liest, dass der Autor immer noch Herzklopfen hat, wenn er an die verflossene Person denkt und man möchte am liebsten gar nichts zu der Geschichte sagen und sondern dem Autor den Rat geben, eine Weile abzuwarten, weil die Zeit sehr viel Leid und Kummer wieder vergessen lässt.

Damit werde ich dir hier nicht kommen. Deine Anna Irene Geschichten gehören so geschrieben, wie sie da nun stehen. Sie sind eine Art Abrechnung, Auflistung, Kundbarmachung der widerlichen Taten einer ungeliebten Person und das Abschneiden, Kürzen oder Verseichten irgendwelcher Begebenheiten würde der Sache nicht gerecht werden.
Schließe die Kapitel ab, schreibe, was du noch schreiben musst und bewahre alles gut auf.

Und dann fange an, Geschichten zu schreiben. Über kleine Begebenheiten, kleinste Lebensausschnitte eines Mädchens, das nichts anderes wollte als endlich von der Mutter geliebt werden und das sich immer wieder bei diesem Versuch die Nase blutig stößt. Schreibe in diesen kleinen Geschichten für den Leser!

Lieben Gruß
lakita

 

Liebe Häferl,

nur kurz, da ich gleich zur Arbeit muss.

Und es macht sich niemand schuldig, indem er Schutz bei Menschen findet, die er mag.
Das habe ich nirgends behauptet. Um eine Schulddimension ging es mir nicht.
Es ist schade, dass du nicht hinsiehst und auch die wichtigsten Passagen meines Kommentars nicht gelesen hast oder ignorierst, denn ich habe mindestens einmal betont, dass dieses Verhalten nachzuvollziehen ist (und ich Anna Irene eben deshalb keinen Vorwurf daraus mache).
Ich habe im Gegensatz zu deiner Auffassung, ich würde Launen auslassen, nämlich auf deine dringende Insistenz hin, das ausgedrückt, was ich an dem Text sehr positiv finde. Aufzuzeigen, wie Missbrauch sich fortsetzt. Wie Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen manchmal nicht anders können.
Nun liegt es natürlich an dir, Lob anzunehmen oder das Kind lieber in der ausschließlichen Opferposition zu belassen.
Oder verändert es die Haltung von zum Beispiel Hannes, wenn man betrachtet, welche 10 Prozent Anna Irene vielleicht hatte? Wird er, wenn man schon in solchen Dimensionen denken möchte, dadurch weniger schuldig?

