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Serie Andenplatz (1)

Monster-WG
Beitritt
10.07.2019
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Anmerkungen zum Text

Der erste Teil eines Novellenversuchs. Sehr, sehr viel Text, ich weiß. Erwarte von niemanden, dass er ihn komplett liest. Funktioniert der Text? Ist er zu hämmernd? Vielen, vielen Dank für's Kommentieren. Und bitte keine falsche Scheu vor Negativem, wenn er Mist ist, dann ist er Mist. Danke :-) Lg kiroly

Andenplatz (1)

Elbrich formt einen Schneeball für seinen Bruder und sagt: „Drücke ihn. Erwärme ihn. Lass ihn anschmelzen. Löse den Druck. Ausschlagarm, Abstoßfuß, Wurf. Die Flugbahn wird präziser, der Schneeball trifft.“
Sein Bruder trifft nie, die anderen ihn.
„Dein Körper, Bruder“, seufzt Elbrich, „es ist dein Körper."

In der Grundschule lernten sie die Jahreszeiten des Tieflands kennen. Dort schneit es im Winter, im Sommer nicht. Doch hier in der Bergstadt bricht Sonnenlicht zu ganz eigenen Jahreszeiten. Pfirsiche reifen neben Trauben, die vereisen. Winteroliven, Herbsttomaten, Sommerwurzel. An schattigen Orten übersteht der Schnee die Sommermonate.
„Das nennt sich Jahresschnee“, erklärt der Elbrich: „Das ist der Schnee, mit dem wir im Juli die fetten Touristen am Andenplatz bewerfen.“
Der Bruder lächelt verkniffen.
Später trennen sich am Andenplatz ihre Schulwege. In den kleinen Gassen verirrt sich der Bruder oft, obwohl er schon immer hier lebt.
Fährt Elbrich den Berg hoch, beobachtet er seinen Bruder aus der Bahn. Aus dem Bruder wird Passant und aus dem Passanten ein Pünktchen. Bevor die Bahn in scharfer Linkskurve und mit hohem Warnpfiff in den Tunnel einfährt, hat Elbrich die Augen geschlossen.

Hat jemand den brüderlichen Körper repariert? Seine Teile formen keinen geschlossenen Körper. Sie scheinen an den Rumpf montiert zu sein. An der linken Seite zu fest, an der rechten Seite zu locker angezogen. Die Finger stehen in schiefer Reihe. Die Zehen verhaken sich unter Frost. Das Gangbild ruckartig, das rechte Knie leitet die Bewegung des Oberschenkels verzögert an Unterschenkel und Fuß. Der Bruder hinkt. Elbrichs Traum: Ein Arm oder ein Bein schraubt sich aus dem Rumpf des Bruders. Der Bruder bemerkt den Verlust nicht. Er steigt in die Zahnradbahn am Andenplatz ein. Die Fahrgäste blicken in andere Richtungen. Ein Kind schreit und zieht den Notbremshebel, die Bremswucht schleudert den Bruder zu Boden, alle Rippen brechen in kleine Knochenteile. Eine Lache rot wie eine Suppe von Roten Beeten. Elbrich wacht auf, blickt zur anderen Zimmerseite. Sein Bruder schläft tief und gut. Man könnte ihn für tot halten, wenn man’s nicht besser wüsste.

Eines Tages beendet der Bruder die Schule. Er kommt nach Hause und legt sich ins Bett. Er zieht die Decke über den Kopf und schläft wochenlang. Bis Elbrich, der Pfirsich ist in der Julisonne gereift, die Decke vom Bruder reißt.
„Lehrstelle! Bewerbung! Ins Leben starten!“
Er greift seine schiefen Füße, Klumpen aus verwachsener Haut. Zerrt den Körper auf den Boden. Schleift den krummen Körper in die Dusche. Braust ihn mit kaltem Wasser ab, mit sehr kaltem Wasser. Das Wasser der Bergstadt fließt aus Schächten des andinen Gebirges. Der Gebirgskern hat es auf wenige Grad über Null gekühlt. Der Bruder reißt die Augen auf, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Elbrich weiß: Weißes Licht und Kälte lassen die Wirklichkeit erkennen. Hatte nicht das der Vater behauptet? Die Augen des Bruders rot vom langen Schlaf.
„Keine Betriebe mit Handwerk oder einem einfachen Handwerk, eines ohne große Belastung, ohne Kontrolle, mit sicherer Zukunftsperspektive“, spricht Elbrich. Der Bruder ein nasser, knochenloser Sack.
„Kein Geld ohne Fleiß. Kein Aufstieg ohne harte Arbeit“, spricht Elbrich.
Er wirft ihm ein Handtuch hin. Der Bruder trocknet seinen Körper.
„Die Zahnradbahn sucht immer. Kondukteure werden am Andenplatz immer gebraucht. Schau, die weiße Uniform, die Ehre, der Bergstadt zu dienen, krisensicherer Arbeitsplatz, betriebliche Altersvorsorge. Sie suchen immer jemanden wie dich“, spricht Elbrich.
Und fügt in Gedanken hinzu:
Mit deinem reparierten Körper, deinen Noten, ein So-Jemand, der Tickets abstempelt und Zahnräder mit Stahlpinsel einfettet. Ein So-Jemand für Hand an Hebel, Bahn fahr‘ hoch, Bahn fahr‘ runter, so jemanden braucht’s im Bahngewerbe. Du bist gut geeignet. Ich bin für dich da.
Der Bruder bewirbt sich am selben Abend.
Er wird angenommen.

In der Kondukteursabschlussprüfung, Theorie II, erhält jeder Prüfling einen roten Stift und einen Gleisplan: Man solle die Gleise rot ausleuchten, die bei Durchfahrt des Zuges von Adorf nach Cdorf gesperrt werden. Der Prüfer ist ein alter Mann. Er hat ganze Generationen in die Prüfung begleitet, junge Frauen und Männer über den Rand der Kindheit ins Arbeitsleben geführt. Er riecht die Souveränität der guten Prüflinge und die Verzweiflung der schlechten. Bei diesem jungen Herren mit krummen Rücken zweifelt er, zweifelt er sehr, er spürt, dass er ein guter Hilfsschaffner wäre, ein Weichenwärter oder ein Streckenläufer, aber ein Kondukteur? Der Zahnradbahn? Der Bergstädtischen Zahnradbahn von 1868, die erste in der Nation, Innovationsquelle für das Zahnradbahnwesen weltweit? Deren Ingenieure auf allen Kontinenten Zahnradbahnen errichteten, selbst in Zeiten des bösen automobilen Wahns?
Er legt ihm den Gleisplan hin. Er legt den roten Stift zur Linken. „Sechzig Minuten, ab – jetzt.“
Der Bruder malt sofort, schraffiert, folgt der Logik der Signalgebung, radiert. Auf freie Fahrt B1 folgt Sperre C2, aber die Wenn-Dann-Regeln verdichten sich zu einem intensiven und intensiverenRot. Radiert, schraffiert, jetzt dickes Rot auf Gleis eins. Malt. Der Todesstoß für jedes technische System: Eine losgelöste, irrende Logik, die anarchisch die Schalter umlegt, denen der Mensch gehorchen soll. Der Bruder malt und malt und malt. Noch zehn Minuten. Schraffiert. Radiert. Noch fünf Minuten.
„Bitte legen Sie den Stift zur Seite.“
Bei Abgabe leuchtet der Gleisplan wie eine offene Wunde. Der Prüfer nimmt das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ergebnis in zwei Wochen“, brummt er.
Der Bruder humpelt aus dem Raum.
Er kommt heim.
Zwei Wochen schläft der Bruder. Bestimmt ist er erschöpft, denkt Elbrich, von dem Prüfungsmarathon.
Es ist Elbrich, der die briefliche Urkunde der Berufsschule öffnet. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die Abschlussprüfungen zum Kondukteur/in, Fachbereich Zahnradbahnwesen bestanden. Eine ferne Bitte der Zahnradbahngesellschaft: Wir brauchen doch die Kondukteure! Wer fährt schon von Adorf nach Cdorf! Vom Andenplatz müssen die fahren! Die Kondukteure! Die jungen Leute! Der Prüfer drückte beide Augen zu ...

