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Anna Irene – Wie man eine Pflanze in Linz ausreißt und in Wien in eine Vase stellt-18
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Anna Irene hält eine Tasche in der einen Hand, mit der anderen die Türen auf, während Frau K. und Onkel Joe beidhändig bepackt durch diese hindurch gehen. Es sind zwei schwere, selbstschließende Metalltüren im Abstand von rund zweieinhalb Metern, beide mit undurchsichtig gemusterten, dicken Glaseinsätzen. Anna Irene beeilt sich, die zweite aufzuhalten, und läßt dann auch diese, wie schon die erste, einfach los, als Frau K. wie aus einer Kanone geschossen faucht:
»Bist du verrückt?! Lass doch die Türen nicht so zuknallen! Muss uns hier gleich jeder hören!?«
Sie gehen ein paar Meter über einen Gang mit roten Türen, Frau K. sperrt eine davon auf. Durch einen winzigen Vorraum gelangt Anna Irene in das kleine Zimmer von zirka zwei mal drei Metern, das sie ab jetzt bewohnen wird. Ein in verschiedenen Brauntönen gestreiftes Bett, ein zweitüriger Kleiderschrank und ein kleiner Schreibtisch, unmoderne Standardmodelle mit Buchenfurnier, sowie ein Waschbecken mit orangem Vorhang, um es zu verstecken; Frau K. steht in der Tür und füllt den Raum mit strengen Worten: »Es ist ja hoffentlich klar, dass du hier leise zu sein hast. Hier wohnen alte Leute, die alle ein schweres Leben hinter sich haben, und ich möchte nicht meine Stelle wegen dir gefährdet sehen.« Sie schaut, wie sie immer schaut, wenn sie ihre innere Wut am liebsten an Anna Irene auslassen würde, aber dann riskieren würde, dass irgendjemand es mitbekommt. »Und jetzt pack deine Sachen aus.«
Auch, nachdem Frau K. bereits wieder draußen ist, bleiben ihre Worte in der dicken Luft stehen. Sie hängen zwischen Anna Irene und der Zimmerdecke wie ein versteinertes Mobile.
Anna Irenes Blick schweift kurz aus dem Fenster, sie nimmt einen eingezäunten Rasen wahr, wie sie ihn bereits auf der anderen Seite des Hauses gesehen hat, wo sie durch den Personaleingang gekommen sind. Hinter dem Zaun ist ein Weg, auf dem alte Leute spazieren gehen, einige mit seltsamen Gehhilfen, die Anna Irene noch nie zuvor gesehen hat. Sträucher und ein hoher Holzzaun begrenzen den Weg zur anderen Seite. Vielleicht ist ja dahinter ein Spielplatz … Sie beginnt, ihr Gewand auszupacken und einzuräumen.
Wie das jetzt wohl ist, in Linz, wenn ich nicht mehr da bin? Ob ich den anderen Kindern fehle? …
Sie will nicht daran denken, wie sie durch diese Übersiedlung von ihren Freunden getrennt wurde.
Ich bin hier ganz weg von allen, die ich mag … ausgesperrt …
Anna Irene überlegt, wie schnell das alles ging. Wie ihre Mutter arbeitslos wurde und diesen Altenhilfe-Kurs vom Arbeitsamt bekam, die Telefonate, die sie mit Tante Dora führte, ihr plötzliches Engagement in der Partei und schließlich die Nachricht, sie könne in Wien zu arbeiten beginnen.
Wie schön wäre es jetzt zuhause; ich könnte in den Hof gehen und würde ganz bestimmt ein paar der anderen Kinder treffen, könnte Liesi abholen… Da ist ja mein Gummi zum Gummihüpfen – aber was soll ich alleine schon damit anfangen? … Und ohne Freunde komme ich hier wahrscheinlich nur selten hinaus; wenn ich nicht einmal weiß, wo ich hingehen kann … Ich hab hier nur die Mutti, und das ohne Onkel Joe …
Onkel Joe, in dessen Anwesenheit ihr Frau K. nie richtig weh getan, sie nie an den Haaren gerissen oder gegen die Badewanne gestoßen hat.
