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- Anmerkungen zum Text
Der erste Teil eines Novellenversuchs. Sehr, sehr viel Text, ich weiß. Erwarte von niemanden, dass er ihn komplett liest. Funktioniert der Text? Ist er zu hämmernd? Vielen, vielen Dank für's Kommentieren. Und bitte keine falsche Scheu vor Negativem, wenn er Mist ist, dann ist er Mist. Danke :-) Lg kiroly
Andenplatz (1)
Elbrich formt einen Schneeball für seinen Bruder und sagt: „Drücke ihn. Erwärme ihn. Lass ihn anschmelzen. Löse den Druck. Ausschlagarm, Abstoßfuß, Wurf. Die Flugbahn wird präziser, der Schneeball trifft.“
Sein Bruder trifft nie, die anderen ihn.
„Dein Körper, Bruder“, seufzt Elbrich, „es ist dein Körper."
In der Grundschule lernten sie die Jahreszeiten des Tieflands kennen. Dort schneit es im Winter, im Sommer nicht. Doch hier in der Bergstadt bricht Sonnenlicht zu ganz eigenen Jahreszeiten. Pfirsiche reifen neben Trauben, die vereisen. Winteroliven, Herbsttomaten, Sommerwurzel. An schattigen Orten übersteht der Schnee die Sommermonate.
„Das nennt sich Jahresschnee“, erklärt der Elbrich: „Das ist der Schnee, mit dem wir im Juli die fetten Touristen am Andenplatz bewerfen.“
Der Bruder lächelt verkniffen.
Später trennen sich am Andenplatz ihre Schulwege. In den kleinen Gassen verirrt sich der Bruder oft, obwohl er schon immer hier lebt.
Fährt Elbrich den Berg hoch, beobachtet er seinen Bruder aus der Bahn. Aus dem Bruder wird Passant und aus dem Passanten ein Pünktchen. Bevor die Bahn in scharfer Linkskurve und mit hohem Warnpfiff in den Tunnel einfährt, hat Elbrich die Augen geschlossen.
Hat jemand den brüderlichen Körper repariert? Seine Teile formen keinen geschlossenen Körper. Sie scheinen an den Rumpf montiert zu sein. An der linken Seite zu fest, an der rechten Seite zu locker angezogen. Die Finger stehen in schiefer Reihe. Die Zehen verhaken sich unter Frost. Das Gangbild ruckartig, das rechte Knie leitet die Bewegung des Oberschenkels verzögert an Unterschenkel und Fuß. Der Bruder hinkt. Elbrichs Traum: Ein Arm oder ein Bein schraubt sich aus dem Rumpf des Bruders. Der Bruder bemerkt den Verlust nicht. Er steigt in die Zahnradbahn am Andenplatz ein. Die Fahrgäste blicken in andere Richtungen. Ein Kind schreit und zieht den Notbremshebel, die Bremswucht schleudert den Bruder zu Boden, alle Rippen brechen in kleine Knochenteile. Eine Lache rot wie eine Suppe von Roten Beeten. Elbrich wacht auf, blickt zur anderen Zimmerseite. Sein Bruder schläft tief und gut. Man könnte ihn für tot halten, wenn man’s nicht besser wüsste.
Eines Tages beendet der Bruder die Schule. Er kommt nach Hause und legt sich ins Bett. Er zieht die Decke über den Kopf und schläft wochenlang. Bis Elbrich, der Pfirsich ist in der Julisonne gereift, die Decke vom Bruder reißt.
„Lehrstelle! Bewerbung! Ins Leben starten!“
Er greift seine schiefen Füße, Klumpen aus verwachsener Haut. Zerrt den Körper auf den Boden. Schleift den krummen Körper in die Dusche. Braust ihn mit kaltem Wasser ab, mit sehr kaltem Wasser. Das Wasser der Bergstadt fließt aus Schächten des andinen Gebirges. Der Gebirgskern hat es auf wenige Grad über Null gekühlt. Der Bruder reißt die Augen auf, als wäre er aus einem bösen Traum erwacht. Elbrich weiß: Weißes Licht und Kälte lassen die Wirklichkeit erkennen. Hatte nicht das der Vater behauptet? Die Augen des Bruders rot vom langen Schlaf.