Die jungen Leute.
So lädt die Zahnradbahngesellschaft die jungen Leute zur Abschlussveranstaltung ein. Es gibt Schnittchen und Sekt und Orangensaft für die Minderjährigen. Die Verleihung der Kondukteurslizenz erfolgt vor der Glasfront der frisch sanierten Andenplatz-Station.
Wimpel, Urkunde, Händedruck. Foto für die Bergstädtische Allgemeine, Scheitelschnitt. Weiße Uniform. Passanten, die applaudieren. Manch‘ einem Kondukteur sprießt ein bisschen Flaum über der Oberlippe. Die Worte des stellvertretenden technischen Geschäftsführers schmelzen den letzten Jahresschnee. Die Zukunft, die Sonne, die Arbeit und die Lust.
Er sitzt ein bisschen schief, der Bruder. Auf einem ausklappbaren Plastikstuhl, ohne Polster, dafür mit einer Lehne, die seine Skoliose gut abfedert. Doch die weiße Uniform scheint die Krümmung zu verstärken, die Wirbelsäule formt einen Bogen, der überspannt. Neben ihm sitzt Elbrich. „Entspann‘ dich“, flüstert ihm Elbrich zu. „Sei stolz auf dich.“ Die Hand des Bruders hält er nicht. „Sei stolz auf dich.“
Der Bruder sucht diesen Stolz. Den Stolz zu hören, der wie ein pochender Herzschlag einen Menschen durchs Berufsleben treibt. Seine Wirbelsäule will zum Sternum drücken, Säfte, Kräfte, Gewebsteile pressen dagegen, alles Innere führt einen Kampf um die korrekte Statik. Er spürt nur das und das Gefühl ändert sich nicht, ein Körper, der nie die Balance finden wird, die es braucht, um auf beiden Beinen zu stehen. Er spürt die Sucht nach dieser Ruhe in sich. Er wünscht sich das Bett. Seinen wochenlangen Schlaf.
Nach der Veranstaltung köpft Elbrich eine Sektflasche.
„Jetzt bist du im Leben angekommen“, sagt Elbrich und schenkt sich ein, dass der Sekt über den Glasrand auf den Schnee des Andenplatzes tropft. „Jetzt hast du was eigenes.“

Und dann verlässt auch Elbrich die Stadt. Zwei Koffer, ein Mantel, die Kleider, die er am Leibe trägt. Ein Stipendium. Elbrich beginnt ein medizinisches Studium im Tiefland. Sein Bruder hat an jenem Tag Depotdienst. Er fettet das große Zahnrad ein.
Jahre später legt Elbrich ein medizinisches Examen ab. Er beginnt seinen ärztlichen Dienst.

Jahreszeit folgt Jahreszeit. Elbrich sendet Briefe. „Der Frühling im Tiefland", schreibt er, „entspricht dem Frühling, den wir in der Schule lernten. Je länger die Tage, desto bunter die Wiesen im Park."
Selten schreibt der Bruder eine Postkarte. Es gehe ihm gut. Es gehe ihm sehr gut. Er mache Urlaub an einem Bergsee. Die Arbeit mache Spaß.
Jahre vergehen.


In der Frühstückspause klingelt das externe Telefon der Nervenstation.
„Herr Elbrich, Ihre Frau.“
„Meine Frau?“
Die Azubine hält ihm wortlos den Hörer hin.
„Eine Kollegin deines Bruders hat vorhin angerufen“, sagt Elena: „Es gab wohl einen Unfall an der Zahnradbahn.“
„Mein Bruder?“
„Nein, eine Kollegin.“
„Ist er verletzt? War es ein schwerer Unfall?“
„Ich weiß es nicht.“
Ob etwas passiert sei, fragt der Oberarzt. „Mein Bruder ist verunglückt.“ Schwer? „Ich weiß es nicht.“
Der Oberarzt stellt die Tasse Kaffee ab.
„Fahren Sie jetzt heim. Jetzt. Ich stelle Sie frei. Die Azubine ruft Ihnen ein Taxi. Sie rühren keinen Schritt allein. Sie verlassen das Taxi und gehen direkt zu Ihrer Frau. Haben Sie das verstanden?“
„Ja. Danke. Mein Bruder arbeitet bei der Zahnradbahn.“
„Gut. Sie sind jetzt aus dem Dienst entlassen. Informieren Sie mich.“
Der Taxifahrer beeilt sich. Ein Arzt, der um diese Uhrzeit das Klinikum verlässt? Das ist etwas Privates. Beim Einsteigen schaltet er das Radio aus. Sie brauchen zehn Minuten.
Elena öffnet die Tür, ehe Elbrich geklingelt hat.
„Ich habe keine weitere Info. Nichts. Ich habe versucht die Kollegin zu erreichen, aber nichts.“
„Ich fahre in die Bergstadt.“
„Soll ich mitkommen?“
„Nein.“ Elbrich reißt einen Koffer aus der Schrankwand und packt ihn schnell.
„Informier mich!“
„Du mich auch“ – das Taxi hat gewartet.

Der Vormittagsexpress braucht vierzehn lange Stunden bis in die Bergstadt. Elbrich sucht die Nachrichtenportale nach Informationen ab. Von acht Verletzten ist die Rede und von Schuldursachen, die mehr oder minder um den Kondukteur kreisen.
Eine Mitreisende beschwert sich über sein Fingertrommeln gegen das Abteilfenster. Elbrich formt die Hand zu einer Faust und hält sie mit der anderen Hand geschlossen. Die Mitreisende beobachtet ihn, sagt aber nichts.
Ehe Elbrich das Gebirge vom Zugfenster sehen kann, hat die Nacht begonnen.
Sich an einen Ort von Bedeutung tragen, heißt: Zwei mentale Bilder abgleichen. Nicht aus dem, was war, agieren, sondern das, was ist, akzeptieren.

Der Express erreicht die Bergstadt. Elbrich steigt aus. Vom Talbahnhof ragt die Südflanke hoch zum Andenplatz. In wenigen Häusern brennt Licht, die Bergstadt sucht Traum und Schlaf, manche finden ihn, andere simulieren ihn. Elbrichs Blick folgt der Oberleitung der Zahnradbahn, die in Berg und Stadt mal verschwindet, sich dann zeigt, tarnt und aufdeckt, wie ein geheimes Versprechen, das in die Wahrheit drängt, sich dann zurückzieht, unsicher bleibt.
Und jetzt?
Sein Bruder liegt irgendwo in dieser Stadt.
Die Oberleitung führt ihn zu einem Punkt. Er blinkt blau, der kleine Punkt. Das sind die Rettungsfahrzeuge und die Technische Inspektion, die Polizei und die Feuerwehr. Das ist der Andenplatz.
Die Berge nehmen den schwarzen Nachtbogen der Stadtränder auf und reichen ihn an den Himmel. Stadt, Berg und Himmel schließen einen Orbit für den, der ihn erkennt.
„Ich habe“, schreibt er Elena: „keine Nachricht von meinem Bruder. Rufe mich sofort an, wenn es anders ist. Ich fahre zu seiner Wohnung.“
„In Ordnung“, schreibt Elena. „Ich bin für dich da. Sei vorsichtig“

Der Bruder lebt in einer Betriebswohnung der Zahnradbahngesellschaft. Das Abendfoto zeigt die zerstörte Glasfassade der Andenplatz-Station. In einem Meer aus Kristallen steht die intakte rote Zahnradbahn. Acht Verletzte. Und wie? Und wer? Keine Angaben. Die Bahn hatte die Glasfront der Andenplatz-Station durchstoßen und war auf dem schneebedeckten Platz vor dem Denkmal zum Liegen gekommen. Über die Fahrerkabine hat sich ein Pulver aus Glas, darüber eine dünne Schicht Schnee gelegt. Elbrich trommelt gegen die Scheibe, den Heimatlosen stört das nicht.
Aus einem Felsen gehauen, vier Stockwerke. Handkraft ersetzte das Baumaterial, Holz war teuer in der Zeit vor der Eisenbahn.
Mehrere Personen rauchen vor dem Eingang, der dunkler wirkt als die Hauswand; wenn Dunkelheit scheinen könnte im Sinne eines Blendens, einer Macht im Eindruck, hier täte sie es. Die Bergstadt kehrt das Licht in Dunkel um. Ihre Zigaretten leuchten beim Inhalieren wie kleine, giftige Pünktchen auf.
„Reco?“, fragt eine weibliche Stimme.
„Nein.“ Elbrich keucht. „Ich heiße Elbrich. Mein Bruder ist heute verunglückt.“
Die Person, die nach Reco gefragt hat, drückt die Zigarette in einer Hausnische aus.
„Ihr Bruder war der Kondukteur?“
„Wahrscheinlich.“
„Ach, Sie sind das.“
Die Frau winkt ab.
Elbrich versteht sie nicht.
„Wissen Sie, wie es ihm geht?“
„Klinik.“
Elbrich reicht ihr die Hand. Die Frau zögert. Dann gibt sie ihm die Hand.
„Kann man ihn besuchen?“
Die Frau zieht die Hand zurück.
„Ich hab' deine Frau informiert. Beruhige dich. Du kriegst vom Keuchen noch tote Lunge. Ich muss zum Depot, ich sage dir alles Wichtige. Ist nicht viel.“
Die Frau bückt sich und schnürt ihre schweren Sicherheitsschuhe. Sie steht auf.
„Los, komm mit.“
Sie gehen einen anderen Weg. Die Treppe führt zu einer kleinen Station am Südende des Stadtviertels. Mondloser Himmel. Das Viertel schläft ...
„Hat keinen gewundert, das Unglück.“
„Warum?“
„Naja ... “
„Ich schätze die direkte Art der Leute hier.“
„Direkt?“ Sie lacht auf. „Das höre ich zum ersten Mal. Meist sagen die Bergstädter nie das, was ist.“
Die Treppe endet. Sie setzen ihren Weg über eine Straße aus grob behauenen Pflastersteinen fort. Trotz spärlichen Straßenlichts sehen sie die Hauschläge an den Steinen. Ihre Schuhsohlen knirschen.
Die Frau zündet sich eine Zigarette an. „Er hatte nicht das Feingefühl für eine Bahn“, fährt sie fort: „Er bremste manchmal zu stark und manchmal zu schwach. Das Bremsen, das ist die große Kunst bei der Zahnradbahn. Viele vertrauen dem Steigrad, denken, Bremsen sei in der Zahnradbahn einfacher. Das ist es nicht. Das ist es überhaupt nicht.“
Elbrich schweigt.
„Ihr Bruder liegt im Universitätshospital, meines Wissens. Fragen Sie da nach. Mehr habe ich nicht.“
„Kann ich Ihren Namen erfahren?“
„Nein. Das reicht. Ich muss jetzt zum Depot.“ Sie zeigt auf ein leuchtendes Gebäude einige hundert Meter bergauf. Es könnte ein Bunker sein, deren Besatzung sich eines Sieges sicher ist. Er leuchtet zu hell, um getarnt zu sein.

