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Angelika

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26.06.2001
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Angelika

Durch die geöffnete Tür des Lehrerzimmers sah Angelika die ersten Kinder über den Gang rennen, auch der dunkle Lockenkopf von Thomas huschte draußen vorbei. Thomas war einer ihrer Lieblingsschüler, ein lebhafter und fröhlicher Junge, zwar manchmal etwas vorlaut aber immer eifrig und aufmerksam. Angelika war heute Morgen sehr früh hier, um fünf war sie schon durch die ersten Strahlen der Morgensonne geweckt worden. Sie schlief immer bei geöffneten Vorhängen, um mit dem ersten Blick des Tages direkt den Himmel zu sehen. Dann vergaß sie die hässlichen Träume schnell, die sie oft quälten.
Angelika hatte schon Kaffee für ihre Kollegen aufgesetzt. Dann nützte sie die Zeit, um in ihrem Aktenkoffer zu kramen und die Hefte in der Reihenfolge zu ordnen, in der ihre Stunden heute lagen. Den Stapel korrigierter Aufsatzhefte der fünften Klasse zuoberst, die unterrichtete sie in der ersten Stunde. Thomas hatte sich mit seinem Aufsatz viel Mühe gegeben, hätte er noch auf seine Rechtschreibung geachtet, wäre es eine glatte eins geworden, so musste er sich mit einer drei zufrieden geben. Angelika sah prüfend auf ihre kleinen Hände, nie schaffte sie es so gepflegt auszusehen wie die anderen Lehrerinnen, immer waren ihre Hände etwas schmutzig, ein dunkler Rand unter dem Daumennagel, etwas Tinte am Zeigefinger – ihre Hände sahen nicht viel besser aus, als die der Kinder.
Aber letztlich war ihr Aussehen ihr recht gleichgültig, dass sie keine Schönheit ist, wusste sie seit ihrer Tanzstunde, ebenso dass viele Kollegen ihre altmodische Kleidung schrullig fanden. Aber sie genoss trotzdem Respekt, weil sie gerne jede schwierige Klasse übernahm, bereitwillig Vertretungen machte und keine schlechte Lehrerin war. Die Schüler mochten sie zwar nicht, aber niemand hatte sie jemals aus der Ruhe bringen können, vielen war das unheimlich. Sie hatte bei den Kindern den Spitznamen „Die Spinne“.
Angelika sah lächeln auf, als ihre Kollegin Gila ins Zimmer stürzte. Wie immer kam sie fast im Laufschritt, atemlos, obwohl sie noch Zeit hatte, und warf ihre Tasche auf den Stuhl neben Angelika. Ihr strahlendes
„Guten Morgen“
erwiderte Angelika herzlich, Gila war ihre Lieblingskollegin. Sie genoss ihre Lebhaftigkeit, wie sie auch den Lärm und die Lebendigkeit der Kinder in sich aufsog. Dies Elixier hielt ihr eigenes Leben in Bewegung.
Während Gila ihr von einem Film erzählte, den sie gestern Abend gesehen hatte, beobachtete Angelika fasziniert eine Fliege die über die Zuckerwürfel lief. Immer wieder hielt sie an, schien mit ihrem Rüssel zu tasten und speichelte dabei den Zucker ein, um anschließend den Saft aufzusaugen.