Ich muss schauen, dass ich so brav bin, dass sie mich in Ruhe lässt. Ich muss nur einfach alles tun, was sie will; ein braves Mädchen sein. Ich muss mich einfach anstrengen, damit sie nichts zu schimpfen hat.
Und dann erinnert sie sich plötzlich an eine Szene aus einem Western, den sie schon vor ein paar Jahren heimlich im Fernsehen gesehen hat: Ein Mann wird an den Händen gefesselt hinter einem Pferd hergeschleift.
Wieso fällt mir das denn jetzt ein?
Die letzten Stück´ Unterwäsche verschwinden in dem Schrank und sie verschließt ihn. Das erste, worüber sich Anna Irene hier freuen kann. Ich kann meinen Kasten zusperren, sodass die Mutti nicht hinein kann!
Ein Kleiderschrank als Geheimnisträger. Das bringt sie in Gedanken wieder zurück zu ihren Freunden, denen sie nicht sagen wollte, dass sie in ein Pensionistenheim ziehen würde. Welches Kind lebt denn schon in einem Pensionistenheim?
Sie schämte sich und wollte den Fragen ausweichen, wollte nicht sagen, dass Onkel Joe, den manche für ihren Vater hielten, gar nicht mitkommt, um nicht für ihre komische Familie ausgelacht zu werden; nicht einmal, dass Frau K. in einem Pensionistenheim zu arbeiten beginnt, wollte sie erwähnen, um nur ja nicht von der Personalschlafstelle zu plaudern. Da erinnerte sie sich mit einem Mal an die Wohnung der alten Frau, bei der sie während der Kindergartenzeit einige Nachmittage verbracht hatte; so lange, bis der Kontakt von Frau K. beendet worden war, weil diese Leihoma gleich mit dem Geschirrschwamm Anna Irenes bananeverschmierten Mund abgewischt hatte. Dann gab sie ihre heimliche Sehnsucht nach dieser Architektur als Antwort: »Wir ziehen in eine Wohnung, in der man im Kreis durch die Räume laufen kann. Da wird mir meine Mutti nichts mehr tun können, wenn ich immer ins nächste Zimmer renn´ und sie mich nicht erwischt, weil ich schneller bin als sie …«
Die glauben jetzt bestimmt alle, dass es mir hier gut geht … Wenn sie diese beiden spiegelgleichen Mäuselöcher hier sehen könnten …
Am Nachmittag zeigt Frau K. Anna Irene und Onkel Joe das Pensionistenheim. Am Ende des »Personaltraktes« müssen sie durch eine Tür. Frau K. bleibt stehen, legt ihre Hand auf die Türschnalle, schaut Anna Irene streng und belehrend an und sagt: »Du hast hier zu den Leuten ›Guten Tag‹ zu sagen. Dass das klar ist. Und zwar laut, weil viele schwerhörig sind.« Sie wirft einen unsicheren Blick zu Onkel Joe und meint: »Dir brauch ich das ja eh nicht sagen…«
Dann öffnet sie die Tür, geht hindurch, Onkel Joe und Anna Irene hinterher. Ein paar alte Frauen beobachten von einer wenige Meter entfernten Sitzecke das Geschehen und wenden ihre Köpfe zu den dreien. Frau K. ruft jeder einzeln lautstark und mit einem aufgesetzten Lächeln »Guten Tag!« zu. Anna Irene und Onkel Joe, einen Meter hinter ihr gehend, grüßen ebenfalls laut. Die alten Damen freuen sich, grüßen zurück und lächeln kopfnickend.