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Häferl,

Ich hab diesen geballten Absatz, den sim da hingeschrieben hat, selbst beim zweiten Lesen nicht wirklich verstanden ... oder aber eine völlig andere Auffassung von dem Begriff „Missbrauch“. Wenn jemand Schutz oder Hilfe sucht, ist das kein Missbrauch – da wird die Bedeutung dieses Wortes völlig verdreht.
Natürlich kann ich eine vollig andere Auffassung des Begriffs Missbrauch haben, als jene mir unbekannte Person. Aber ich bin mir nicht bewusst, geschrieben zu haben, es sei Missbrauch, jemanden um Hilfe zu bitten und sich deshalb an eine Person zu wenden, die einem dafür kompetent und vertrauenswürdig erscheint. Und in bestimmten Sachgebieten ist dabei die Reduzierung auf die Hilfeleistung sogar üblich. Wenn ich zum Friseur gehe, ist dies erst einmal der Mensch, der mir die Haare schneidet.
Wenn sich darüber hinaus ein Vertrauensverhältnis bildet, liegt es an der menschlichen Sympathie, die auf Gegenseitigkeit beruht. Und diese Gegenseitigkeit fehlt mir in den Beschreibungen der Beziehungen. Selbst bei Onkel Jo, dem wichtigsten von allen, habe ich kein Bild vor mir. Ich habe nicht ignoriert, dass sie zusammen etwas erlebt haben, dass Anna Irene durch ihn Handwerken gelernt und eine Begabung entdeckt hat, die später die missbrauchende Partei für sich vereinnamt hat. Aber das Mädchen hat trotzdem bei der Dominanz der Mutter keine Chance, eine freie "Aoptivbeziehung" zu ihm einzugehen. Sie lernt auch in dieser Beziehung ständige Unsicherheit. Das Gefühl "Verlass mich nicht" ist ja schon lange da, bevor er geht. Und in der Betonung dieser Geschichte, im Hauptaugenmerk, ist dieses Gefühl an die Hilflosigkeit Frau K. gegenüber gebunden. Solange er sie vor ihr beschützt, hätte er alles mit ihr machen können, auch sie missbrauchen. Das meine ich damit, wenn ich sage, es ging nicht um ihn, nicht um die Tätigkeiten, die sie gemeinsam unternommen haben, es ging in allem um "Ruhe vor Frau K.", ein berechtigter Wunsch, natürlich, das streite ich nicht ab, aber auch ein reduzierter Blick.
Aber daß es um Onkel Joe auch als Mensch ging, geht doch wohl z. B. daraus hervor, daß sie sogar seine Bücher liest, um sich mit ihm verbunden zu fühlen
in der langen Geschichte ist hier von diesen Büchern die Rede.
Außer Hennen gab es dort auch verschiedene Obstbäume, einen riesigen Himbeerstrauch und Gemüsebeete im Garten, eine Werkstatt, in der Anna Irene Sägen gelernt hat, und im Haus Onkel Joes Jugendbücher samt einer kompletten Karl-May-Sammlung, in der Anna Irene immer gerne ein paar Seiten gelesen hat, wenn sie im Winter vom gemeinsamen Schneemännerbauen bereits genug hatte. Sie las diese Bücher als etwas, das sie mit ihrem Onkel Joe verbindet, weil er sie ebenfalls gelesen hat.
Erst sind es nur ein paar Seiten Karl May, dann ein Satz als wertende Behauptung eines allwissenden Erzählers. Welcher Eindruck festigt sich da wohl?
Warum unterstellst Du Anna Irene hier mißbrauchende Absichten?
Ich unterstelle ihr gar keine Absichten. Missbrauch ist für mich eindeutig nicht von Absicht abhängig. Ab späterer Stelle für dich ja auch nicht.
Zweckdienliche statt herzliche Geschenke.
Ausschlaggebend ist natürlich, dass AI es so erlebt hat, alles andere ist irrelevant.
Natürlich ist er ein Rettungsanker, trotz des Mißbrauchs, aber daraus einen Mißbrauch abzuleiten, ist schon wieder sehr verbogen. Auch hier gilt das bei Onkel Joe Gesagte. Und: Anna Irene hat sich in Hannes verliebt, als sie noch gar nicht wissen konnte, welche Vorteile er für sie bringt. Und jeder andere hätte die Vorteile in der Situation wohl auch angenommen. Oder hättest du zu deiner Mutter gesagt »Nein, die Freiheiten will ich nicht, du gibst sie mir ja nur wegen xy. Ich bleibe lieber zuhause, damit ich jederzeit für dich greifbar bin«?
Nein, warum sollte ich?
Hannes ist bald Anna Irenes erster »richtiger« Freund, und Frau K. hat nichts dagegen, dass sie mit ihm manchmal Stunden in seiner Wohnung zubringt, obwohl sie erst dreizehn ist. Er darf Anna Irene, im Gegensatz zu ihren Schulkollegen, sogar zuhause besuchen, und Frau K. klopft an, bevor sie ins Zimmer kommt. Schließlich ist Hannes von der Partei.
Und woraus sollte ich entnehmen, wann sie sich verliebt hat?
Hier ignorierst du einfach, daß Hannes angehender Sozialarbeiter war und daher gerade über diese Dinge sehr gut Bescheid wußte.
Zitat von sim
Auch Hannes muss als Jugengruppenleiter davon gewusst haben
Ich finde keine Worte, wie ignorant ich bin.
Stellen wie diese ignorierst du einfach:
Warum wohl stellt er ihr analytische Fragen, die ihm ihr Inneres zeigen, ohne ihr zu sagen, worum es geht? Bestimmt, weil er so gar nicht wußte, was er tut …
der sich nicht schämt, einem dreizehnjährigen Mädchen vorzurechnen, warum sie jetzt mit ihm schlafen müsste, entgegen ihres Gefühls
Ja, wirklich unglaublich ignorant.
Noch einmal: Ich habe nie bestritten, dass Hannes über die Gesetzeslage Bescheid wusste. Ich habe auch nie bestritten, dass AI hier Opfer war, ich habe lediglich darauf hingewiesen, dass sie sich (und auch das, weil sie durch die dominate Mutter entsprechend geprägt war) als dieses Opfer quasi angeboten hat. Was ist so schlimm daran, auf diesen Teil zu schauen? Was ist so schlimm daran, auf den Teil zu schauen, der die Beziehungsfähigkeit des Mädchens korumpiert hat, wenn er doch in dieser Geschichte deutlich wird? Normalerweise freuen sich Autoren, wenn man ihren Geschichten über den Opferstatus zusätzliche inhaltliche Tiefe unterstellt.