„Er hat ausdrücklich betont, dass er sich keinen Kontakt wünscht“, wiederholt die Empfangskraft am Universitätshospital, Osteingang.
„Ich bin sein Bruder.“
„Er hat diesen Wunsch geäußert und diesem leisten wir Folge.“
„Er steht unter Schock. Ich bin sein Bruder.“
„Entschuldigen Sie, das weiß ich inzwischen.“
„Kann ich ihm was ausrichten?“
Die Empfangskraft am Empfangstresen reißt einen Zettel ab. „Sie können etwas aufschreiben.“
Elbrich setzt den Stift an. Jetzt fehlen ihm die Worte. Die Empfangskraft hebt die Augenbrauen. Ruf mich an, wenn du was brauchst.

Doch der Bruder ruft nicht an.
Er ruft nicht in der Woche an, nicht im Monat an, er ruft nicht im Sommer an, der im Tiefland einer Vorstellung von Jahreszeiten folgt, wie sie Elbrich in der Grundschule gelehrt wurden: Heißer Sommer, grüne Blätter, die Menschen halbnackt an stillen Gewässern liegen.

Was von der Aggression übrig bleibt, ist dem Frust gewichen. Elbrich spürt den Zerfall jeder Handlung. Die Bergstadt verfremdet ihre Gassen vor ihm. Die Abscheu wächst vor dem Teil der Identität, die auf Sorge und Wohl zum Bruder beruht. Elena arbeitet jetzt Teilzeit, plant die schönen Dinge eines Wochenendes, berührt ihn und er berührt sie und sie berühren sich und lassen es beim Berühren bleiben. Elbrich kann die Zeit nicht fassen, obwohl er dienstlich funktioniert und dienstliches Funktionieren ist das Abarbeiten der Frühschicht, der Spätschicht, der Nachtschicht und der 24-Stunden-Schicht. Der Dienstplan hält die Struktur, die er jetzt braucht, um sich im Alltag zurechtzufinden. Sie gibt dem, der die Zeit verliert, eine Orientierung, eine einzige Orientierung, die sein Leben auf die eingelernte Tätigkeit des Berufslebens reduziert. Elbrich flucht viel. Sein Fluchen wird mit den Wochen stiller. Er läuft auf und ab, verschreibt sich selbst ein Beruhigungsmittel. Elena umarmt ihn, schützt mit ihren dünnen Armen seinen vor Frustration vibrierenden Körper. Sie spürt die Energie, die in ihm umwälzt und pulsierend warm durch die Nacht treibt.
„Nehmen Sie den Jahresurlaub vor“, empfiehlt der Oberarzt. Seine Schwestern nicken. Alle tragen das Gesicht der Sorge.

Erster freier Tag.
Anrufe in die Bergstadt.
Eine Mitarbeiterin der Bahngesellschaft verplappert sich, der Bruder sei in einem Inselsanatorium, eine andere behauptet, das Rehazentrum der Zahnradbahn habe ihn aufgenommen. Sofort fährt Elbrich in die Bergstadt: Unbekannt verzogen, die Bahngesellschaft hat den Bruder beurlaubt. In der Wohnung lebt ein Azubi mit seiner spanischen Freundin, sie denken erst, er sei ein Nachbar ihres bösen Vaters aus Andalusien. Wer die Wohnung ausgeräumt hat? Keine Ahnung, sie war leer und kalt.
Tage des Sammelns. In einem Restaurant in Klinikumsnähe erfährt Elbrich über eine Chirurgin von der Schwere der acht Verletzten. Alle haben überlebt, klar. Sie mussten ein deutsches Operationsverfahren aus den 30er Jahren einsetzen: Der Unterschenkel wird amputiert, der Fuß an den Oberschenkel gesetzt, die Ferse dient als Kniegelenk. Elbrich wird schlecht, er erbricht im Klo. Seifenspülung, weiter befragen. Und was waren das für Leute? Männer, Frauen, Kinder? Keine Ahnung, ich habe es von einer Kollegin und sie von einer Kollegin und sie von einer Kollegin … Elbrich schläft schlecht. Geschwächt vor Übermüdung kehrt er ins Tiefland zurück.

Elena hat ein sehr, sehr gutes Risotto vorbereitet. Er isst nicht viel. Er mag das Schlonzige nicht, sagt er.
„Er ist verschwunden. Der Bruder.“
„War er das nicht immer?“, fragt Elena.
„Wie meinst?“
„Er war ja immer irgendwie anders. Sein Körper, du hast immer von seinem Körper geredet. Und was er tun muss.“
„Ja und? Ja was?“
„Ich weiß nicht.“ Elena zeigt ihm beide Handflächen. Vor ihr dampft das Risotto. „Diese Geschichte, wie er die Schule verließ …“
„Was? Was?“
„Ohnehin die ganze Kindheit. Die Mutter nie da und immer am Arbeiten, du erziehst ihn. Ist ja schon eine Form der Abwendung. Der Kehrtwendung. Ich weiß nicht. Vielleicht wartest du.“
„Auf was?“
„Dass er kommt. Dass er sich eines Tages meldet. Er wird es. Vertrau‘ mir.“
Vertrau‘ ihr doch.
Der Dienstplan teilt ihn für die erste Woche die Nachtschichten zu.

Nachtschichten.
Die Patientin hatte einige Anfälle, die auf Epilepsie hindeuten. Zweifellos, eine Verdachtsdiagnose. Sie schläft im Raum 43, dem Spezialraum zur Langzeit-EEG-Messung. Das Licht lässt sich dimmen und die Wände sind in hellem Blau gehalten. Elbrich ordnet ein EEG von 24 Stunden an und der Oberarzt nickt, ja, was sonst, Elbrich, was sonst, seine Worte wiederholt, bis jeder im Stationszimmer sich auf Elbrichs Gesicht konzentriert.
Das Kind hat einen Plüschpinguin mitgebracht, der abwechselnd „Antarktis“ und „Weddelmeer“ sagen kann. Seltene Worte für eine Achtjährige, denkt Elbrich.
Elbrich trommelt gegen den Überwachungsmonitor. Plötzlich leuchtet die Zimmerblinke über Raum 43 rot auf. Das Kind hat die Nottaste gedrückt, bevor es bewusstlos zur Seite gesackt ist. Es atmet schwer, der kleine Brustkorb hebt und senkt sich. Hyperventilation. Ein epileptischer Anfall. Eine Spur Blut aus dem Mundwinkel, den der hyperventilierende Atem zu Schaum schlägt. Der Körper ganz seltsam verdreht.
„Kannst du mich verstehen?“
Das Weiße der Augen wird sichtbar, die Augäpfel tanzen in den Höhlen, aber der Körper zittert leise, schwaches Zittern, ein Vibrieren aus dem Inneren des jungen Körpers, als täuschten die Nerven einen Anfall vor. Elbrich polstert ein Kissen über die Bettkante, um den Kopf zu schützen. Das Bettlaken nass vor kindlichem Schweiß. Die Arme hängen schlapp ab. Die Luft riecht säuerlich. „Verstehst du mich?“, ruft Elbrich. Ihr Körper rutscht ab. Da liegt sie wie ein nasser, warmer Sack. Eine Elektrode der EEG-Haube ist abgeplatzt. Die Tür schlägt auf, der Nachtpfleger stürmt herein, „Mensch Elbrich, was guckst du blöde!“ Schreit auf den Monitor. Schreit auf Elbrich. Elbrich blickt zum Monitor.
Fünf Hirnfrequenzen. Sie schwimmen auf dem blauen Grund des Monitors. Sie ziehen lange, lange Fäden wie die Tentakel eines Tintenfischs in einem sehr tiefen, tropischen Ozean. Dort ist dunkel, aber sehr warm. Der Sinusknoten am Herzen hat vor Minuten sein letztes Signal gegeben. Das Blut ruht in den Herzkammern. Die Synapsen im Hirn warten auf den Sauerstoff. Alle chemischen Botenstoffe schweben im Plasma. Was schweben kann, löst sich auf. Was fließen kann, sackt ab. Niemand nimmt etwas an. Niemand gibt etwas weiter. Der Stoffwechsel beruhigt sich.
Es ist der Pfleger, der Elbrich wegschubst, schreit, reagiert, das Krankenhaushemd mit den kleinen, grünen Kästchen aufreißt, den rechten Arm auf die Stelle über dem Herzen stemmt, den linken auf sein breites Kreuz zurücklegt, und drückt, und schreit, und drückt, und schreit vom Defi, schreit, schreit einfach nur, wie es Elbrich noch nie gehört hat. Aber Elbrichs Körper folgt nicht der Pflicht, die zu tun ist.
„Sie werden beurlaubt“, erklärt der herbeigeeilte Oberarzt Minuten später. „Sofort. Beurlaubt. Bringen Sie das mit ihrem Bruder in Ordnung. Informieren Sie mich. Gehen Sie heim. Schwierig. Abmahnung. Los. Zur Info: Die Kleine hat es überstanden. Gehen Sie. Die Azubine bestellt Ihnen ein Taxi. Ich will sie hier nie wieder sehen. Los. Raus hier.“
Er kehrt heim. Er legt sich neben Elena. „Ist was passiert?“

Elbrichs Körper hat in Minuten der Reanimation und Nicht-Reanimation die Energie verbrannt, die ihm für Monate zur Verfügung stand. Jetzt arbeitet sein Körper aus der Reserve für Puls und Atmung, für Verdauung und wenige, einfache Denkprozesse. Ob Hunger oder Durst, ob sein Körper Wärme oder Kälte benötigt, kann er nicht beurteilen. Über die Reize unklar, die er braucht, ruht sein Körper unter der Sommerdecke im Schlafzimmer.