„Keine Betriebe mit Handwerk oder einem einfachen Handwerk, eines ohne große Belastung, ohne Kontrolle, mit sicherer Zukunftsperspektive“, spricht Elbrich. Der Bruder ein nasser, knochenloser Sack.
„Kein Geld ohne Fleiß. Kein Aufstieg ohne harte Arbeit“, spricht Elbrich.
Er wirft ihm ein Handtuch hin. Der Bruder trocknet seinen Körper.
„Die Zahnradbahn sucht immer. Kondukteure werden am Andenplatz immer gebraucht. Schau, die weiße Uniform, die Ehre, der Bergstadt zu dienen, krisensicherer Arbeitsplatz, betriebliche Altersvorsorge. Sie suchen immer jemanden wie dich“, spricht Elbrich.
Und fügt in Gedanken hinzu:
Mit deinem reparierten Körper, deinen Noten, ein So-Jemand, der Tickets abstempelt und Zahnräder mit Stahlpinsel einfettet. Ein So-Jemand für Hand an Hebel, Bahn fahr‘ hoch, Bahn fahr‘ runter, so jemanden braucht’s im Bahngewerbe. Du bist gut geeignet. Ich bin für dich da.
Der Bruder bewirbt sich am selben Abend.
Er wird angenommen.
In der Kondukteursabschlussprüfung, Theorie II, erhält jeder Prüfling einen roten Stift und einen Gleisplan: Man solle die Gleise rot ausleuchten, die bei Durchfahrt des Zuges von Adorf nach Cdorf gesperrt werden. Der Prüfer ist ein alter Mann. Er hat ganze Generationen in die Prüfung begleitet, junge Frauen und Männer über den Rand der Kindheit ins Arbeitsleben geführt. Er riecht die Souveränität der guten Prüflinge und die Verzweiflung der schlechten. Bei diesem jungen Herren mit krummen Rücken zweifelt er, zweifelt er sehr, er spürt, dass er ein guter Hilfsschaffner wäre, ein Weichenwärter oder ein Streckenläufer, aber ein Kondukteur? Der Zahnradbahn? Der Bergstädtischen Zahnradbahn von 1868, die erste in der Nation, Innovationsquelle für das Zahnradbahnwesen weltweit? Deren Ingenieure auf allen Kontinenten Zahnradbahnen errichteten, selbst in Zeiten des bösen automobilen Wahns?
Er legt ihm den Gleisplan hin. Er legt den roten Stift zur Linken. „Sechzig Minuten, ab – jetzt.“
Der Bruder malt sofort, schraffiert, folgt der Logik der Signalgebung, radiert. Auf freie Fahrt B1 folgt Sperre C2, aber die Wenn-Dann-Regeln verdichten sich zu einem intensiven und intensiverenRot. Radiert, schraffiert, jetzt dickes Rot auf Gleis eins. Malt. Der Todesstoß für jedes technische System: Eine losgelöste, irrende Logik, die anarchisch die Schalter umlegt, denen der Mensch gehorchen soll. Der Bruder malt und malt und malt. Noch zehn Minuten. Schraffiert. Radiert. Noch fünf Minuten.
„Bitte legen Sie den Stift zur Seite.“
Bei Abgabe leuchtet der Gleisplan wie eine offene Wunde. Der Prüfer nimmt das Blatt zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ergebnis in zwei Wochen“, brummt er.
Der Bruder humpelt aus dem Raum.
Er kommt heim.
Zwei Wochen schläft der Bruder. Bestimmt ist er erschöpft, denkt Elbrich, von dem Prüfungsmarathon.
Es ist Elbrich, der die briefliche Urkunde der Berufsschule öffnet. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die Abschlussprüfungen zum Kondukteur/in, Fachbereich Zahnradbahnwesen bestanden. Eine ferne Bitte der Zahnradbahngesellschaft: Wir brauchen doch die Kondukteure! Wer fährt schon von Adorf nach Cdorf! Vom Andenplatz müssen die fahren! Die Kondukteure! Die jungen Leute! Der Prüfer drückte beide Augen zu ...
Die jungen Leute.
