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Anna Irene – Der Rorschachtest (08)
„Ja, und was passiert da mit ihr?!“, fragt Frau K. noch besorgt in das Zimmer, aus dem sie gerade kommt. Anna Irene versteht die Antwort nicht und ihre Mutter schließt die Tür, hinter der sie mit der Fürsorgerin gesprochen hat. Anna Irene verläßt ihren Sitzplatz draußen am Gang, auf dem sie warten mußte, und kommt mit. Unterwegs spricht ihre Mutter keinen Ton mit ihr, sie sieht aus, als müsse sie über irgendetwas sehr angestrengt nachdenken, fast verzweifelt schon.
Zuhause angekommen herrscht ebenfalls noch Stille, worüber Anna Irene aber ganz froh ist, denn solange es still ist, wird nicht herumgeschrien. Sie fühlt sich dabei zwar auch nicht wohl, das ist sie aber gewöhnt, es ist normal für sie. Wohl fühlen ist ein ganz besonderer Zustand, den sie fast nur dann hat, wenn sie für wenige Stunden mit ihrem Onkel Joe zu dessen Eltern in den Garten fahren darf, nie jedoch, wenn sie in der Nähe ihrer Mutter oder zuhause in der Wohnung ist. Sie macht sich aber keine Gedanken darüber, ob dies nicht anders sein sollte, viel zu sehr ist sie damit beschäftigt, der Mutter möglichst alles so recht zu machen, daß sie vielleicht einen Tag lang wegen nichts schimpft und ihr körperlich nicht weh tut. Eigentlich ist das im Moment ihr primärer Lebensinhalt, der sämtliches Tun und Denken überlagert.
Und dann geschieht etwas Unerwartetes: Frau K. nimmt Papier und Wasserfarben, und fordert Anna Irene auf, sich mit ihr an den Tisch zu setzen (was sie sonst nie tut, außer zum Essen). Sie will, daß Anna Irene Farben auf das Papier tropft und es in der Mitte zusammenlegt, sodaß es einen spiegelgleichen Abdruck gibt. Das hat sie auch im Kindergarten bereits gemacht und ein leiser Anflug von Glücksgefühl kommt über sie, weil sie momentan glaubt, ihre Mutter nimmt sich ihretwegen Zeit für sie. Als sie das Bild fertig hat, kommt die Ernüchterung...
„Morgen müssen wir wo hingehen, da werden dir solche Bilder gezeigt und dann wirst du gefragt, was das auf dem Bild ist.“ Frau K. legt eine fordernde Schweigepause ein, Anna Irene überlegt kurz, was sie wohl hören will und fragt „Warum?“. „Weil jemand der Frau Halmerbauer erzählt hat, daß es dir bei mir nicht gut geht. Und wenn du das Falsche auf diesen Bildern siehst, dann stecken sie dich in ein Erziehungsheim, weil dein Vater nimmt dich sicher nicht, die haben schon genug mit drei Kindern,“ – triumphierend – „da hast DU keinen Platz mehr.“
Am nächsten Morgen klärt Frau K. Anna Irene noch genauer auf: „Du mußt schauen, daß du Tiere siehst. Die haben in den Bildern Tiere versteckt, die mußt du suchen, dann kann nichts passieren. Und laß dich nicht verwirren, wenn der, der das mit dir macht, dir etwas anderes sagen will, konzentriere dich nur auf die Tiere.“ Anna Irene ist froh über die Hilfe ihrer Mutter, denn Erziehungsheim muß etwas Schlimmes sein. Gerne will sie hier brav sein und ihrer Mutter folgen, aber um alles in der Welt nicht ins Erziehungsheim...
So läßt sie die Worte des Psychologen an sich vorübergehen, der meinte, er wolle sehen, ob es ihr gut geht und sie solle ihm einfach nur sagen, was ihr zu diesen Bildern einfällt, ganz egal, was das auch ist. Sie sucht Tiere und tut sich bei einigen Bildern ganz schön schwer damit. Aber sie will nicht ins Erziehungsheim kommen und findet mit Müh und Not Steinböcke, Schafe, Enten, Kühe und Hühner, das heißt, sie sucht nach Stellen, die eines dieser Tiere, die ihr einfallen, darstellen könnten.
Mit dem Gefühl, eine Prüfung bestanden zu haben, verläßt Anna Irene den Raum und ihre Mutter wird hereingebeten. Als sie wenige Minuten später wieder herauskommt und beide freundlich verabschiedet werden, ist Anna Irene nochmal überzeugt, alles richtig und zur Zufriedenheit aller gemacht zu haben.
Abends beim Einschlafen überlegt sie, wie lange es denn wohl her ist, daß sie, wie heute, nicht geschlagen, an den Haaren gerissen oder gegen die Badewanne gestoßen worden ist. Sie ist sehr zufrieden mit diesem Tag und hat wieder einmal das Gefühl, daß ihre Mutter sie doch mögen muß, sonst hätte sie ihr das mit den Tieren nicht verraten, um sie bei sich zu behalten.
Wenige Tage später liest Frau Halmerbauer von der Fürsorge den Bericht des Psychologen, in dem bescheinigt wird, daß Anna Irene ein völlig normales Mädchen mit einer gesunden, kindlichen Phantasie ist und keine Auffälligkeiten zu erkennen sind. Sie gibt das Papier in den Akt, schließt diesen und legt ihn mit den Worten „Gut, dann ist ja alles in Ordnung“ ab.
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Susi P.
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Wie alles begann, mit Anna Irene, könnt Ihr hier nachlesen: 1. Februar 1965, eiskalt
Die nächste Geschichte: Der Furz des Anstoßes