Seine Apathie, sie bleibt.

Die Haut erbleicht, wird schuppig, ein Ekzem bildet sich auf der Innenseite des rechten Oberschenkels. Er kann den Namen seiner Frau benennen, E und -lena, die ihre dünnen Arme um ihn schlägt, ihm die Wärme zukommen lässt, die seinen kalten Körper und Verstand zurück in den Alltag holen soll, so ihr Wunsch. Alltag, Alltag, so lautet ihr einfacher Wunsch: Sich über die Baustellen aufregen, die die Straßenbahnen umleiten oder sich über das verwürzte Risotto beschweren, das Elena zu stark pfeffert und Elbrich zu schwach salzt. Sonntags den Rasen mähen, Tulpen einpflanzen, das Beet harken, freitags auf das Wochenende mit einem Glas Rotwein anstoßen, sich vorsichtig an das Thema Kinder heranwagen, wenn das geht. Elena organisiert diesen neuen Alltag, führt Energiestoffe zu, hält Kreisläufe in Gang, nach Elbrichs Kündigung das Haus im Finanzrahmen, beantwortet Fragen von Kollegen, Freunden, ja sogar vom ehemaligen Pflegepersonal, das sich sorgt, aber sich mit den Wochen ans Sorgen gewöhnt. Der meteorologische Herbstanfang ist der eines Sommers nach Temperatur und eines Herbstes nach Farben. Der schönste Herbst seit Jahrzehnten, schreiben die Zeitungen des Tieflands, ein Indian Summer bei uns, hier, im Tiefland. Sie überbieten sich in der Beschreibung der Blattfarben, von Sonnenstücken ist die Rede, von „Rubinlicht“ und „Eigelb“ oder einem Gelb, das jedes andere Gelb zu „vagem Blass“ verkommen lässt, an dem jeder Leuchstoffmeister seine Stoffe eichen lassen werde.

Elena und Elbrich frühstücken. Es fällt Elbrich schwer und Elena fällt es schwer, dass es Elbrich schwer fällt. Der Mann öffnet sich im Tempo einer neuen Jahreszeit. Aber er öffnet sich und Elena bleibt optimistisch.
Sie liest den Teil mit Nachrichten aus der Nation. Kleinere und größere Meldungen.
„Ist alles in Ordnung?“ Elbrich fragt.
„Der Prozess“, Elena stottert beim Vorlesen, atmet durch, sie liest flüssig und schnell: „gegen den Kondukteur des Andenplatz-Unglücks vom März dieses Jahres beginnt heute. Die Staatsanwaltschaft wirft fahrlässige schwere Körperverletzung vor … gefährlicher Eingriff in den Eisenbahnverkehr …“
Sie hält ihm die Zeitung hin. Ein Foto der Unglücksstelle. Die Bahn unter glasigem Schnee.
Ein Foto des Kondukteurs. Er trägt eine weiße Uniform. Der rechte Arm ragt weiter herab als der linke.
„Wenn du in die Bergstadt fährst“, bestimmt Elena: „Komme ich mit und ich erwarte keine Widerrede. Wo du bist, bin ich auch. Verstanden?“

 

Hallo @kiroly,

vielen Dank für deine Erläuterungen, hat mir weitergeholfen. Ich möchte noch kurz auf ein paar Anmerkungen von dir eingehen:

Der Text hat für Dich Zug entwickelt, das hat mich besonders gefreut. Im vorletzten Satz schreibst du "ein fesselnder Text" - schön!
Auf jeden Fall, das ist schon etwas besonders gewesen. Ich fand auch die Länge genau richtig.

Tatsächlich habe ich an den Unfall gar nicht gedacht. Im Traum ist der Bruder Fahrgast, beim Unfall jedoch Kondukteur. Aber es stimmt, hat man den ganzen Text gelesen, liest sich die Stelle anders. Mir ging es eher um Sorge, Mitgefühl, Da-Sein, Umsorge Elbrichs. Elbrichs Hirn simuliert; dass der Bruder nicht mal den Verlust eines Armes bemerkt, triggert Elbrichs Sorge, der Bruder werde im Leben nie ankommen. Dieses Ankommen ist ein Ankommen im Sinne Elbrichs, Elbrich legt das Ziel fest.
Interessant, dass du gar nicht an den Unfall gedacht hast. Das ergibt mit dieser Erläuterung jedenfalls Sinn.

Die Welt ist ja sehr künstlich, sehr eigen. Schon der Titel, Andenplatz ... irgendwie vertraut, irgendwie weit weg. Ehrlich gesagt: Lies' es so, wie es dir am besten passt :-) Mangelnder Lebenswille trifft es aber ganz gut, denke ich.
Guter Punkt mit dieser eigenen Welt, ja das stimmt schon. Also in diesem Sinne passt es gut, kann ich jetzt besser nachvollziehen.

... eine Anspielung auf den allgemeinen Azubi- und Fachkräftemangel in der Bergstadt (und in Deutschland), aber auch die seit 1970 einsetzende Entwertung von Berufsgruppen aus dem Mittelbau der Gesellschaft zugunsten aller Universitäten
Achso! Ja, verstehe ich. :-)

Ja! Richtig verstanden! :-)
Cool! Danke für die Rückmeldung.

Wünsche dir ein schönes Wochenende. :-)


Beste Grüße
MRG

 

Was einem Mythenjäger wie mir zuerst auffällt,

lieber kiroly,

ist der namenlose Bruder (oder hab ich den Namen etwa „übersehn?), vor allem aber der Name des mutmaßlich älteren Bruders (oder wer könnte unter Brüdern einem andern was erklären – und sei`s die Kunst, einen Schneeball zu formen), Elbrich [Elb(e) = Elf(e), ...rich = Herrscher, der auf „A“ umgelautete König der Dolomiten in den Theode-/Dietrichsagen und der Hüter des Schatzes im Nibelungenlied]. Daher auch mutmaßlich „der Elbrich“, nicht irgendeiner unter den Elben. Nun wäre interessant, den Altersunteschied zu wissen, denn zwischen Brüdern herrscht eher Konkurrenz als Bruderliebe, wenn die Geburten dicht aufeinanderfolgten … und dann erst der wortspielende Titel mit der musikalischen Notierung „an den Platz!“, der im Arbeitsleben (und so nebenbei auch Sport als ein „auf die Plätze“ und selbst im vermeintlichen Gesellschaftsspiel nur die Arbeitswelt verlängert (ich greif da immer gerne auf Schillers siebenten Ästhetischen Brief zurück, wenn es da heißt: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ und ansonsten ein Rädchen im Getriebe, womit wir allsogleich auf die Zwergenwelt zurückkommen, wenn festgestellt wird, dass die sieben Zwerge kleinwüchsige Menschen, also wahrscheinlich Kinder waren, die in den niedrigen Stollen des Bergbaus eingesetzt wurden.

Wie schon mal von mir an anderer Stelle behauptet: Du schreibst beste „Literatur der Arbeitswelt“!

Alles ansonsten schon gesagt, dass es immer wieder merkwürdig anmutet, noch Flusen zu finden, wobei die erste eher keine ist, aber wenn man gerade Schiller zitiert hat, fällt einem schon hier eine Diskriminierung auf

Elbrich formt einen Schneeball für seinen Bruder und sagt: „Drücke ihn. Erwärme ihn. Lass ihn anschmelzen. Löse den Druck
wenn allen Imperativen eine sichtbare weiche Endung im ...e gegönnt wird, „lassen“ aber besonders aggressiv und vor allem scharf wirkt ohne …

Weite unten gelingt es doch auch auf elegante Weise

„Los, komm‘ mit.“
mit Apostroph, der das Endungs-e verschwiegen und unhörbar mits(chw)ingen lässt

Sie scheinen an den Rumpf montiert [zu sein].
Da scheint nicht die Sonne mit Vollverb, die Montage bedient sich des Modalverbs „scheinen“ und darum der Infinitiv

Eine Lache rot wie eine Suppe von Roter Bete.
Soweit ich weiß „von Roten Beten“, schau aber selbst besser noch mal nach ...

Der Bruder reißt die Augen auf, als sei er aus einem bösen Traum erwacht.
Das „als“ klingt schon trotz Verschweigens sehr nach einer als-ob-Situation – besser also: „als wäre er …“, Konj. irr.