Eine Frau mit zittrigen Händen und zittrigem Kopf spricht Frau K. mit ebenso zittriger Stimme an, ob sie die Dame sei, die fürs Basteln und Singen zuständig sein wird, sie würden alle schon so warten, dass es bald los geht, und ob dieses hübsche Mäderl denn ihr Töchterl sei. Anna Irene wird von allen begutachtet. Sie bemüht sich, freundlich zu lächeln, so, wie sie es von Frau K. gelernt hat. Dabei hat sie das Gefühl, als hätte sie ein schweres Brett auf dem Kopf liegen, unter dem sie hervorlugt.
Danach führt Frau K. die beiden zu allen wichtigen Räumlichkeiten, in geschäftiger Wichtigtuerei vorauseilend, während die Gänge sich mit »Guten Tag!«-Rufen füllen.
Ich würd mich so gern unsichtbar machen können…, denkt Anna Irene. Die Mauer um sie herum, deren Außenseite eine glänzend lackierte Herzeige-Fassade mit einem freundlichen Dauerlächeln zieren soll, schließt sich Stein für Stein immer höher. Die Rolle, die sie spielen soll, ist Anna Irene unangenehm, und doch bleibt ihr nichts anderes übrig.
Am Abend des Sonntags fährt Onkel Joe wieder zurück nach Linz. Angst und Leere ziehen als Dauergast in Anna Irene ein, sie traut sich kaum zu atmen, um keinen falschen Ton von sich zu geben, fühlt sich bedroht von Frau K.s Nähe, unsicher in jeder Bewegung. Anna Irene überlegt gerade, ob sie ihr Buch zur Hand nehmen soll, als Frau K. wieder drohend im Türstock steht. »Hab ich nicht deutlich genug gesagt, dass du mit ›Guten Tag!‹ zu grüßen hast?! Was fällt dir eigentlich ein, einfach mit ›Grüß Gott‹ zu grüßen?!«
Aber ich wollte doch nur einmal nicht das Gleiche sagen, wie alle anderen …
»Na?!«, fordert Frau K. eine Antwort.
»Ja…«
»Was heißt ›Ja‹, ich will wissen, was du dir dabei gedacht hast!«
»Nichts…« Geh bitte wieder aus dem Zimmer …
»Schreib dir das jetzt hinter die Ohren! Wir grüßen nicht mit einem Kirchengruß! Wir sind Sozialisten und grüßen mit ›Guten Tag!‹! Auch der Verwalter hier ist Sozialist, nicht auszudenken, wenn dem sowas aus deinem Mund zu Ohren kommt! Wie wir dann dastehen. – Wenn ich das noch einmal höre, dass du so grüßt«, ihre Stimme wird nun ganz theatralisch, »dann gnade dir Gott!«
Kurz danach ist es mucksmäuschenstill in den beiden Zimmern. Anna Irene liegt auf ihrem Bett und versucht, ein Buch zu lesen, doch ihre Augen wandern nur über die Zeilen, ohne aufzunehmen, was da geschrieben steht. Nach einer Weile ertappt sie sich dabei, wie sie gedankenversunken ins Leere schaut. Damit Frau K. nichts davon bemerkt, blättert sie geräuschvoll um.
Dieses Bett hat überall so viele Kanten … wenn mich Mutti mit dem Kopf dagegen wirft, kann ich bestimmt tot sein … Ich muss da irgendwas zum Drüberlegen finden, damit das weicher wird …
In der Früh muss sich Anna Irene erst waschen und anziehen, bevor sie und Frau K. zum Frühstück in den kleinen Saal gehen.