Fast alle Jugendlichen nehmen sich gegenseitig Musik auf, ohne daß dabei von Mißbrauch die Rede ist, viele Mädchen borgen sich untereinander Gewand aus, das ist völlig normal, und gerade in dem Alter definieren sich Freundschaften oft über gemeinsame Interessen und Vorlieben. Man hört dieselbe Musik und fühlt sich verbunden, man kleidet sich gleich oder ähnlich, um Verbundenheit zu zeigen.
Ja, aber fast keiner sieht das zwangsläufig immer und immer wieder im Fokus Frau K.
Du hättest sicher auch nicht gesagt: »Nein, nimm mir das bitte nicht auf, ich will dich nicht mißbrauchen, und auch dein Hemd will ich nicht, sonst kommt noch jemand auf die Idee, ich würde dich darauf reduzieren.« Oder vielleicht so: »Ich will nichts von dir annehmen, nur weil dir deine Eltern alles erlauben.«
Nein, natürlich nicht, aber darum geht es doch auch gar nicht. Es geht darum, dass sie gesichtslos bleibt.
Hier wird mit dem Friedhofsbeispiel zum ersten, aber nicht zum letzten Mal gezeigt, daß Athanasios in der Lage ist, Anna Irene die Angst zu nehmen.
Eindeutig nicht. Nur, dass er Anna Irene überreden kann. Wie soll ich "Angst nehmen" und "mitlaufen" unterscheiden, wenn das Mädchen doch eigentlich nie widerspricht? Gut, das Wort Pausenclown war in sofern nicht treffend, dass es meistens dunkle Dinge sind, die beide miteinander teilen. Friedhof und vor allem dieser Film. Und trotzdem bleibt der Eindruck, das Mädchen hat hier ihren engsten Seeleverwandten gefunden, ohne es zu bemerken. Es interessiert sich zwar dafür, ob er Grieche ist, aber anscheinend nicht dafür, ob er vielleicht zu Hause ähnliches erleidet wie sie.
Ein Kind, das dermaßen oft die Schule schwänzt, hat immer Sorgen, das gilt genauso auch für Athanasios, auch wenn sie nicht dargestellt werden
Genau darin liegt das Problem. Es entsteht der Eindruck, AI interessiert sich nicht einmal dafür.
weil ja beide ihre Sorgen gemeinsam verdrängt und nicht darüber gesprochen haben. Sie brauchten beide die Flucht vor der Realität, zumindest für ein paar Stunden in der Woche.
Das ist völlig legitim. Und trotzdem haben sie sich gegenseitig eben zum Vergessen benutzt. Das ist keine Schuldzuweisung, wahrscheinlich hatten beide keine andere Möglichkeit.
Es wird auch nirgends im Text Athanasios die Schuld für Anna Irenes Ausstieg aus der Schule gegeben, sondern es wird deutlich gezeigt, daß es der Druck von Frau K. und Tante Dora waren, und die seelische Krise durch die Scheidung, die Anna Irene dazu gebracht haben
Auch das habe ich nicht behauptet.
Es wird Athanasios auch nicht negativ angekreidet, daß er Anna Irene zu dem »verbotenen Film« »verführt« hat, vielmehr steht da:
Auch das habe ich nicht behauptet, jedenfalls nicht in negativer Konnotation, die sich auf ihn bezieht. Verführen ist nicht immer negativ und ich habe dazu geschrieben:
Er lässt sie Sorgen und Ängste vergessen
und
Dabei scheint er der zu sein, der sie am besten versteht, sie einfach nimmt, wie sie ist, fast ein Seelenverwandter. Der einzige, der frei ist von der Dominanz Frau K.s.
Athanasios war eine Hilfe bei Anna Irenes Befreiung/Flucht, aber keineswegs darauf reduziert
Ein Wort zu Neurosen im Allgemeinen. Unsere Seele entwickelt sie als Schutz. Wir müssen ihnen also dankbar sein, weil wir vielleicht ohne sie nicht überlebt hätten. Werden wir aber erwachsen, bleibt der Schutz erhalten, obwohl er nicht nur unnötig wird, sondern uns sogar behindert, uns und möglicherweise auch anderen schadet. Wenn mein Hinweis, deine Geschichte würde auch darüber handeln, Anlass zu dem Spott ist, den du hier ausschüttest, sei es dir gegönnt.
So etwas nennt man Kabeltasse
Danke, das kannte ich nicht.
Wundern tut er mich allerdings nicht, denn du hast mir ja angekündigt, daß du deine Launen in der Kritik auslassen wirst.
Wenn mir jemand eine PN oder Mail mit der Aufforderung schreibt, mir doch mal seine Geschichte anzusehen, komme ich dem in den meisten Fällen nach, wenn es meine Zeit erlaubt. Wenn mir jemand eine PM oder Mail schreibt, mir seine Geschichte vorab durchzulesen, um dann möglichst schnell einen Kommentar dazu zu schreiben, der anderen Lust macht, die Geschichte zu lesen, kann ich dem nicht nachkommen. Erstens weiß ich in dem Moment, in dem ich mir die Geschichte schicken lasse, nicht, wie ich sie finde. Zweitens kann ich mir nicht den Inhalt meiner Kritik vorschreiben lassen. Wenn mir dieser jemand dann nach einer Woche und einer ausführlichen Kritk per Mail, nachfragt, wo denn meine versprochene positive Kritik bliebe, kann ich nur zurückfragen, ob die schon per Mail erhaltene negative Kritik wirklich in dessen Sinne ist, wenn er dann weiter bohrt, ich könnte aber doch auf diese oder jene Aussage hinweisen, auf die die anderen User noch nicht gekommen sind, finde ich die Ankündigung, wie meine Kritik aussehen würde, nur fair.
Verbiegen musste ich dazu nichts. Ich musste nur den Text lesen.
Das Traurigste daran aber ist, wenn ich dem Wunsch nachkommen würde, wüsste der Bittsteller nie, ob ich auch ohne Bitte eine positive Kritik geschrieben hätte. Es mag ihn für den Moment befriedigen, auf lange Sicht aber nicht, weil die Art des Zustandekommens immer Zweifel offen lässt.
Es geht also nicht um Launen, sondern ganz schlicht und einfach darum, mich gegen ein Spiel wehren, bei dem es nur Verlierer gibt. Ein Spiel, das Anna Irene nicht anders lernen konnte, das dich jetzt aber behindert und dir Freundschaften zerstört.