Sie gehen einen anderen Weg. Die Treppe führt zu einer kleinen Station am Südende des Stadtviertels. Mondloser Himmel. Das Viertel schläft[...]-

Die Abscheu vor dem Teil der Identität, die auf Sorge und Wohl zum Bruder beruht, wächst.
Warum eine sehr schwache Klammer, wenn es auch so geht „Die Abscheu wächst vor dem Teil der Identität, die auf Sorge und Wohl zum Bruder beruht.

Elbrich ordnet ein EEG von 24 Stunden an und der Oberarzt genickt, ja, was sonst, Elbrich, was sonst, seine Worte wiederholt, bis jeder im Stationszimmer

[sich] auf Elbrichs Gesicht konzentriert[...].

Das Kind hat die Nottaste gedrückt, bevor es bewusstlos zur Seite [ge]sackt ist.

Das Weiße der Augen wird sichtbar, die Augäpfel tanzen in den Höhlen, aber der Körper zittert leise, schwaches Zittern, ein Vibrieren aus dem Inneren des jungen Körpers, als täusch[t]en die Nerven einen Anfall vor.
Konj. II, wie oben ...

Da liegt sie da wie ein nasser, warmer Sack.

Auch in den Tragödien – ein Genuss, von Dear zu lesen und damit

schönen Sonntag aus’m Pott

Friedel

 
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Hallo @kiroly,

ich lese deinen Text wie ein Märchen. Zuerst dachte ich, es sei die lebendig gewordene Welt einer dieser aufwändigen Spielzeugeisenbahnen, wo extrem viel Detail drinne steckt. Dann dachte ich, nein, so wird er den Text nicht gelesen wissen wollen. Für mich liest sich das wie eine Inszenierung, wie ein surreales Theaterstück. Die ersten Sätze klingen auch manchmal wie die Texte, die auf den Tafeln bei Stummfilmen zwischen den Szenen stehen. Die jungen Leute, ein Beispiel. Mich hat es auch gewundert, als nachher eine Mieterin aus Spanien auftaucht - für mich ist dieser Ort der Erzählung seltsam enthoben, als würde der nicht wirklich existieren, als käme der aus einem Traum. Ich dachte, nein, das kann nicht sein. Spanien klingt echt, aber der Ort in deinem Text klingt nicht wie aus der Wirklichkeit entnommen. Das war spannend.

Du benennst einen Ort, du verortest deinen Text, Andenplatz, aber trotzdem bleibt der ganze Text enthoben. Du beschreibst manchmal diverse Örtlichkeiten, auch die Besonderheit mit dem Jahresschnee, aber diese Teile setzen sich nie zu einem Ganzen zusammen. Die Amerikaner würden sagen, da fehle sense of place. Das ist nur schwer zu beschreiben, was genau fehlt. Vielleicht hat das auch mit den Figuren zu tun. Deine Charaktere wirken im ganzen Text als seien sie rein zweckgebunden. Der Bruder der aufsteigt. Der andere Bruder, der körperlich lädiert ist und nie so richtig ins Leben findet und quasi immer stumm bleibt. Der wird zum Transporteur der Handlung, auf den zirkuliert sich ja alles. Er könnte auch eine andere Seite des Erzählers sein, dachte ich manchmal, gar keine eigenständige Persönlichkeit, sondern eine Art Abspaltung. Die scheinen auch auf eine merkwürdige Art ins Leben geworfen zu sein: keine Eltern, keine Freunde, keine soziale Struktur. Der Bruder kümmert sich wie ein Vater um alles. Die Frauen bleiben auch seltsam tonlos, seltsam farblos und werden zur rechten Zeit zu Stichwortgebern. Dein Bruder war aber doch schon immer so, oder?, so ähnlich sagt sie das beim Essen in der letzten Szene. In dieser ganzen Anordnung - wo sind da die Eltern? Müsste es nicht da schon vorher Konflikte gegeben haben? Wenn der Bruder als Lebensberater fungiert, was ist mit dem eigentlichen Vater? Der Mutter? Wo sind die? Er besteht zwar diese Prüfung, aber hätte es nicht schon vorher Schwierigkeiten gegeben? Wäre er nicht schon vorher auffällig geworden? Hätte man ihn nicht dieser Aufgabe entbunden und gesagt, das kann man diesem Mann nicht mehr zutrauen? Wäre der Bruder da nicht schon vorher benachrichtigt worden? Diese ganze Brüderpaar erscheint mir vollkommen aus jeder sozialen Struktur enthoben, als seien das Solipsisten. Mir wird auch nie klar, warum der Bruder jetzt so eine Verantwortung übernimmt. Was genau lässt ihn da so fühlen? Das ist in dieser Geschichte ein Axiom, es wird mir als Fakt präsentiert. Von Anfang an gibt er dem Bruder den Welterklärer. Aber warum genau? Der drängt sich in meinen Augen schon fast auf. Der Bruder ist vielleicht körperlich benachteiligt oder herausgefordert (keine Ahnung, wie das im PC-Sprech korrekt heißt), aber der ist doch nicht dumm. Kann der sich nicht alleine um Arbeit kümmern? Der Bruder wirkt an manchen Stellen übereifrig, paternalistisch. Vielleicht ist das so gewollt, doch er rennt dabei nie vor eine Wand, er reflektiert auch sein Verhalten nie selbst, sehr wohl aber für seinen Bruder. Ist das richtig? Kann ich das so machen? Ist das eventuell ein Fehler? Auch sein Umfeld tut das nicht. Da ist keiner, der sagt: Warum tust du das? Wäre es nicht so besser? Warum mischst du dich da ein? Nachher bekommt er die Rechnung, die große Ablehnung, die stumme, aber mächtige Geste, als der Bruder im Krankenhaus liegt und niemanden sehen will, auch ihn nicht, aber ich kann das nicht nachvollziehen, weil der Bruder sich nie selbst äußert, wie empfindet er das?, wie empfindet er diese aufgezwungene Lebenshilfe, das ist ja schon fast unterschwellig aggressiv, denn der Bruder um den es eigentlich geht, der bleibt immer eine Leerstelle. Ich verstehe auch nicht, warum der Erzähler das alles alleine tut, tun muss - was ist hier mit den Eltern, mit Freunden, mit anderen professionellen Hilfsangeboten, wo und warum kümmern die sich, bzw nicht? Der Erzähler reagiert dann ja auch sehr emotional,

Seine Apathie, sie bleibt.
wird apathisch, aber ich frage mich, warum? Vielleicht hat er seine eigene Verantwortung für seinen Bruder so hoch eingeschätzt, dass er das Versagen des Bruders als eigenes Versagen interpretiert, wahrnimmt. Er funktioniert dann nicht mehr, er funktioniert ähnlich schlecht oder unzureichend wie der Bruder, dann wäre es eine Motivdopplung innerhalb der Geschichte. Mir wird das dennoch nicht klar, ich kann es nicht nachempfinden, weil diese Verantwortung, dieses So-Sein der Brüder im Text einfach so eingeführt wird. Es lässt nichts darauf schließen, dass er so krass und fatal reagiert. Man fühlt sich schlecht, man macht sich Sorgen, man will sich kümmern, klar. Aber eine solche emotionale Wucht muss plausibel sein. Er bekommt somatische Beschwerden, ein Exkzem, er wird depressiv im Grunde, das sind schon schwere Geschütze, die du durchlädst, aber mir fehlt da das Kaliber, die Grundlage, das Existenzielle. Ich müsste sehen, wie die beiden nebeinander aufwachsen, wie es immer eine Kluft, wie sich der gesunde Bruder dem Schmerz annimmt, ihn in Gänze versteht und auch weiß, wie sich das im weiteren Leben auswirkt, denn so verhält er sich, wie eine wesentlich ältere, reifere Person, die vielleicht auch über ein Wissen verfügt, was sie gar nicht haben dürfte. Eine Szene, wo mir klar wird, warum der Bruder so eine beschützende Haltung einnimmt, die tiefere Wahrheit der Beziehung zwischen den beiden - Bruderliebe, das kannst du nicht einfach voraussetzen, ich kenne Brüder, die sich schon immer wie die Pest gehasst haben. Und es lässt ihn ja auch nicht los, als er schon lange im Tiefland Karriere macht, ist er bei seinem Bruder, es muss auch etwas mit dem Ort zu tun haben, da schwingt so eine Art poetischer Realismus mit, sie sind in diese Welt geworfen und eigentlich können sie diesen Ort nie ganz verlassen, er wirkt auf sie ein und verändert sie, da steckt Fatalismus drin, aber ich lese das, verstehe es aber nicht, bzw fühle das nicht. Wenn der Charakter des Elbrich so ist, müsste es sich auch in anderen Beziehungen ähnlich verhalten, es wäre kein rein singuläres Ding, Arbeit, Ehe, etc.

Zur Sprache. Du hast deinen eigenen Stil, deswegen ist es jetzt müssig darüber zu sprechen, ob und wie und überhaupt. Ich persönlich empfand die Sprache dem Text gemäß, oder eher dem Drama im Text, manchmal zu salopp, zu verspielt, sie führt dadurch vom Geschehen weg, sie suggeriert eine locker-flockige Sahnehaube, wo menschliche Tragödien, Systemversagen und bittere Wahrheiten stattfinden, wo es mehr Nüchternheit und Schlichtheit benötigt hätte. Wie gesagt, das nehme ich so wahr und vielleicht bin ich da mittlerweile auch zu radikal oder speziell, das kann sein.

