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Serie Anna Irene: 1. Februar 1965, eiskalt – 1. Teil, überarbeitet

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20.11.2001
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Anna Irene: 1. Februar 1965, eiskalt – 1. Teil, überarbeitet

Frau K. toupiert ihre modisch kurz geschnittenen Haare. Mühsam ist das schon, mit dem Bauch. Schnell noch Taft darübersprühen, ordentlich von allen Seiten, und mit den Fingern etwas zurechtzupfen – so passt es. Jetzt kann sie gehen.

Draußen weht ein eisiger Wind, die Natur ist zugefroren, und Frau K. flucht vor sich hin, weil der Mantel nicht mehr richtig zugeht. Es ist schon wieder ein Knopf abgerissen. Sie hat sich das ja nicht ausgesucht. Aber sie muss es jetzt ausbaden, nein, austragen. Dieses Kind. Sie wollte ja gar nicht, an jenem Abend. Sie machte bloß mit, als ordentliche Ehefrau. Schon allein deshalb, weil sie es nicht ertragen hätte, wenn er dann vielleicht irgendwo mit einer anderen …

Aber sie kann ja nichts dagegen tun, muss sich damit abfinden, noch ein Baby zu bekommen. – Diesmal haben sie vorsorglich auch einen Mädchennamen ausgesucht. Beim ersten Kind war das schon sehr komisch. Wer konnte denn wissen, dass es kein Bub werden würde? Als die Krankenschwester fragte, welchen Namen sie denn aufschreiben solle, wussten sie keinen. Zum Glück sprang der frischgebackene Opa ein und erinnerte sich an eine Jugendliebe: Astrid. Und so nannten sie ihre erste Tochter dann auch, um dem Opa einen Gefallen zu tun und um das Problem erledigt zu haben.
Bei diesem Kind aber haben sie sich besser vorbereitet: Es soll Anna Irene heißen, wenn es ein Mädchen wird und Florian, sollte nun doch ein Bub geglückt sein. Wenn es nur schon endlich draußen wäre. Dieser störende Bauch behindert sie bei vielen Dingen. Sie fragt sich oft, warum sie das alles mitmachen muss – ausgerechnet sie?
Trotz der anstrengenden Zeit will sie sich diesmal nicht von ihrer Schwiegermutter helfen lassen. Was dabei herauskommt, wenn die zuviel Einfluss hat, sieht sie ja bei Astrid: Ein richtiges Oma-Kind ist sie geworden. Zuhause bockig, aber bei der Oma brav.
Heute Morgen hat Frau K. im Spiegel entdeckt, dass das Weiße in den Augen nicht weiß ist, sondern gelb. Schnell zum Arzt, dachte sie und griff zu ihrem Kamm.

Sie sitzt bereits eine Stunde in dem kahlen, kalkweißen Wartezimmer ihres Hausarztes, als sie endlich an die Reihe kommt. Sie drängt sich nämlich nie vor, um nicht negativ aufzufallen. Ein ergrauter Mann in weißem Mantel blickt über den Brillenrand und schickt sie wieder nach Hause. »Das ist doch völlig normal in der Schwangerschaft«, beruhigt er sie. Frau K. vertraut ihm, schließlich hat er ja schon viel Erfahrung, und sie bedankt und verabschiedet sich höflich.

Das Warten auf den Bus wird ihr lästig, vom Stehen bekommt sie Kreuzschmerzen. Sie macht sich sofort wieder bewusst, dass sie diese nicht hätte, wenn sie nicht schwanger geworden wäre. Zum Glück kommt der Bus schon. Sie steigt ein, setzt sich aber nicht, denn sie fährt ja ohnehin nur zwei Haltestellen. Da wäre das Wieder-Aufstehen anstrengender als das Stehenbleiben. Ein Mann um die vierzig schaut ihr in die Augen. Sie findet es erst schmeichelhaft, ihr Blick haftet kurz an seinen tiefen, dunklen Augen, dann dreht sie sich schnell wieder weg, wie kann sie einem fremden Mann so in die Augen sehen … Wenn das jemand bemerkt hätte …

Plötzlich spürt sie seine Hand auf ihrer Schulter, gleichzeitig spricht er sie an: »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht verlegen machen, es ist nur … Ich bin Arzt. Ihre Augen … Sie müssen ganz dringend ins Krankenhaus, Sie haben vermutlich Gelbsucht! Ich begleite Sie dorthin.«
Die beiden steigen an der nächsten Haltestelle aus und gehen in die nahegelegene Landesfrauenklinik.

Der diensthabende Arzt bestätigt den Verdacht nach einer Untersuchung: infektiöse Gelbsucht. Er bringt Frau K. sofort in den Kreißsaal, wo sie sogleich an eine Infusion angeschlossen wird, die die Geburt einleitet. Sie ist im achten Monat und Anna Irene will noch gar nicht heraus. Doch was hilft alles Wehren, wenn die Chemie das Ihre tut. Sie muss raus, ob sie will oder nicht. – Es ist kalt.