Zuhause in Linz war das viel gemütlicher, da konnte ich im Pyjama frühstücken …
Im kleinen Saal stehen zwölf kleine, quadratische Tische, die meisten einzeln und mit je vier Sesseln bestückt. Drei Tische bilden eine kleine Tafel, darauf sind zwei gegenüberliegende Plätze mit Tellern, Besteck und Häferln gedeckt. In der Mitte stehen ein Teller mit Wurst und Käse, je zwei Portionspackungen Butter, Honig und Marmelade und ein Korb voll Brot und Semmeln. Frau K. und Anna Irene nehmen Platz, kurz darauf erscheint eine Frau in hellblauem Arbeitsmantel und weißer Schürze aus der nebenan gelegenen Teeküche. Auf der anderen Seite der Teeküche befindet sich der große Saal, in dem die alten Leute frühstücken. Sie begrüßt die beiden, fragt, was sie trinken möchten, und geht, um die Getränke zu holen.
»Warum können wir eigentlich nicht auf den vorderen Plätzen sitzen? Die sind doch viel näher zur Küche«, will Anna Irene von Frau K. wissen.
»Da sitzt die Familie Weißmüller, das sind die Verwalter des Pensionistenheimes. Die sind nur jetzt noch auf Urlaub. Und ich hoffe, du weißt dich dann zu benehmen, wenn sie wieder da sind. Sie haben zwei sehr wohlerzogene …«
Da kommt die Dame mit den Getränken wieder und fragt Anna Irene, als hätte sie das Thema aus der Luft abgelesen: »Kennst du schon die Ruth und die Doris?«
»Nein…«
»Ihr werdets euch sicher gut verstehen. Sind zwei nette Mädchen, nur ein bisserl jünger als du«, gibt sie noch aufmundernd lächelnd Auskunft, bevor sie zu ihrer Arbeit im großen Saal zurückkehrt.
Frau K. weiß gleich zu berichten: »Die Ruth soll ja lauter Einser in der Schule haben. Auf so ein Mädchen kann man richtig stolz sein.« Ein vorwurfsvoll fordernder Blick von Frau K. trifft Anna Irene.
Ich will sie gar nicht kennenlernen …
Eine Weile sitzen die beiden stumm gegenüber und essen.
Ich sollte mich vielleicht doch fürs Internat entscheiden … So schlimm wird das schon nicht sein – andere Kinder überleben es ja auch … Dann könnte ich ins Gymnasium gehen … Wieso hat sie mich eigentlich noch nie nach meiner Entscheidung gefragt, seit sie mir erzählt hat, welche Möglichkeiten ich habe? Sie hat mir damals erklärt, was eine Ganztagsschule ist, weil ich es nicht wusste, und seither nichts mehr dazu gesagt … Vielleicht kann ich mir das Internat ja noch anschauen … Vielleicht gehört das ja zu den vielen Sachen, die wir zu erledigen haben … Vielleicht sollte ich sie doch einmal fragen? … Aber ich trau mich nicht … Sie wird es ja bestimmt irgendwann von selbst wissen wollen …
Schließlich fasst sie aber doch ihren Mut zusammen: »Ich möchte das gern probieren mit dem Internat, kann ich mir das einmal anschauen?«
»Na, jetzt ist es zu spät. Als ich dich gefragt habe, hast du nur für die Hauptschule Interesse gezeigt. Mittlerweile ist das fixiert. Außerdem kann man sowas nicht einfach ›probieren‹.«
Wieso hat sie mich nicht noch einmal gefragt? »Wieso …«, begann sie, musste aber gar nicht fertigsprechen:
»Weil man sich nicht alles ewig lange überlegen kann. Und wenn du so langsam im Denken bist, dann ist es ohnehin besser, wenn du nur in die Hauptschule gehst.«
»Ich bin nicht langsam im Denken, ich wollte…«
»Na glaubst du vielleicht, ich mach das jetzt alles wieder rückgängig? Was sollen sich denn die für eine Meinung bilden von mir?!« Sie bemerkt ihre steigende Lautstärke und spricht gedämpft weiter: »Vom ersten Klassenzug der Hauptschule kannst du auch nach der Vierten noch umsteigen oder eine berufsbildende höhere Schule besuchen, wenn du gute Noten hast. Außerdem ist die Ganztagsschule ein sehr guter Schulversuch, für den besonders die Sozialisten eingetreten sind. Die Schule kann also nicht schlecht sein. Tante Dora kennt auch den Direktor dort.«
Tante Doras gute Beziehungen machen mir alles kaputt.