Lieben Gruß
sim

 

wo denn meine versprochene positive Kritik bliebe
Erstens einmal ging es mir beim Vorab-Lesen darum, daß ich nicht tagelang auf den ersten Kommentar warten muß, weil mich das immer ziemlich fertig macht. Zweitens ging es später darum, daß Du in Deiner Mail Dinge geschrieben hast, die die anderen Leser offenbar nicht entdeckt haben, und deshalb hab ich Dich darum gebeten, es auch hier zu schreiben. Eigentlich hättest Du es ja nur kopieren müssen, aber hier hast Du dann ziemlich andere Dinge geschrieben - von Deiner Laune geprägte. Sowas nenne ich sowieso keine Freundschaft.

 

Ich hätte es gar nicht kopieren können, da ich Mails nicht aufbewahre.
Und leider setzt du dich nicht inhaltlich auseinander.
Ob es darum ging, nicht tagelang auf den ersten Kommentar zu warten ist irrelevant. Es ging darum, etwas zu kontrollieren, was nun einmal nicht zu kontrollieren ist. Das Warten auf die erste Kritik und darauf wie sie ausfällt.
Bei dem Spiel konnte ich nur als der Verräter enden, als den du mich jetzt offenbar siehst. Entweder ich verrate mich oder ich verrate dich. Ist diese Entscheidung fair?

 

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