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Anna Irene: 1. Februar 1965, eiskalt – 1. Teil, überarbeitet
Frau K. toupiert ihre modisch kurz geschnittenen Haare. Mühsam ist das schon, mit dem Bauch. Schnell noch Taft darübersprühen, ordentlich von allen Seiten, und mit den Fingern etwas zurechtzupfen – so passt es. Jetzt kann sie gehen.
Draußen weht ein eisiger Wind, die Natur ist zugefroren, und Frau K. flucht vor sich hin, weil der Mantel nicht mehr richtig zugeht. Es ist schon wieder ein Knopf abgerissen. Sie hat sich das ja nicht ausgesucht. Aber sie muss es jetzt ausbaden, nein, austragen. Dieses Kind. Sie wollte ja gar nicht, an jenem Abend. Sie machte bloß mit, als ordentliche Ehefrau. Schon allein deshalb, weil sie es nicht ertragen hätte, wenn er dann vielleicht irgendwo mit einer anderen …
Aber sie kann ja nichts dagegen tun, muss sich damit abfinden, noch ein Baby zu bekommen. – Diesmal haben sie vorsorglich auch einen Mädchennamen ausgesucht. Beim ersten Kind war das schon sehr komisch. Wer konnte denn wissen, dass es kein Bub werden würde? Als die Krankenschwester fragte, welchen Namen sie denn aufschreiben solle, wussten sie keinen. Zum Glück sprang der frischgebackene Opa ein und erinnerte sich an eine Jugendliebe: Astrid. Und so nannten sie ihre erste Tochter dann auch, um dem Opa einen Gefallen zu tun und um das Problem erledigt zu haben.
Bei diesem Kind aber haben sie sich besser vorbereitet: Es soll Anna Irene heißen, wenn es ein Mädchen wird und Florian, sollte nun doch ein Bub geglückt sein. Wenn es nur schon endlich draußen wäre. Dieser störende Bauch behindert sie bei vielen Dingen. Sie fragt sich oft, warum sie das alles mitmachen muss – ausgerechnet sie?
Trotz der anstrengenden Zeit will sie sich diesmal nicht von ihrer Schwiegermutter helfen lassen. Was dabei herauskommt, wenn die zuviel Einfluss hat, sieht sie ja bei Astrid: Ein richtiges Oma-Kind ist sie geworden. Zuhause bockig, aber bei der Oma brav.
Heute Morgen hat Frau K. im Spiegel entdeckt, dass das Weiße in den Augen nicht weiß ist, sondern gelb. Schnell zum Arzt, dachte sie und griff zu ihrem Kamm.
Sie sitzt bereits eine Stunde in dem kahlen, kalkweißen Wartezimmer ihres Hausarztes, als sie endlich an die Reihe kommt. Sie drängt sich nämlich nie vor, um nicht negativ aufzufallen. Ein ergrauter Mann in weißem Mantel blickt über den Brillenrand und schickt sie wieder nach Hause. »Das ist doch völlig normal in der Schwangerschaft«, beruhigt er sie. Frau K. vertraut ihm, schließlich hat er ja schon viel Erfahrung, und sie bedankt und verabschiedet sich höflich.
Das Warten auf den Bus wird ihr lästig, vom Stehen bekommt sie Kreuzschmerzen. Sie macht sich sofort wieder bewusst, dass sie diese nicht hätte, wenn sie nicht schwanger geworden wäre. Zum Glück kommt der Bus schon. Sie steigt ein, setzt sich aber nicht, denn sie fährt ja ohnehin nur zwei Haltestellen. Da wäre das Wieder-Aufstehen anstrengender als das Stehenbleiben. Ein Mann um die vierzig schaut ihr in die Augen. Sie findet es erst schmeichelhaft, ihr Blick haftet kurz an seinen tiefen, dunklen Augen, dann dreht sie sich schnell wieder weg, wie kann sie einem fremden Mann so in die Augen sehen … Wenn das jemand bemerkt hätte …
Plötzlich spürt sie seine Hand auf ihrer Schulter, gleichzeitig spricht er sie an: »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht verlegen machen, es ist nur … Ich bin Arzt. Ihre Augen … Sie müssen ganz dringend ins Krankenhaus, Sie haben vermutlich Gelbsucht! Ich begleite Sie dorthin.«
Die beiden steigen an der nächsten Haltestelle aus und gehen in die nahegelegene Landesfrauenklinik.
Der diensthabende Arzt bestätigt den Verdacht nach einer Untersuchung: infektiöse Gelbsucht. Er bringt Frau K. sofort in den Kreißsaal, wo sie sogleich an eine Infusion angeschlossen wird, die die Geburt einleitet. Sie ist im achten Monat und Anna Irene will noch gar nicht heraus. Doch was hilft alles Wehren, wenn die Chemie das Ihre tut. Sie muss raus, ob sie will oder nicht. – Es ist kalt.
Hebamme und Krankenschwester wiegen, messen und reinigen das kleine Bündel Mensch – zur kranken Frau K. darf es nicht. Von den Schwestern bekommt Anna Irene fünfmal am Tag eine Flasche und zu fixen Zeiten eine frische Windel. Frau K. wird in ein anderes Krankenhaus überstellt, um die Gelbsucht auszuheilen.
Das Personal im Krankenhaus ist überlastet und Anna Irene hört bald zu schreien auf. Es kommt ja doch niemand.
Die Oma will ihr kleines Enkelkind zu sich nehmen, solange Frau K. krank ist. Doch diese sagt, ihre Schwiegermutter habe schon zu viel zu tun, da sie ja in der Zeit auch für Astrid sorgen müsse, und das würde sie doch nicht alles schaffen. Die Oma wehrt sich, sie habe selbst fünf Kinder gehabt, da wäre das doch ein Leichtes… Ihr Widerstand wird ignoriert.
Frau K. lässt Anna Irene in einem Kloster im Süden Oberösterreichs abgeben, wo sie die Zeit bis zur Gesundung ihrer Mutter verbringen wird.