Mich erinnert der Text an Gerard Murnane, einen australischen Autoren, der auf eine ganz ähnliche Weise schreibt.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @Friedrichard :-)

vielen Dank für's Lesen und Kommentieren!

Nun wäre interessant, den Altersunteschied zu wissen, denn zwischen Brüdern herrscht eher Konkurrenz als Bruderliebe, wenn die Geburten dicht aufeinanderfolgten …
Ja, auch jimmysalarymans Kommentar deutet ja an, mehr über die Brüder zu erfahren, ein "mehr" an sozialem Umfeld, an Alter, an Mutter und Vatter ... die Geburten folgen dicht aufeinander, definitiv, die Lehrzeit des Bruders entspricht der Oberschul-, Oberstufen- oder Lyzeumszeit (deutscher Bildungsföderalismus) Elbrichs. Vielen Dank für den Hinweis.
also wahrscheinlich Kinder waren, die in den niedrigen Stollen des Bergbaus eingesetzt wurden.
... was in Dresden und Leipzig zu bösen Witzen über kleine Menschen aus den Tälern der Zwickauer Mulde, der Chemnitz, der Zschopau geführt hat ...

Deine Flusenlese nahm ich zum Anlass, mir von Peter Heinrich - einem in der Deutsch-als-Fremdsprache-Szene bekannten Youtuber - den Konjunktiv I und II erklären zu lassen. Macht er sehr gut, der Peter :-)

Auch in den Tragödien – ein Genuss, von Dear zu lesen und damit schönen Sonntag aus’m Pott
Das hat mich sehr gefreut.

@Friedrichard :-) - ich wünsche einen guten Start in die Woche! Grüße in den Ruhrpott! Essen-Kettwig find' ich ganz scheee.

Lg aus dem Sumpf von Pleiße, Elster, Parthe,
kiroly

 

Hallo @jimmysalaryman :-)

mensch, vielen Dank für Deinen sehr, sehr guten Kommentar! Sehr hilfreich, gute Fragen ... danke :-)

Die Erklärungen, die ich dir auf Deinen Kommentar gebe, dienen nicht einer Rechtfertigung; sie dienen mehr mir als Schreiberling, die Beziehung zweier Brüder vor dem Hintergrund einer fiktiven Stadt, präziser auszuleuchten. Ich kann mich da erstmal nur bedanken, wirklich, vielen, vielen Dank.

Nach dem Lesen Deines Kommentars hatte ich sehr schnell eine Vorstellung, was sich an dem Text ändern sollte. Im Grunde eine Vorgeschichte - Andenplatz 0. Meine Idee hinter dem Text war es, eine Handlung zu probieren, eine Erzählung, die schnell voranschreitet und den Leser führt. Unterhaltung - mehr nicht. Daher die Idee, die Geschichte auf wenige Elemente zu konzentrieren, zwei Brüder, ein Unfall, schon Elena wirkte zu viel auf mich ... den wichtigsten Punkt kann ich sehr gut nachvollziehen:

Von Anfang an gibt er dem Bruder den Welterklärer. Aber warum genau? Der drängt sich in meinen Augen schon fast auf. Der Bruder ist vielleicht körperlich benachteiligt oder herausgefordert (keine Ahnung, wie das im PC-Sprech korrekt heißt), aber der ist doch nicht dumm. Kann der sich nicht alleine um Arbeit kümmern? Der Bruder wirkt an manchen Stellen übereifrig, paternalistisch.
Das ist für mich der wichtigste Punkt, vielen, vielen Dank dafür! Das Warum des Paternalismus wird ja bisher gar nicht erklärt, weder aus Persönlichkeit noch aus Umwelt. In einer ersten Fassung hatte ich die Vorstellung, sie leben in einer Art Gemeinschaftseinrichtung. Schwieriges soziales Umfeld, die Bergstadt als ein Ort strenger Hierarchien, Elbrich als derjenige, der in der schwierigen Lage die Motivation entdeckt, sich herauszuarbeiten (daher Medizin), anders als der Bruder, der sich in die Apathie versteigt ... es braucht einen Punkt, eine Entwicklung, die Persönlichkeit der Brüder reagiert auf etwas
Eine Szene, wo mir klar wird, warum der Bruder so eine beschützende Haltung einnimmt, die tiefere Wahrheit der Beziehung zwischen den beiden - Bruderliebe, das kannst du nicht einfach voraussetzen, ich kenne Brüder, die sich schon immer wie die Pest gehasst haben.
Aber ist es denn Bruderliebe, die zwischen Elbrich und dem Bruder vorherrscht? Liebe und Hass als Gegensätze ... deinen Kommentar lese ich als Wunsch nach einer differenzierten Ausarbeitung einer Beziehung zwischen zwei Brüdern. Meine Vorstellung ging eher in Richtung einer paternalistischen, fürsorglichen. Aggression bedeutet, dem anderen schaden zu wollen, hier ergibt sich das Gegenteil: Es ist ein ganz bewusstes Helfen-Wollen von Seiten Elbrichs.
Spanien klingt echt, aber der Ort in deinem Text klingt nicht wie aus der Wirklichkeit entnommen. Das war spannend.
Vielleicht bin ich da sehr naiv, aber mich wundert es immer wieder, wie wichtig eine "Verortung eines Ortes" in Realität oder Fiktion sein muss - als seien das zwei binäre Kategorien, die sich gegenseitig ausschließen. Vielleicht gebe ich der Stadt auch einen Namen, das mag stärker wirken. Vielleicht sowas wie Im Variszischen. :-D
Diese ganze Brüderpaar erscheint mir vollkommen aus jeder sozialen Struktur enthoben, als seien das Solipsisten.
Ja, eine soziale Struktur um die beiden Brüder existiert quasi nicht. Ich hatte die Idee, den Text komplett auf die beiden Brüder konzentrieren zu lassen - mir war es wichtig, die Fürsorge ins Zentrum zu stellen, aber auch ein Motiv übergriffiger Hilfe, ein Gut-sein-Wollen, das nicht gut wirkt. Der mangelnde Lebenswille des einen gegen den Ehrgeiz zum Aufstieg des anderen - der eine, eine Persönlichkeit, die Stück für Stück aufsteigt und ein Leben in Selbstverantwortung führt, der andere, der das gar nicht will und sich nur fremd fühlt, Worte aber gegen seinen Bruder nicht findet, sich dem Übergriff nicht entziehen kann. Elbrich versteht seinen Bruder nicht, glaubt aber, das Richtige für ihn geben zu können. Die fiktive Stadt ist hier eine Ausrede - diese fiktive bergstädtische Kultur ermöglicht es ja, beliebige soziale Strukturen zu erstellen. Das mag dem einen sehr unplausiblel, dem anderen sehr plausibel vorkommen. Oft reflektiert Plausibilität nur das, was man so kennt und so liest, was man so mitbekommt im Leben - "unlogisch" heißt schnell, "nach meiner Erfahrung unlogisch" und nicht anhand universaler Gesetze.
Er besteht zwar diese Prüfung, aber hätte es nicht schon vorher Schwierigkeiten gegeben? Wäre er nicht schon vorher auffällig geworden? Hätte man ihn nicht dieser Aufgabe entbunden und gesagt, das kann man diesem Mann nicht mehr zutrauen?
Absolut, andererseits - jetzt argumentiere ich mit meiner Welt - weiß ich, wie Menschen durch Ausbildungen geschleppt werden, gerade in Mangelberufen. Da heißt es, naja, irgendwann kommt der Punkt, an dem er das kann und die Prüfungen werden knapp bestanden. Eine Ausbildung ist so vielfältig; man findet immer eine Ausrede, was derjenige gut kann, ob es jetzt das Ansteuern eines Fahrzeugs, Reinigung, etwas erarbeiten ist. Ich betreue jetzt eine Azubine, die durch alle Abschlussprüfungen durchgefallen ist und das 3. Lehrjahr wiederholen muss. Auch hier ist niemand an sie herangetreten und hat gesagt, hej, vielleicht kannst du das ja nicht. Aber nach drei Jahren heißt es: Jetzt bist du so weit, und wir brauchen die Fachkräfte, so dringend, also versuch's nochmal. Vielleicht braucht es für die Ausbildungszeit mehr Stoff, mehr Klärung, mehr Reaktion.

Puh, viel Arbeit!

Mich erinnert der Text an Gerard Murnane, einen australischen Autoren, der auf eine ganz ähnliche Weise schreibt.
Von Murnane habe ich "Die Ebenen" gelesen. Mochte ich anfangs sehr, dieses axiomatischen Hineinsetzen von Landhäusern in der Ebene, eines äußeren und inneren Australiens und einer Logik, nach der die Menschen der Ebene folgen, die ich als Leser aber nie verstand. Sprich: Ich kannte niemanden aus meiner Erfahrung, der einem Menschen in den Ebenen gleichkam. Fiel mir zum Ende jedoch schwer, es zu Ende zu lesen, warum ein bestimmtes Buch für die Tochter eines australischen Landbesitzers an einer bestimmten Stelle in der Bibliothek versteckt wird (habe ich das korrekt in Erinnerung?).