Tagsüber erkundet Anna Irene auf ihren Rollschuhen die nähere Umgebung. Hinter dem Holzzaun, wo sie sich einen Spielplatz erhofft hatte, befindet sich eine riesige Autowerkstatt, die, wie sie am nächsten Haus erfährt, dem ÖAMTC gehört. Die Straße ist eine doppelte Allee, jede Fahrtrichtung hat ihre eigenen Bäume, aber weit und breit sieht Anna Irene keinen Spielplatz. Alte Häuser, die schon mindestens hundert Jahre dastehen, Hundehaufen, alte Menschen. Sie wünscht sich nach Linz, nach Hause, zu ihrem Spielplatz, zu ihren Freunden. Auf der anderen Seite des Pensionistenheimes befindet sich der Fußballplatz eines unbekannten Vereins, dahinter eine lange Mauer. Am Ende der Mauer zweigt links eine Straße ab, die nicht sehr einladend und schon gar nicht nach Spielplatz aussieht, auf der anderen Seite sieht sie ein Umspannwerk und geradeaus eine große Kreuzung und eine Brücke, die über Bahngleise führt, und sie denkt, da dreh ich lieber wieder um, bevor ich nicht mehr zurück finde…
Sie fährt noch einmal die Allee entlang und entdeckt in einer Seitengasse einen italienischen Eissalon, kauft sich ein Eis und sieht dem herzlich lächelnden, sehr jungen Eisverkäufer in seine dunklen, Wärme ausstrahlenden Augen. Hier spürt sie einen Menschen und holt sich bis zum Ende der Ferien nun jeden Tag ein Eis, selbst, wenn sie eigentlich gar keines möchte. Wenn sie in diese warmen Augen schaut, spürt sie sich selbst, und die Sehnsucht nach Geborgenheit, die in ihr wohnt, tut weh. Aber so sehr es auch weh tut, es ist ein schönes Gefühl, sich selbst zu spüren. Bin ich jetzt verliebt?
Die beiden wechseln ein paar Worte, er fragt, warum sie immer alleine sei, sie antwortet, weil sie gerade erst hierher übersiedelt ist, und: »Ist der Eissalon im Winter zu?«
»Ja, im Oktober fahre ich nach Italien, in meine Heimat.« Er sieht, wie Anna Irenes Blick traurig wird, und fügt wie zum Trost und mit einem Lächeln hinzu: »Aber nächstes Jahr komme ich wieder.« Er zwinkert und hält ihr ihren Eisbecher entgegen.
Zu Mittag wird im Keller gegessen – dort befindet sich der Personalspeiseraum, zwischen Großküche und Wäscherei. Übereinanderhängende Tabletts mit Namensschildern in metallenen Schrankwägen. Fertig portioniertes Essen auf Warmhaltetellern. Kein »bitte mehr Sauce« oder »kann ich noch einen Knödel haben«. Kuchen als Nachspeise, von denen sie kein Stück nachnehmen kann, wenn sie ihr zufällig schmecken.
Auch hier muss Anna Irene vielen ihr fremden Menschen einen guten Tag wünschen, denn sie alle werden die Arbeitskollegen von Frau K.