Hebamme und Krankenschwester wiegen, messen und reinigen das kleine Bündel Mensch – zur kranken Frau K. darf es nicht. Von den Schwestern bekommt Anna Irene fünfmal am Tag eine Flasche und zu fixen Zeiten eine frische Windel. Frau K. wird in ein anderes Krankenhaus überstellt, um die Gelbsucht auszuheilen.
Das Personal im Krankenhaus ist überlastet und Anna Irene hört bald zu schreien auf. Es kommt ja doch niemand.

Die Oma will ihr kleines Enkelkind zu sich nehmen, solange Frau K. krank ist. Doch diese sagt, ihre Schwiegermutter habe schon zu viel zu tun, da sie ja in der Zeit auch für Astrid sorgen müsse, und das würde sie doch nicht alles schaffen. Die Oma wehrt sich, sie habe selbst fünf Kinder gehabt, da wäre das doch ein Leichtes… Ihr Widerstand wird ignoriert.
Frau K. lässt Anna Irene in einem Kloster im Süden Oberösterreichs abgeben, wo sie die Zeit bis zur Gesundung ihrer Mutter verbringen wird.

 

Hallo Ava und Kejakothie!

Euch beiden danke fürs Lesen und Kommentar-Schreiben! :)

@Kejakothie: Sorry, daß es so lang gedauert hat – geistig hab ich meine Antwort längst geschrieben, aber offenbar nicht gepostet. Hat mich jedenfalls sehr gefreut, was Du geschrieben hast. Und das mit den Schwestern siehst Du vermutlich richtig, das ist auch die Vermutung, zu der ich selbst in den letzten Jahren gekommen bin. :)

@Ava: Auch Deine Antwort freut mich natürlich sehr, auch wenn sie nicht so positiv ausfällt, aber ich sehe doch dran, daß Du Dir Gedanken gemacht hast. :)

Aus den anderen Kommentaren geht irgendwie hervor, dass die Geschichte wahr ist. Wenn sie aber wahr ist, woher hast du dann das Infomaterial? Also, ich meine, wenn du das Baby - also du bist schon das Baby und nicht Frau K., oder? - in dieser Geschichte bist, wer hat dir das alles erzählt, was da passiert war? Wohl wahrscheinlich eher nicht die Mutter selber, oder?
Doch, einige Details aus der Geschichte hat sie mir selbst erzählt. Sie mußte mir ja, als ich dann selbst schwanger war, unter die Nase reiben, wie schwer sie es mit mir gehabt hat. Und daß ich mir gleich einen besonders weiten Wintermantel zulegen muß, damit es mir nicht so geht wie ihr, und daß ich mir die Haare schneiden lassen muß, weil das Frisieren dann so anstrengend wird, usw.
Andere Dinge weiß ich von meiner Oma oder meinem Papa. Ich glaube, das ist nicht so schwer zu erraten, was aus welcher Quelle kommt. ;)
Und daß sie den Arzt im Bus so angesehen hat, hab ich natürlich erfunden, aber ohne Augenkontakt hätte der Arzt das ja schwer sehen können – und daß das auf jeden Fall in dem Bus war, hat sie mir selbst erzählt.
Die Sache im Wartezimmer sehe ich so, und deshalb ist sie auch so wertend: Es gibt dringende Fälle und es gibt Fälle, die warten können. Wenn es um das Leben meines Kindes geht, dann ist mir ganz sicher egal, wie viele da mit Schnupfen warten. Außer, das Leben des Kindes ist mir nicht wichtig genug.

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo nochmal, Ava!

dir die Chance geben, deine Glaubwürdigkeit mal richtig vor negativer Kritik zu beweisen, was du auch wie erwartet getan hast. Denn nur in einer Auslese trennt sich die Spreu vom Weizen.
Dankeschön. :) Dann gehöre ich jetzt also zum Weizen? ;)
Dazu fällt mir ein: Das Korn wird im Herbst reif. - Könnte ich jetzt angesichts meines Alters zu meiner Lebensphilosophie machen, aber zum Glück ist ja noch Sommer. :)

dass ich nicht vorhabe, mit den Wölfen zu heulen.
Sollst Du auch nicht, sagt das jemand? Jeder sollte seine Meinung sagen, und nicht die, von der er glaubt, daß sie irgendjemandem gefallen könnte, oder so.