Als Kind hatte Angelika alle Insekten und andere kleine Tiere getötet die ihr nicht rechtzeitig entkamen, Ameisen, Spinnen, Bienen, Schnecken, Käfer und Regenwürmer.
Regenwürmer zu töten hatte ihr die wenigste Freude bereitet, die bewegten sich so träge, ohne erahnbaren Willen. Am liebsten hatte sie Ameisen zerdrückt, sie waren so eifrig, ziel gerichtet und schnell, da war der Unterschied zwischen Leben und Tod am deutlichsten zu sehen. Sie hatte die Tiere nie gequält, sie faszinierte das plötzliche Ende. Grade lief die Ameise noch mit einem Blattstückchen zum Bau, einen Augenblick später hatte Angelikas kleiner Finger sie zerdrückt. Fliegen hatte sie nur selten getötet, die waren für ein ungeschicktes Kind so schwer mit der Fliegenklatsche zu treffen, die Jagt beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit, da konnte sie dem Augenblick des Todes kaum mehr Beachtung schenken.
Angelika begnügte sich damals mit den Fliegen, die grade auf dem klebrigen Fliegenpapier gelandet waren und noch lebhaft zappelten. Die zerdrückte sie dann rasch; ihre gute Mutter dachte, sie täte es aus Mitleid. Aber sie hätte damals auch keinem erklären können, wie nah sie ihrem eigenen Leben war, wenn sie ein anderes ausgelöschte. Manchmal glaubte Angelika, sie hätte später nie wieder so intensiv die eigene Lebendigkeit gespürt wie damals. Mit acht oder neuen Jahren hatte sie mit diesem Spiel aufgehört, sie war in das moralische Alter gekommen – jenes Alter in dem sie begriff, dass nur böse Mädchen aus Lust eine Tier töten. Seitdem hatte sie, ganz wörtlich, nie wieder einer Fliege etwas zu Leide getan. Jede Spinne, jeden Käfer den sie heute in ihrer Wohnung fand setzte sie vorsichtig auf den Balkon.
Nur ein winziger Rest war davon geblieben, Angelika fühlte sich von lebhaften Menschen stark angezogen und suchte ihre Nähe. Wenn sie jemandem das erste Mal begegnete, schoss ihr oft ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf - wie groß wäre der Unterschied, wenn diese Person jetzt auf der Stelle tot wäre. Manche schienen schon zu Lebzeiten dem Tode vorzugreifen, sie waren so träge als wollten sie schon für ihren Sarg maßnehmen.
Es war damals nicht die Macht über Leben und Tod, die sie dabei fasziniert hatte, das verstand Angelika heute genau, sie hatte versucht dem Leben auf die Spur zu kommen, indem sie die Auswirkung des Todes studierte. Aber das alleine war es wohl auch nicht.
Gila saß jetzt neben ihr, Angelika hatte dem Beginn ihrer Geschichte nicht zugehört und versuchte sich in dem Wortschwall zurechtzufinden
„…..sie sind alle durch die kleine Tür in sein Gehirn gegangen, also in das Gehirn des Schauspielers. Es war überhaupt komisch, um die Büromiete zu senken hatten sie die Etagen halbiert, keiner konnte aufrecht gehen.“
Angelika versuchte wie ein Schüler ein verständiges Gesicht zu heucheln. Sie hatte keine Ahnung worum es ging, aber trotzdem hörte sie Gila gerne zu.

