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Anleitung zum Schreiben einer Schauergeschichte
1.
Das Schreiben einer Schauergeschichte erfordert Ruhe und Konzentration.
Warte, bis es Abend ist und still im Haus. Bleibe eine Weile vor der Schlafzimmertür stehen und vergewissere dich, dass nur noch ein schwaches, rasselndes Atmen zu hören ist und das regelmäßige Fiepen der Schmerzpumpe.
Sehr gut.
Gehe nach vorne und schließe die Wohnungstür ab. Drehe den Schlüssel zweimal im Schloss. Schalte die Klingel aus.
Arbeite dich dann systematisch durch alle Zimmer. Verschließe die Fenster, lasse die Rollläden herunter und klebe die Spalte zwischen Fenstern und Fensterrahmen mit Paketklebeband ab. Gehe langsam und sorgfältig vor. Achte darauf, dass kein Tageslicht eindringt.
Die Welt deiner Erzählung ist jetzt klar definiert. Innerhalb ihrer Grenzen gelten deine Gesetze.
Ebenso wichtig ist der Zeitraum der Geschichte. Nutze die dir zur Verfügung stehenden Mittel, um deiner Erzählung einen klaren zeitlichen Rahmen zu geben:
Drehe den Gasherd an.
2.
Eine Schauergeschichte braucht eine gewisse Tiefe. Reine Effektgeschichten wirken juvenil und werden schnell vergessen.
Räume den Küchentisch frei. Stopfe Arzt- und Anwaltsbriefe, Versicherungsschreiben und alle Lieferscheine und Rechnungen von Apotheken und Sanitätshäusern in die unterste Schublade, zu den großen Töpfen und Pfannen. Für deine Geschichte brauchst du weder die Papiere noch das Kochgeschirr.
Der Laptop liegt auf der Kommode im Flur. Im Vorbeigehen siehst du dein Spiegelbild im Wandspiegel. Und die Schatten dahinter.
Stelle den Laptop auf den Küchentisch, klappe ihn auf und drücke auf den Ein-/Aus-Schalter. Der Desktop ist voller Dokumente. Arztbriefe für Martha. Die Sachen vom Medizinischen Dienst. Mails vom Pflegedienst. Medikamentenpläne. Dann sind da noch deine Sachen. Die Kündigung. Die Schreiben der Anwälte. Die Vorladung zur Verhandlung.
Mit einem Doppelklick öffnest du ein neues Dokument.
Du bist jetzt bereit zum Schreiben.
3.
Während das Gas sich in der Wohnung ausbreitet und die Schatten im Wandspiegel zusammen- und auseinanderfließen, tippst du die ersten Zeilen. Du speicherst regelmäßig ab.
Bis auf das Klackern der Tastatur ist es ganz still in der Wohnung. So still, dass du es deutlich hörst, als die Schlafzimmertür geöffnet wird.
Sie könnte sich nicht einmal anschleichen, wenn Sie es versuchte. Ihr rasselndes Atmen verrät sie. Es hört sich an, als saugte man die letzten Reste Eisschokolade durch einen aufgeweichten Strohhalm.
Sie braucht einige Minuten. Ihre Schritte sind langsam und unsicher. Immer wieder fiept die Schmerzpumpe, die an ihre Unterarm hängt wie ein mechanischer Parasit.
Die Schatten im Wandspiegel flüstern ihr etwas zu.
Dann steht sie in der Küchentür.
Du speicherst die Geschichte ab und drehst dich um.
Ihr Körper — derselbe, der vergangenen Sommer noch einen Marathon absolviert hat — ist abgemagert. Nicht mal das Nachthemd kann verbergen, wie dürr sie inzwischen ist: Unter den Comic-Schäfchen zeichnen sich ihre Rippen ab. Zwischen den Beinen hängt eine schwere Windel wie ein überdimensionierter Teebeutel. Ihr Kopf ist kahl, nur zwei, drei nasse Strähnen hängen in die Stirn. Die Augen sind weit aufgerissen.
Sie hebt einen Arm und zeigt auf den Ofen.
4.
Geschichten haben die lästige Eigenschaft, ein Eigenleben zu entwickeln. Abzweigungen zu nehmen, die ihre Erzähler nicht eingeplant hatten — von denen sie oft nicht einmal wussten, dass es sie gibt!
Der Gasgeruch ist jetzt überall. Du spürst leichte Kopfschmerzen. Deine Zeit ist begrenzt. Du darfst dich nicht ablenken lassen.
Die Schatten im Spiegel flüstern jetzt nicht mehr. Sie rufen.
Du versuchst, die Frau in der Küchentür anzulächeln. „Wir werden zusammen sein“, sagst du, drehst dich um und drückst Strg-Z.
Tu das nicht
Strg-Z
Tu das
Strg-Z
Nicht
5.
Ruhe und Konzentration sind die Voraussetzungen für das Verfassen einer Schauergeschichte. Der Pflicht-Teil, wenn du so willst. Mit einer guten, gewissenhaften Vorbereitung lassen sich Ruhe und Konzentration zuverlässig herstellen.
Inspiration ist die Kür.
Inspiration bedeutet, dass du nicht nur einen Gegenstand hast, über den du schreiben kannst, sondern auch einen besonderen Dreh, eine Perspektive. Etwas, das deine Geschichte einzigartig macht.
Wie die Schatten im Spiegel. Thomasina, die 1831 in diesem Haus an der Grippe starb. Oder der Junge, den eine Blutvergiftung tötete, nachdem er sich an einer Scherbe geschnitten hatte — gleich hier, ziemlich genau dort, wo jetzt die Küche ist. Oder Hermann, der sich in der Badewanne die Pulsadern geöffnet hat.
Menschen, die in diesem Haus sterben, haben die seltsame Eigenschaft, dazubleiben.
Es ist jetzt ganz still in der Wohnung. Die Schlafzimmertür ist fest verschlossen. Du meinst, das Zischen des Gases zu hören, das aus dem Ofen strömt; aber das kann Einbildung sein.
Schließe deine Augen.
Atme tief ein.
Die Schatten erwarten euch.