@jimmysalaryman :-)

Vielen Dank für Deinen Kommentar
Lg aus Leipzig-Mitte
kiroly

 

Hey @kiroly,

ich weiß, Du steckst gerade ganz tief im Real Live, ich irgendwie auch, weshalb ich mich jetzt kurz fasse und weil viel von dem, was ich zu sagen hätte, auch bereits gesagt worden ist.

Vorab, ich habe das wirklich gern gelesen. Ich mag halt deine Sprache unglaublich gern. Auch das Schräge und Verdrehte, was in deinen Texten immer eine Rolle spielt. Und ich habe mich schon lange gefragt, ob ich das auch über eine längere Strecke gut finde, und ja, finde ich.
Ja, der Text hat tatsächlich was von einer Eisenbahnplatte. So einer richtig großen. Aufgebaut für Schaulustige und dann steht man davor und guckt den kleinen Zügen zu, entdeckt ganz liebevolle Details, alles wirkt echt und dennoch ist es das nicht. Ganz eigenartiger Effekt, den der Text bei mir bewirkt und nein, ich finde nicht, dass es ihm schadet. Irgendwie blieb ich auf Distanz und irgendwie war ich doch total drin. Komplett schräg, aber auf eine gute Art. Und ich habe mich an so vielen Details gefreut.
Im großen Ganzen hatte ich dann aber doch meine Problem, den Text zusammen zubekommen. @jimmysalaryman hat viel von dem bereits erwähnt, was mich nach Beendigung der Lektüre auch umgetrieben hat. Vor allem, was die Beziehung der Brüder betrifft, da wollen die Puzzleteile bei mir einfach nicht einrasten, die Lücke, zwischen Jugend und Unfall, die ungefüllte, die will sich nicht schließen und wirft bei mir mehr Fragen auf, als das der Text sie beantwortet. Er verweigert die Antwort ja auch schlicht. Sagte auch @zigga schon.

Meine Vorstellung ging eher in Richtung einer paternalistischen, fürsorglichen. Aggression bedeutet, dem anderen schaden zu wollen, hier ergibt sich das Gegenteil: Es ist ein ganz bewusstes Helfen-Wollen von Seiten Elbrichs.
Ja, das tut er. In der Jugend und nach dem Unfall. Aber dazwischen? Da liegt auch der Fokus mehr auf Elbrich und seiner Frau, die einfach nur da ist, die für die Geschichte gar nichts tut (sehr unspannende Figur!) und dann frage ich mich natürlich, warum sie so viel Raum einnehmen darf, um mich zu langweilen. Und da die beiden Brüder sich scheinbar über den Lauf von Jahren entzweit haben, nachdem Elbrich so lang als Vaterfigur für den Bruder eingesetzt hat, da ist doch ein wahnsinniger Bruch im Verhältnis - das ist für mich eigentlich der Hauptkonflikt der Geschichte, aber in der Geschichte - kein Wort. Pure Verweigerung seitens des Autors. Statt dessen schreibt er über Friede und Freude und Eierkuchen im Elbrichhaus. Am Ende klar, da kommen die Vorwürfe. Auf einmal zieht Elbrich sich die Fürsogestiefel wieder an und schämt sich, dass sie so lang im Keller vor sich hinschimmelten.


Ich hatte die Idee, den Text komplett auf die beiden Brüder konzentrieren zu lassen - mir war es wichtig, die Fürsorge ins Zentrum zu stellen, aber auch ein Motiv übergriffiger Hilfe, ein Gut-sein-Wollen, das nicht gut wirkt.
Na dann! Tue das mal :D
Mir reicht es einfach nicht, dass sich der Bruder am Ende Elbrich verweigert.

Krass finde ich übrigens, dass der Bruder keinen Namen hat und selbst auch nicht zu Wort kommt. Der Bruder wird anfangs als »zusammenmontiert« eingeführt, wie ein Spielzeug, nicht perfekt, eher ein Lehrlingsstück zu Beginn der Ausbildung. Das schwingt schon sehr im Sinne des Übergriffigen mit, das ist stilistisch verdammt clever gemacht, ehrlich, dafür Hut ab. Er hat keinen Namen, keine Stimme, Elbrich spielt mit ihm Vater, Mutter, Kind. Dann wird Elbrich groß und hat keine Freude mehr am Spielen mit seinem Bruder, ist seinem Spielzeug entwachsen. Der Bruder ist nun selbstständig, Aufgabe erledigt. Soweit so gut. Aber reicht das wirklich, um die Jahre des Schweigens und die 180 Grad-Wendung mit all seinem Drama gegen Ende zu rechtfertigen? Mir nicht. Tut mir leid. Ich hätte mir gewünscht, Du bleibst mit dem Fokus auf den beiden. Und wenn es das ist, dass Elbrich immer nur daran denkt, dem Bruder ein Paket zu Weihnachten zu schicken und er es am Ende doch nicht tut, weil 100 andere (unwichtige) Dinge wichtiger sind.
Kurz: Das Ende fand ich bisschen wie Kasper aus Kiste. Elbrich in seinem extremen Handeln für mich zwei Zentimeter über glaubhaft. Und genau dafür fehlt mir das Teil des Puzzles.

Und trotzdem und nochmal, es gibt so viele Dinge, die ich an diesem Text einfach richtig gern mag. Deine Sprache und Bilder vorweg, diese Distanz/Nichtdistanzsache. Die Wirkung, die der Text auf mich hatte. Ich habe das wirklich gern gelesen.

So, dann wünsche ich Dir, dass Du gut durch die stressige Zeit kommst und ab und an doch ein wenig Zeit findest, für Dinge, die Dir gut tun.
Beste Grüße, Fliege

 

Liebe @Fliege :-)

Mensch, ich finde deinen Kommentar wirklich hilfreich. Und natürlich freue ich mich, dass du den Text einerseits magst und andererseits präzise benennen kannst, was dir fehlt und was auch mir jetzt fehlt. Und, auch das finde ich superwichtig, du redest nicht um einen heißen Brei. Ich schätze das wirklich sehr (generell hier im Forum).

Und da die beiden Brüder sich scheinbar über den Lauf von Jahren entzweit haben, nachdem Elbrich so lang als Vaterfigur für den Bruder eingesetzt hat, da ist doch ein wahnsinniger Bruch im Verhältnis - das ist für mich eigentlich der Hauptkonflikt der Geschichte, aber in der Geschichte - kein Wort. Pure Verweigerung seitens des Autors.
Tatsächlich, eine pure Verweigerung. Der Elefant steht im Raum und alle reden über's Wetter :-D Mir fällt es oft schwer, das Offensichtlichste zu erkennen. Vielleicht ist es eine Form von Schreibblindheit. Ich spinne mal ein bisschen: Ich habe den Eindruck, ich muss durch die reichhaltige Oberfläche bohren und das hohle Innere ausgestalten.

Vor allem, was die Beziehung der Brüder betrifft, da wollen die Puzzleteile bei mir einfach nicht einrasten, die Lücke, zwischen Jugend und Unfall, die ungefüllte, die will sich nicht schließen und wirft bei mir mehr Fragen auf, als das der Text sie beantwortet
Leider bin ich nicht in der Lage, auf die Schnelle die Lücke zu füllen. Tatsächlich hatte ich ein paar Ideen, habe dann aber im Namen der Textstraffung den harten Cut eingeführt - zu Lasten des Grundkonflikts, der erahnt, aber nicht gespürt werden kann. Glücklicherweise scheint das für mich leichter umsetzbar, sprich, ich habe eine Vorstellung, wie ich das ändere. Oder ich hoffe es zumindest.

Ich hatte die Idee, den Text komplett auf die beiden Brüder konzentrieren zu lassen - mir war es wichtig, die Fürsorge ins Zentrum zu stellen, aber auch ein Motiv übergriffiger Hilfe, ein Gut-sein-Wollen, das nicht gut wirkt.
Na dann! Tue das mal :D
Mir reicht es einfach nicht, dass sich der Bruder am Ende Elbrich verweigert.
Alles klar! :-D Die Geschichte braucht mehr Futter. Eigentlich wollte ich sie ja erst fortsetzen, auch nach deinem Kommentar bin ich anderer Meinung, es braucht eine Überarbeitung. Auf die Schnelle schaffe ich das aber leider nicht.

Liebe @Fliege, das ist jetzt eine kurze Antwort, ich hoffe, das ist in Ordnung - aber ich glaube wirklich, wirklich verstanden zu haben, was der Text braucht. Ich kann mich da nur bedanken.

Merci :-)
kiroly

(Es entspannt sich gerade wieder ein bisschen bei mir. Danke :-) )

 

Hey @kiroly

Zum Glück habe ich mir etwas Zeit gelassen und kann dank weiterer Kommentare und deinen Antworten schneller in die Tiefe gelangen - dorthin, wo ich alleine gar nicht hingekommen wäre. Solipsismus fand ich ein schönes Stichwort, diese Losgelöstheit vom sozialen und familiären Kontext, dieser Fokus auf die beiden Brüder und die Stadt. Mir hat das gut gefallen, das hat etwas Radikales. Ich wage mich mal auf die Äste: Vielleicht müsste man da noch konseqeunter sein, nicht nur die Beziehung Elbrichs zu seiner Frau zurückschrauben, auch das Pychologische, nachträglich Erklärende ...