„Jedenfalls sind dann zig Leute in sein Gehirn gegangen, der Hauptdarsteller konnte sogar durch seine Augen sehen. Am Ende sind sie irgendwo an einer Autobahn wieder herausgekommen. Ein starker Film. Du musst ihn Dir unbedingt ansehen!“
Angelika war froh, als es zur ersten Stunde läutete. Sie stand hastig auf, nahm ihre Aktentasche und verabschiedete sich von Gila mit einem freundlichen,
„Das muss ein toller Film gewesen sein, hört sich wirklich interessant an. Bis später dann…“
Beim betreten der 5B bemerkte sie sofort, dass die meisten Kinder umgesetzt worden waren. Der Klassenlehrer wollte damit wahrscheinlich für mehr Ruhe sorgen. Die lautesten Schüler hatte er in die erste Reihe gesetzt, unter ihnen war natürlich Thomas, der sonst immer von der vorletzten Reihe für Stimmung gesorgt hatte. So sah sie sich einer Reihe Jungen gegenüber, unter den fünf Kindern war kein Mädchen. Thomas saß jetzt neben seinem Freund Julio; die Krakeeler waren nun zwar alle vorne, aber ob das ein Vorteil war würde sich gleich herausstellen. Während sie die Aufsätze zurückgab war alles fast wie sonst, nur dass es sehr laut wurde, wenn sie ein Heft nach hinten brachte. Also blieb sie vorne stehen und rief die einzelnen Schüler zu sich. Obwohl die erste Reihe ständig in Bewegung war, verhielten sie sich recht ruhig. Angelika beschloss den Aufsatz von Thomas vorzulesen, einmal weil er gut war, zum anderen weil es seinen Übermut dämpfen würde.
Sie fing mit leiser Stimme an zu lesen,
„Mein Lieblingstier: Die Ameise ist mein Lieblingstier weil sie mit so vielen anderen organisiert zusammenleben kann. Sie ist außerdem viel stärker als jeder Mensch. Ameisen bauen riesige Festungen die man Ameisenhügel nennt…..“
Einige kicherten und Thomas versuchte seinen roten Ohren mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern zu verbergen. Sein rechter Fuß zuckte im schnellen Takt seiner Beschämung und er rollte mechanisch einen Stift auf der Tischplatte zwischen den Händen hin und her. Während Angelika weiter las, wurde es immer lebhafter, die erste Reihe hielt es kaum mehr auf ihren Stühlen, Angelika konnte sehen mit welcher Anstrengung sie versuchten nicht laut herauszuplatzen. Sie schlugen sich auf die Schenkel und drehten sich zu den anderen um, sie stießen sich in die Rippen und zappelten mit den Beinen. Obwohl Angelika mit strengem Blick aufsah, merkte sie mal wieder, wie gerne sie dies Leben um sich fühlte. Julio flüsterte immer wieder in Thomas Ohr,
„….sie sind stärker als Menschen....Ameisen sind stärker als Menschen ….“
Zur Klasse gedreht rief er übermütig,
„Thomas ist schwächer als eine Ameise…“
Angelika musste schließlich doch energisch für Ruhe sorgen. Julio gab sie bis zur nächsten Stunde auf, alles über Ameisen herauszufinden was nicht in Thomas Aufsatz erwähnt war, ein anderer Junge bekam die Aufgabe ein Ameise zu zeichnen, jetzt in der Stunde, aus dem Gedächtnis.
Als sie weiter las, waren alle wieder still…
„…darum ist es auch nicht so schlimm wenn man eine Ameise tötet, sie sind wie ein Organismus, wie ein zusammenhängendes Tier. Wenn eine getötet wird übernimmt sofort eine andere ihre Aufgabe. Alleine sind sie nichts, sie sind wie eine Fußballmannschaft, nur noch viel besser, jede ist bereit ihr Leben für alle zu opfern. Trotzdem hat jede ihr eigenes Leben.“
Den Rest der Stunde musste Angelika damit zubringen den Kindern zu erklären, warum eine Ameise genauso interessant war wie ein Hund oder Pferd – obwohl man nicht mit ihr spielen konnte. Aber man konnte sie straflos töten, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Am Ende hatten wohl die meisten verstanden, dass es origineller war über eine Ameise nachzudenken, als über die Hauskatze. Thomas war wieder rehabilitiert.
Der Vormittag schien viel schneller als sonst zu vergehen. Angelika fühlte sich so munter wie schon seit Jahren nicht mehr, sie musste sogar einige Male kichern wie ein kleines Mädchen. Zum Glück bemerkte es keiner. Als sie nach Schulschluss von ihrem Parkplatz vorsichtig über den Schulhof fuhr, bemerkte sie vor sich zwei Kinder, Thomas und Julio. Beide hielten ihre Ranzen in den ausgestreckten Händen und drehten sich wie Kreisel aufeinander zu. Fasziniert starrte Angelika auf die Bewegung, ohne es zu bemerken trat sie auf das Gaspedal und fuhr wie hypnotisiert auf die beiden Kinder zu.
Angelika hatte einmal gesehen, als jemand von einem Auto überfahren wurde, ein junger Mann der unachtsam auf die Fahrbahn getreten war. Nie hatte sie vergessen, wie sehr er einer Puppe glich, als er durch die Luft flog. Sein Kopf, seine Beine und Arme wirbelten völlig kraftlos um den Körper. Er war wohl sofort tot oder bewusstlos, jedenfalls sah er unmittelbar nach dem Aufprall nicht mehr wie ein Mensch aus, sondern wie ein Dummy. Angelika stellte sich vor, wie diese beiden Kinder vor ihrer Windschutzscheibe hochfliegen würden, jetzt wirbelten sie noch herum, aber gleich…
Im letzten Augenblick riss sie das Steuer herum. Es gelang ihr auszuweichen, mit heftigen Herzklopfen fuhr sie vom Hof. Im Rückspiegel sah sie die erschreckten Gesichter der beiden Kinder.
Zuhause angekommen, lief Angelika direkt auf den Balkon und lies sich auf die Knie nieder. Sie musste nicht lange suchen, aus einer Ritze im Beton kamen eilig zwei Ameisen gelaufen, sie zogen und zerrten an einem vertrockneten Halm.