Mineralwasserflaschen stehen auf den Tischen. Anna Irene mag kein Mineralwasser und fragt Frau K.: »Gibt es da auch etwas anderes zu trinken?«
»Oben am Gang, da, wo der Billardtisch steht, ist ein Automat. Da kannst du dir etwas holen.« Frau K. fischt eine Zehn-Schilling-Münze aus ihrer Geldbörse und gibt sie Anna Irene. Als sie aufsteht, richten sich zahlreiche Blicke auf sie und folgen ihr, mangels anderer Unterhaltung, bis sie bei der Tür draußen ist. Auf dem Gang durch den Keller trifft sie niemanden, atmet erleichtert durch, geht die Stufen hinauf. Der Aufzug steht zwar mit offenen Türen da, aber Frau K. hat ihr verboten, ihn zu benützen, da er für die alten Leute gedacht ist, und während sie fährt, könnte jemand anderer unnötig darauf warten. Sie würde es zwar jetzt nicht mitbekommen, aber ich weiß ja nicht, wer mich oben aussteigen sieht und es ihr vielleicht sagt…
Bis sie bei dem Getränkeautomaten ist, grüßt sie fünfmal ein lautes, deutliches »Guten Tag!«. Als eine Dame nicht reagiert, wiederholt sie ihren Gruß lauter. Damit es hinterher nicht heißt, ich hätte nicht gegrüßt… Am Rückweg begegnet sie nur drei ihr fremden alten Menschen, die sie lächelnd pflichtgrüßt, als wäre sie ihnen etwas schuldig, bevor sie wieder in den Keller zu ihrem Essen geht. Wieder richten sich zahlreiche Blicke auf sie, während sie den Raum betritt. Es sitzen jetzt um einige Menschen mehr hier, als zuvor. Anna Irene ist sich nicht sicher, wen davon sie bereits mit einem »Guten Tag!« beglückt hat und wen nicht. Sie fühlt sich wie bei einer Prüfung, bei der sie nichts weiß, grüßt vorsichtshalber zu jedem Tisch, wo sie jemand ansieht, und fühlt sich gleichzeitig unheimlich dumm, weil sie nun bestimmt jemanden doppelt gegrüßt hat.
Als sie sich setzt, bemerkt sie wieder dieses Gefühl, als läge ein Brett auf ihrem Kopf. Wie ferngesteuert gibt sie Frau K. die drei Schilling Retourgeld.
Einige am Tisch Sitzende fühlen sich scheinbar verpflichtet, Interesse an Anna Irene zu zeigen:
»Gefällt es dir hier?«
»Ja…« Was soll mir hier gefallen?
»Freust du dich schon, die Ruth und die Doris kennenzulernen? Ihr werdet euch sicher gut vertragen.«
»Ja, wir werden sicher viel Spaß haben.« Eigentlich will ich sie überhaupt nicht kennenlernen, die können mir gestohlen bleiben, wenn sie in allem nur besser sind, und so wohlerzogen…
»Freust dich schon auf deine neuen Schulkollegen?«
»Ja, und die Schule soll ja ganz super sein.« Ich will wieder zurück, in meine alte Schule, wo meine Freunde sind und die Liesi. Warum sollte ich mich auf die neuen freuen?
»Hast du die Gegend schon ein bisserl erkundet?«
»Ja, mit den Rollschuhen.« Nur Kinder habe ich noch keine gefunden. Und keinen Spielplatz. Es gibt hier nichts für mich.
»Hast du auch schon die Hasen im Garten gesehen?«
»Nein …« Könnt ihr mich bitte endlich in Ruhe lassen?
»Die werden dir gefallen!«
Anna Irene lächelt. Die Frau wendet sich Frau K. zu und sagt: »Die müssen´S ihr schon zeigen, die sind ja so süß!« Dann sieht sie Anna Irene mit einem Blick an, als wäre sie vier Jahre alt und würde bestimmt beim Anblick der Hasen vor Freude außer sich geraten. Aber vielleicht liegt es ja auch nur daran, dass Anna Irene das Gefühl des Vor-Freude-außer-sich-Geratens noch nie kennenlernen durfte, weil ihr jedes schöne Erlebnis durch Frau K. vergällt wurde. Irgendetwas fand sich immer, weshalb sie hinterher schimpfen, stoßen und an den Haaren reißen durfte oder den Umgang mit Menschen, die Anna Irene lieb gewonnen hatte, zu unterbinden wusste.
