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Ankunft
Ankunft
Wie ich es hasse, dieses Treppenhaus. Schnell gehe ich zum Briefkasten, öffne die Blechtür und sehe, was ich nicht sehen wollte: nichts. Wie automatisch drehe ich mich um, ob mich auch niemand beobachtet. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann mir zuletzt jemand geschrieben hat. Nicht einmal die Telekom schreibt mir noch. Nicht daß sie mir den Anschluß gesperrt hätten – meine Rechnungen bezahle ich immer. Nein, ich habe meinen Anschluß selbst abgemeldet, nachdem ich aufgehört habe, zu telefonieren. Das heißt: eigentlich habe ich aufgehört zu warten, daß dieses Telefon klingelt. Dann habe ich meinen schweigenden Mitbewohner rausgeworfen. Heute wäre ich froh über jeden Brief, den mir der Bote in den Kasten mit meinem Namen wirft, selbst wenn es die Telefonrechnung ist, in der als einziger Posten „Grundgebühren“ aufgeführt ist. Ein leerer Briefkasten ist wie ein leerer Spiegel. Gern würde ich diesen Blechkasten von der Wand reißen und darauf herum trampeln. Dabei blicke ich schon wieder um mich, als ob mich jemand bei diesem Gedanken ertappen könnte. Ich belasse es für heute dabei, das kleine vergilbte Schildchen, auf das ich vor Jahren wie selbstverständlich meinen Namen geschrieben habe, von diesem unmöglichen Briefkasten zu reißen, es zu zerknüllen und durch den Schlitz zu werfen, der schon so lange nach einer Nachricht verlangt.
Als ich die Treppen besteige, habe ich nach jedem Schritt das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen, daß ich überhaupt auf diese Stufen trete; das alte Holz knackt und quietscht – niemand kommt hier unbemerkt rein oder raus. Nach jeder Stufe ein kleiner Verrat. Was Einbrecher abschreckt, macht mich zum Gefangenen im eigenen Haus. Ich sehe die Hausbewohner auf jeder Etage hinter ihren Spionen, wie sie mich mustern und beäugen. Am liebsten würde ich vor so einer Wohnungstür stehen bleiben, hinter der sich solch ein neugieriger Türsteher versteckt, meinen Kragen und Mantel richten, freundlich durch das Beobachtungsglas nicken, und auf diesen gepflegten Fußabtreter kotzen. Aber alles was ich heraus würge, wenn ich jemandem aus dem Haus begegne, ist ein gequältes „Guten Tag“.
Ich krame mein Schlüsselbund heraus und bereue es sofort. Denn „Schlüsselbund“ ist übertrieben: wertloses Blech; zwei armselige Schlüsselchen für Haus- und Wohnungstür. (Der Keller steht offen.) Mit den dicken Sammlungen der anderen kann ich nicht mithalten. Wie viele Türen die damit öffnen können? Irgendwas muß ich verpaßt haben in den letzten Jahren. Als ich oben bin und vor meiner Wohnungstür stehe, schäme ich mich. Seit ich hier eingezogen bin, hat jeder im Haus seine Wohnung mindestens einmal renoviert – außer Frau Görlach, ganz unten, aber die ist 86 – meine dagegen zeugt noch immer vom schlechten Geschmack des Vormieters. Ich wollte es ändern, jedes Jahr wieder.
Endlich bin ich in meiner Wohnung und öffne wie immer zuerst das Fenster. Ich reiße es weit auf, ich überblicke die Gegend, genieße den Luftstrom und stelle mir vor, wie grausam es ist, im Erdgeschoß zu wohnen. Ich nehme das Buch, das mein Partner war in den letzten Jahren an diesem Fenster; aber statt zu lesen, was ich schon weiß, reiße ich eine Seite heraus und baue mir einen Papierflieger, ich entlasse ihn in den Wind. Eine Seite nach der anderen verwandelt sich in meiner Hand in ein Flugzeug und verschwindet auf der anderen Seite des Fensters. Fast alle stürzen ab nach einer kleinen Pirouette. Ich sehe nicht nach unten, nur nach vorn, will nicht sehen, wo sie landen. Aber einen hat eine starke Böe erfaßt, sie trägt ihn weit und weiter, ich sehe ihn schon nicht mehr. Verschwunden ist er im grauen Licht. Er wird ankommen, denke ich mir, er wird ankommen und den Menschen von mir erzählen.