 

1.) Being John Malkovich sollte sich die gute Angelika wirklich angucken, ist tatsächlich ein sehr guter Film. :)
2.) Ich wußte schon immer das Lehrer irgendwie verrückt sind. Im Ernst, wirklich gute Geschichte, interessant zu lesen, gerade das leicht psychopathische der Lehrerin hat mich fasziniert. Wenn die mal nicht irgendwann noch durchdreht...

 

Hi,
ich fand die Geschichte auch gut, das psychopathische an der Lehrerin scheint mir irgendwo realistisch und es beweist, dass Lehrer auch nur Menschen sind.

Liya

___________________________________

 

Tja, in dieser Klasse lernt man was fürs Leben... ;)

Flott erzählte Geschichte, die man fast unter Horror einordnen könnte.
Wie mein Vorredner schon sagte: Lehrer sind auch nur Menschen.
Das Vorlesen von Aufsätzen oder so habe ich auch gehasst, weil manchmal meine darunter waren - und das ist so ungefähr das peinlichste überhaupt, was man einem Jugendlichen antun kann! :rolleyes:

Kann nur hoffen, dass kein Ameisenfreund diese Story liest...

 

Hallo Kyra,

da ich selbst Lehrer bin, kann ich mit der Geschichte sehr viel anfangen. Ich darf zunächst die Sätze zitieren, die mich im Innersten berührt haben, weil sie eigentlich auch auf mich selbst zutreffen.

"Aber sie genoss trotzdem Respekt, weil sie gerne jede schwierige Klasse übernahm..." Ja, genau so ergeht es mir auch. Es gibt auch bei uns eine Reihe von Kollegen, die sehr viel Aufhebens machen von ihren modernen Methoden, die aber vor jeder schwierigen Unterrichtssituation hilflos kapitulieren. Und wenn man dann nachher mit seinen alten, konservativen Methoden kommt, aber mit einer Klasse gut zurechtkommt, vor der andere kneifen, dann erntet man keinesfalls Dankbarkeit, Lob oder Anerkennung, sondern man erfährt Neid und Missgunst, wird als Eigenbrötler abgetan, und kann in den Gesprächen durchaus nicht die Rolle spielen, die einem eigentlich wegen der wirklich erbrachten Unterrichtsleistung zustehen würde.

Ein anderer Satz ist mir ins Auge gestochen: "...bemerkte sie sofort, dass die meisten Kinder umgesetzt worden waren. Der Klassenlehrer wollte für mehr Ruhe sorgen." Eine ganz ähnliche Situation habe ich auch schon erlebt. Eine Schülerin, die zugegebenermaßen viel schwätzte, wurde isoliert gesetzt, und ich habe diese Maßnahme nicht mitgetragen. Weil ich der Meinung war, dass jede Form von Diskriminierung in der Gruppe pädagogisch nicht sinnvoll sei. Ich sehe die Augen der Isabel, so hieß die Schülerin, noch heute vor mir. Man kann einen jungen Menschen nicht in eine Randsituation hineinbugsieren, bloß weil man selbst mit der Gesamtlage einer Klasse nicht fertig wird. Es gab damals ein langes Nachspiel.

Zwei Punkte, die mich aus dem Text angesprochen haben, weil sie lebensnah beobachtet sind. Ameisen leben zusammen in einem durch die Natur geordneten Staatsgefüge. Die Aufgabenverteilung hilft ihnen, das Chaos einer Großgruppe in eine sinnvolle Ordnung zu verwandeln. Schüler sind keine Dummies. Man muss ihnen viel Geduld entgegenbringen. Man darf auch keine Idealvorstellungen von Ordnung und Leistung mitbringen und ihnen aufoktroyieren wollen. Aber man kann mit den Schülern sehr viel Freude erleben und, vor allem, man erhält sich die eigentliche Jugendlichkeit und seelische Beweglichkeit. Wenigstens glaube ich, dass es so ist.

Viele Grüße!

Hans Werner

 

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