Die Abscheu wächst vor dem Teil der Identität, die auf Sorge und Wohl zum Bruder beruht.
Elena hat ein sehr, sehr gutes Risotto vorbereitet. Er isst nicht viel. Er mag das Schlonzige nicht, sagt er.
„Er ist verschwunden. Der Bruder.“
„War er das nicht immer?“, fragt Elena.
„Wie meinst?“
„Er war ja immer irgendwie anders. Sein Körper, du hast immer von seinem Körper geredet. Und was er tun muss.“
„Ja und? Ja was?“
„Ich weiß nicht.“ Elena zeigt ihm beide Handflächen. Vor ihr dampft das Risotto. „Diese Geschichte, wie er die Schule verließ …“
„Was? Was?“
„Ohnehin die ganze Kindheit. Die Mutter nie da und immer am Arbeiten, du erziehst ihn. Ist ja schon eine Form der Abwendung. Der Kehrtwendung. Ich weiß nicht. Vielleicht wartest du.“
„Auf was?“
„Dass er kommt. Dass er sich eines Tages meldet. Er wird es. Vertrau‘ mir.“
Vertrau‘ ihr doch.
Der Dienstplan teilt ihn für die erste Woche die Nachtschichten zu.
Seine Apathie, sie bleibt.
... könnte man alles streichen. Wenn ich das lese, fehlt mir im ersten Teil auf einmal etwas, das mir vorher nicht gefehlt hat. Da gerät der Text auf eine Schiene, auf der er zuvor nicht gefahren ist. Weil zum Beispiel der Begriff Mutter auftaucht, beginne ich auf einmal über die familiären Verhältnisse nachzudenken.
Anders formuliert: Ich würde diese Fremdheit, diese seltsame Distanz, dieses Flirren zwischen mir und Elbrich konsequent durchhalten.

Zur Ausgestaltung der Beziehung zwischen den Brüdern. Ich empfand im Gegensatz zu @Fliege keine Lücke im eigentlichen Sinne. Ich habe das so gelesen, dass Elbrich seinen Auftrag als erledigt sieht: Du hast jetzt ein eigenes Leben heisst auch: Ich habe jetzt endlich mein eigenes Leben und kann studieren gehen. Ich habe dich auf die Beine gestellt und damit ist meine Pflicht erfüllt. (Ich weiss nicht, ob Pflicht der richtige Begriff ist. Vielleicht Sorge. Weniger aber Liebe, scheint mir, denn dann wäre der Kontakt nicht abgebrochen.) Also, ich fand das schon stimmig. Und dann Jahre später die Einsicht, dass die Beine des Bruders doch nicht taugen und Elbrich ist mitschuldig. Das finde ich einen tollen Konflikt, will ich mal noch festhalten.

Dennoch sehe ich es irgendwie schon auch wie Fliege und Jimmy: Da fehlt noch etwas. Eine naheliegende Variante wäre es, die Lücken offenzulassen, aber früher einzusetzen, vor dem Schneeball. Zeigen, wie dieses Verantwortungsgefühl entsteht. Dass der Bruder keinen Schneeball formen kann, scheint mir da zu schwach, das müsste traumatischer für beide sein, ein Moment, in dem Elbrich bewusst wird, dass sein Bruder ohne ihn nicht überleben kann - zumindest glaubt er das. Ist jetzt mein erster Gedanke. Der Vorteil (für mich) wäre, dass du dem Stil der restlichen Erzählung treu bleiben, die Versuchsanordnung ohne Eltern und sozialem Kontext beibehalten könntest. Diese Versuchsanordnung, diese soziale Fremdheit hat mich übrigens sehr an Kafka erinnert.

Noch ein paar Details:

In der Grundschule lernen sie die Jahreszeiten des Tieflands kennen.
Der Einstieg ließt sich für mich nun flüssig. Aber den Satz hätte ich gerne im Präteritum, weil ich beim Lesen sogleich in die Schule hüpfe, nur um dann festzustellen, dass wir immer noch in der Schneeballszene sind.
Er legt den roten Stift zur linken
zur Linken (weil das begleitendes Substantiv fehlt)
zu einem intensiven und intensiverem Rot.
intensiveren
Bei Abgabe leuchtet der Gleisplan wie eine offene Wunde. Das Blatt trieft vor rotem Filzstift.
Finde ich doppelt gemoppelt. Den zweiten Satz würde ich streichen.
Der Prüfer nimmt das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ergebnis in zwei Wochen“, brummt der Prüfer.
brummt er.
Auf einem ausklappbaren Plastikstuhl, ohne Polster, dafür mit einer Lehne, die seine Skoliose gut abfedert. Doch die weiße Uniform scheint seine Skoliose zu verstärken, die Wirbelsäule formt einen Bogen, der überspannt.
beim zweiten Mal vielleicht: die Krümmung ?
Er spürt nur das und das Gefühl ändert sich nie, ein Körper, der nie die Balance finden wird, die es braucht, um auf beiden Beinen zu stehen.
Ich würde zunächst ein nicht setzen.
Jahre später legt Elbrich ein medizinisches Examen ab und beginnt den ärztlichen Dienst in einer Klinik.
Jahre vergehen.
Fand ich unschön.
Auf dem Weg zur Betriebswohnung des Bruders
Der Bruder lebt in einer Betriebswohnung der Zahnradbahngesellschaft.
Ich würde den ersten Satz streichen und den zweiten nach oben schieben.
E und -lena, die ihre dünnen Arme um ihn schlägt, schweigend,
nicht eher: schlingt ?

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo @Peeperkorn :-)

mensch, mensch, mensch. Vielen Dank für Deine ausführliche Textauseinandersetzung; sie greift ja über den reinen Text hinaus, die Kommentare hast du auch gelesen. Ich habe mich sehr gefreut. Aber worüber? Zum einen über die geringe Anzahl an sprachlichen, handwerkliche Anmerkungen. Zum anderen dein Verweis auf Stimmigkeit, das sozusagen Geschichte, Text, Figuren, Sprache eine Einheit bilden, die natürlich noch schön poliert werden kann und sollte. Aber vor allem im Sinne eines Wirklich-vor-allem-Stehenden: Das radikale Stutzen des Textes auf die Versuchsanordnung.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass manche Kommentare eher in die Stimmigkeit, andere in die Plausibilität streben. Nicht, dass das Gegensätze wären, aber die Schwerpunktsetzung unterscheidet sich. Aus Deinem Kommentar lese ich stärker einen Bezug zur bereits erwähnten Stimmigkeit. Mit dem Satz ...

Mir hat das gut gefallen, das hat etwas Radikales. Ich wage mich mal auf die Äste:
... hast du mich sehr motiviert, der Versuchsanordnung treu zu bleiben. Merci =)
Vielleicht müsste man da noch konseqeunter sein, nicht nur die Beziehung Elbrichs zu seiner Frau zurückschrauben, auch das Pychologische, nachträglich Erklärende ...
Immer wieder sehr spannend, wie unterschiedlich ein Text auch wahrgenommen wird. In jedem Kommentar gab es Aspekte, die ich nachvollziehen konnte und die den vagen Eindruck, den ich beim Schreiben hatte, scharf stellten. Einerseits das mangelnde soziale Umfeld, andererseits aber auch den Eindruck, Elena sei ein Fremdkörper in diesem reduzierten Text. Vielleicht provoziert ja gerade Elena die Frage nach dem "Ja, wer ist da eigentlich noch im engeren Umfeld?". Die Mutter sowieso. Auf die Schnelle kann ich das nicht entscheiden. Aber wenn ich mich an einer "Synthese" der vielen, sehr vielen Anmerkungen versuche: Reduktion auf Konflikt, Ausgestaltung des Konflikts, weniger additive Ergänzung (kann man das verstehen? Ich hoffe :-D).
Weil zum Beispiel der Begriff Mutter auftaucht, beginne ich auf einmal über die familiären Verhältnisse nachzudenken.
Anders formuliert: Ich würde diese Fremdheit, diese seltsame Distanz, dieses Flirren zwischen mir und Elbrich konsequent durchhalten.
Vielen Dank für den Hinweis. Im Grunde war das ein Versuch, den Text plausibler zu gestalten: Es muss ja eine Mutter geben! Aber es stimmt, warum erwähne ich sie überhaupt?
Dass der Bruder keinen Schneeball formen kann, scheint mir da zu schwach, das müsste traumatischer für beide sein, ein Moment, in dem Elbrich bewusst wird, dass sein Bruder ohne ihn nicht überleben kann - zumindest glaubt er das.
Ein sehr hilfreicher Hinweis. Ja, jimmysalaryman hat schon recht, die Geschichte fährt schwere Geschütze auf. Interessanterweise dachte ich erst in die exakt umgekehrte Richtung: Es braucht eine kleine Geste, ein kleines Ereignis. In einer ersten Fassung wird die Außenseiterrolle des Bruders über eine Schneeballschlacht illustriert. Mir ging das jedoch zu stark von der Beziehung zwischen den Brüdern weg. Da muss ich einfach ein paar Sachen "probieren" und schauen, wie es mir am stimmigsten vorkommt.

Die kleineren sprachlichen Anmerkungen habe ich bereits eingearbeitet. Den Text werde ich zeitnah überarbeiten und um den zweiten Teil ergänzen. So mein Plan :-)

Vielen Dank =)
kiroly

 

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