»Ja, das ist eine gute Idee, die werden wir nachher gleich anschauen!«, antwortet Frau K. in künstlicher Freundlichkeit.
Der Weg zu den Hasen führt den ganzen Gang durch das eine Haus, durch die mittig liegende, beide Gebäude verbindende Empfangshalle und den halben Gang durch das zweite Haus. Obwohl es mehrere Türen in den Garten gibt, ist nur diese aufgesperrt. Da hätten wir doch sicher auch durch den Keller gehen können … Irgendwann bekomme ich einen Muskelkater in den Wangen vom vielen »Guten Tag«-Sagen …
Als die beiden neben dem Hasengehege stehen und Frau K. glaubt, sie müsse Anna Irene darauf hinweisen, wie herzig die Hasen mit den Nasen schnuppern, stürzen sich einige alte Frauen auf sie, umringen sie und nageln sie mit Fragen fest. Belangslose Fragen, wie sie Anna Irene bereits im Personalspeiseraum über sich ergehen lassen musste, und solche, die sie in die Rolle eines kleinen Mädchens zwingen. Und Feststellungen wie: »Du hast ja eine ganz liebe Mutti.«
Anna Irene vergisst, zu lächeln; der Wunsch, zu widersprechen, steht ihr ins Gesicht geschrieben. Aber es fällt ihr nicht auf, und so kommt es überraschend, als Frau K. beim Zurückkehren zur Personalschlafstelle plötzlich nach ihren Haaren greift, sie in ihr Zimmer zieht und dort aufs Bett stößt. Das Holzbrett!, denkt Anna Irene erschrocken und fängt sich mit den Armen ab. Frau K. schaut mit überlegenem Blick auf sie herunter und, statt wie gewohnt zu schreien, zischt sie nur »Du …«, hebt drohend die Hand, schaut giftig und geht nach nebenan, in ihr Zimmer mit spiegelverkehrter Einrichtung.
Das Wochenende vergeht sehr schnell. Onkel Joe kommt, sie gehen alle gemeinsam in den Wienerwald spazieren und schauen sich die Stadt an. Nach außen machen sie den Eindruck, als wären sie eine ganz normale Familie.
Anna Irene bleibt keine Zeit, um mit Onkel Joe allein zu sein. Wieso kann ich nicht ein bisschen Ruhe von ihr haben? Sonst ist sie doch auch fast nie irgendwohin mitgegangen…
Bevor sie sich voneinander verabschieden, machen sie aus, dass am nächsten Wochenende Frau K. und Anna Irene nach Linz fahren. Vielleicht besuchen wir dann jemanden, da fährt sie bestimmt nicht mit …
Am nächsten Morgen sitzt die Familie Weißmüller bereits beim Frühstückstisch, als Frau K. und Anna Irene in den kleinen Saal kommen.
Es folgt ein sechsfaches »Guten Morgen!« in verschiedenen Tonlagen und ein gegenseitiges Vorstellen mit Händeschütteln und ein paar der üblichen Fragen an Anna Irene. Dann setzen sich alle.
Während des Frühstücks unterhalten sich Herr Weißmüller und Frau K. über ihren Arbeitsbeginn.