Was die genaue Bedeutung dessen ist, was ich hier gerade schreibe, werdet ihr alle noch mitbekommen, sofern ihr das nicht schon getan habt.
Klingt ja fast wie eine Drohung. Bisher habe ich aber nur gesehen, daß Du sagst, was Du denkst, und damit mußt Du nicht drohen. ;)

Ich persönlich würde mich nicht trauen, solche Dinge von mir zu erzählen.
Einige finden das bestimmt mutig von dir, ich finde das etwas gedankenlos.
Ich hab keinen Grund, mich für das zu schämen, was mir angetan wurde - ich hab es mir nicht ausgesucht. Mich nicht getraut, oder besser gesagt, gar nicht daran gedacht, es jemandem zu erzählen, habe ich als Kind - zumindest soweit bin ich heute erwachsen. Ja, viele mit ähnlichen Erfahrungen schämen sich, und ich heule auch nicht mit den Wölfen.
Es geht mir aber auch um mehr, als darum, "Dinge von mir zu erzählen". Einer der Gründe ist zum Beispiel, anderen Opfern solcher Erziehungsmethoden Mut zu machen, ihnen zu zeigen, daß sie sich eben nicht schämen müssen.
Ich werde jetzt nicht alle Gründe aufzählen, aber gedankenlos mache ich das sicher nicht.
Aber Deine Sicht beruht natürlich auch darauf, daß Du noch nicht alles weißt - wir können darüber dann so zwischen Folge 30 und 40 weiterreden ... ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 
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Hallo Susi!

Ich habe bei deiner Geschichte das Gefühl, dass der oder die, die hier erzählt, ihre Protagonistin zu einem Forschungsobjekt macht. Das soll jemand ganz genau beobachtet werden, von außen, aber auch von innen. Genaueste Beobachtung aus der Distanz, die Erzählerin hält etwas in den ausgestreckten Händen und dreht es in alle Richtungen, stülpt es sogar um. Und das ist es auch, was die Faszination deiner Geschichte ausmacht. Denn es ergibt sich eine gute Spannung aus diesem distanzierten Blick der Erzählerin und der Innenschau der Frau K., die da und dort deutlich wird.

Das Warten auf den Bus wird ihr lästig, vom Stehen bekommt sie Kreuzschmerzen. Sie macht sich sofort wieder bewusst, dass sie diese nicht hätte, wenn sie nicht schwanger geworden wäre. Zum Glück kommt der Bus schon. Sie steigt ein, setzt sich aber nicht, denn sie fährt ja ohnehin nur zwei Haltestellen. Da wäre das Wieder-Aufstehen anstrengender als das Stehenbleiben.
Diese Stelle macht sehr schön die innere Stimme der Frau K. deutlich, dieses scheinbar umständliche und unwichtige Reflektieren über die Busfahrt.

Die Kälte ist das Leitmotiv des Textes, durch die Kursivschreibung noch betont. Auch glaube ich, dass die zwei kurzen, kursiven Sätze die Gefühle des Neugeborenen beschreiben. Und auch der Stil ist ein kalter: Durch die Bezeichnung „Frau K.“ wird man an Polizei- oder Zeitungsberichte erinnert, der Text ist ein Bericht von Fakten, eine Aufzählung der Ereignisse, es gibt, so weit ich gesehen habe, keine Metaphern. Wenn da nicht diese zwei winzigen kursiven Sätze als Kontrapunkt wären ...

Die Natur, der Stil und die Handlungen der agierenden Personen sind kalt. Da ist ja z.B. die Sache mit dem Mann in der Straßenbahn. Er setzt einen Akt der Menschlichkeit, der aber von niemandem, und vor allem von Frau K. nicht, als solcher bedankt wird. Auch das eine implizite Charakterisierung der Frau K. Und der Säugling wird wie ein Ding behandelt.

Hebamme und Krankenschwester wiegen, messen und reinigen das kleine Bündel Mensch – zur kranken Frau K. darf es nicht.

Freude über die Geburt wird nicht erwähnt. Gute Gefühle haben in dieser Geschichte keinen Platz.

Ich denke, dass dieser Text wirklich eine gute Einheit zwischen Intention der Geschichte und Stil bildet. Der leicht sarkastische Ton an manchen Stellen stört dabei nicht.

Aja, und alles Gute zum Geburtstag! :)

Andrea

 

Liebe Andrea!

Danke für Deine Geburtstagswünsche, fürs Lesen der Geschichte und Deinen schönen Kommentar, mit dem Du mir heute den Ärger weggefegt hast! :)
Geärgert hab ich mich über den Billa-"Foto-Express", wo ich am Montag drei Filme zum Entwickeln gegeben hab und es hieß, 2 - 3 Tage ... Gestern war ich umsonst dort, und heute waren sie auch noch nicht da. Dann bin ich so :( nach Hause gekommen und hab Deine Kritik gefunden, über die ich mich einfach nur gefreut hab, weil Du alles so schön zusammenfasst, und der Ärger war wieder weg! :)

Danke,
liebe Grüße,
Susi :)

 

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