Ruth und Anna Irene werfen sich prüfende Blicke zu. Wenigstens muss ich mit der nicht reden, solange sich die über die Arbeit unterhalten … Die ist viel zu fein und brav, meine Freundin wird die sicher nicht. Niemals wird mir die meine Liesi ersetzen …
Doris schmiert Butter auf eine halbe Semmel und bedeckt sie anschließend mit Zucker. Wenn ich das machen würde, bekäme ich nachher geschimpft…
Herr Weißmüller fällt durch seine übertriebene Nettigkeit auf und dadurch, dass er beim Reden beinahe singt und konstant bis fast zu den Ohren grinst. Der wirkt so gekünstelt, das ist alles nicht echt …
Seine Frau ist ein eher ruhiger Typ. Beim Verabschieden nach dem Frühstück sagt sie zu Anna Irene: »Wenn du willst, kannst du gern zu Ruth und Doris kommen. Du brauchst nur anläuten, gleich die Tür neben eurer ist unsere.«
Mehr aus Pflichtgefühl als aus wirklichem Interesse, und weil sie ohnehin nichts Besseres zu tun hat, läutet Anna Irene wenig später tatsächlich an der Tür und Doris öffnet. Die Weißmüllers haben hier eine große Wohnung, jedes der Mädchen hat ein eigenes Zimmer und vom Wohnzimmer gibt es einen direkten Ausgang in den hinteren Garten, in dem keine alten Leute sind. Das ist unfair, dass wir nur so kleine Zimmer haben, und die so eine große Wohnung … Hier herinnen kann man vergessen, dass man in einem Pensionistenheim ist …
Den Vormittag verbringen sie bei Gesellschaftsspielen und nach dem gemeinsamen Mittagessen im Personalspeiseraum zeigen Ruth und Doris Anna Irene den restlichen Keller. Lagerräume gibt es da, vollgeräumt mit Möbeln, für die die alten Leute bei ihrem Einzug keinen Platz hatten. Da warten die Möbel, bis die Leute ganz gestorben sind … Dazwischen findet sich ein Kegelspiel, bei dem die Kugel an einer Schnur hängt. Sie spielen eine Weile, dann gehen sie weiter. In der Großküche dürfen sie überall hin und alles ansehen. Riesige Kochtöpfe, Förderbänder und Frauen, die Gemüse so schnell wie im Zeitraffer zerschneiden.
Danach spielen sie Tennis auf dem Platz, der eigentlich für Lieferantenfahrzeuge gedacht ist. Es gibt sogar Halterungen für ein Netz, das Ruth und Doris holen und festmachen. Erst gefällt es Anna Irene und Ruth meint sogar, dass sie ganz gut spiele, aber nach einer Weile bemerkt Anna Irene einen unangenehmen Geruch. »Da stinkt´s«, sagt sie naserümpfend.
»Das ist die Entlüftung vom Leichenkammerl«, stellt Doris unbekümmert fest.
Anna Irene bekommt eine Gänsehaut. »Die werden hier gelagert?«
»Naja, manchmal dauert es schon zwei, drei Tage, bis sie abgeholt werden«, weiß Ruth, »überhaupt im Sommer fangen sie dann manchmal zu stinken an.«
In der Nacht wird Anna Irene von einem Alptraum wach. Sie weiß nicht mehr genau, was sie geträumt hat, aber es hatte mit dem Tod und den Leichen zu tun. Ich hab den Tod eingeatmet … und dieses Leichenkammerl ist sicher nicht mehr als zehn Meter von mir entfernt … mir graust … Ich will hier nicht sein … So schön war es in Linz … ich will wieder zurück … Wieso hat sie sich nicht in Linz eine Arbeit gesucht?
Anna Irene weint unter ihrer Decke, ganz leise, damit Frau K. sie nicht hören kann.
Die Sendung im Fernsehen hab ich durch die Übersiedlung auch verpasst … wo Liesi und ich zu sehen waren … wie sie uns wegen dem Zaun interviewt haben, der trennend zwischen unsere Häuser gestellt wurde … Weil die SPÖ sich dagegen eingesetzt hat, sollten wir unsere Meinung sagen … dass wir wegen dem Zaun nun einen Umweg gehen müssen, wenn wir uns sehen wollen … Liesi war auf der einen Seite, ich auf der anderen … und jetzt … Wenn ich bloß an diese Sendung gedacht hätte in der ganzen Hektik … die Mutti hat es gewusst und mich nicht erinnert … Und jetzt wäre ich so froh, wenn es nur dieser blöde Zaun sein würde, der mich von Liesi trennt …