So lädt die Zahnradbahngesellschaft die jungen Leute zur Abschlussveranstaltung ein. Es gibt Schnittchen und Sekt und Orangensaft für die Minderjährigen. Die Verleihung der Kondukteurslizenz erfolgt vor der Glasfront der frisch sanierten Andenplatz-Station.
Wimpel, Urkunde, Händedruck. Foto für die Bergstädtische Allgemeine, Scheitelschnitt. Weiße Uniform. Passanten, die applaudieren. Manch‘ einem Kondukteur sprießt ein bisschen Flaum über der Oberlippe. Die Worte des stellvertretenden technischen Geschäftsführers schmelzen den letzten Jahresschnee. Die Zukunft, die Sonne, die Arbeit und die Lust.
Er sitzt ein bisschen schief, der Bruder. Auf einem ausklappbaren Plastikstuhl, ohne Polster, dafür mit einer Lehne, die seine Skoliose gut abfedert. Doch die weiße Uniform scheint die Krümmung zu verstärken, die Wirbelsäule formt einen Bogen, der überspannt. Neben ihm sitzt Elbrich. „Entspann‘ dich“, flüstert ihm Elbrich zu. „Sei stolz auf dich.“ Die Hand des Bruders hält er nicht. „Sei stolz auf dich.“
Der Bruder sucht diesen Stolz. Den Stolz zu hören, der wie ein pochender Herzschlag einen Menschen durchs Berufsleben treibt. Seine Wirbelsäule will zum Sternum drücken, Säfte, Kräfte, Gewebsteile pressen dagegen, alles Innere führt einen Kampf um die korrekte Statik. Er spürt nur das und das Gefühl ändert sich nicht, ein Körper, der nie die Balance finden wird, die es braucht, um auf beiden Beinen zu stehen. Er spürt die Sucht nach dieser Ruhe in sich. Er wünscht sich das Bett. Seinen wochenlangen Schlaf.
Nach der Veranstaltung köpft Elbrich eine Sektflasche.
„Jetzt bist du im Leben angekommen“, sagt Elbrich und schenkt sich ein, dass der Sekt über den Glasrand auf den Schnee des Andenplatzes tropft. „Jetzt hast du was eigenes.“
Und dann verlässt auch Elbrich die Stadt. Zwei Koffer, ein Mantel, die Kleider, die er am Leibe trägt. Ein Stipendium. Elbrich beginnt ein medizinisches Studium im Tiefland. Sein Bruder hat an jenem Tag Depotdienst. Er fettet das große Zahnrad ein.
Jahre später legt Elbrich ein medizinisches Examen ab. Er beginnt seinen ärztlichen Dienst.
Jahreszeit folgt Jahreszeit. Elbrich sendet Briefe. „Der Frühling im Tiefland", schreibt er, „entspricht dem Frühling, den wir in der Schule lernten. Je länger die Tage, desto bunter die Wiesen im Park."
Selten schreibt der Bruder eine Postkarte. Es gehe ihm gut. Es gehe ihm sehr gut. Er mache Urlaub an einem Bergsee. Die Arbeit mache Spaß.
Jahre vergehen.
In der Frühstückspause klingelt das externe Telefon der Nervenstation.
„Herr Elbrich, Ihre Frau.“
„Meine Frau?“
Die Azubine hält ihm wortlos den Hörer hin.
„Eine Kollegin deines Bruders hat vorhin angerufen“, sagt Elena: „Es gab wohl einen Unfall an der Zahnradbahn.“
„Mein Bruder?“
„Nein, eine Kollegin.“
„Ist er verletzt? War es ein schwerer Unfall?“
„Ich weiß es nicht.“
Ob etwas passiert sei, fragt der Oberarzt. „Mein Bruder ist verunglückt.“ Schwer? „Ich weiß es nicht.“
Der Oberarzt stellt die Tasse Kaffee ab.
„Fahren Sie jetzt heim. Jetzt. Ich stelle Sie frei. Die Azubine ruft Ihnen ein Taxi. Sie rühren keinen Schritt allein. Sie verlassen das Taxi und gehen direkt zu Ihrer Frau. Haben Sie das verstanden?“
„Ja. Danke. Mein Bruder arbeitet bei der Zahnradbahn.“
„Gut. Sie sind jetzt aus dem Dienst entlassen. Informieren Sie mich.“
Der Taxifahrer beeilt sich. Ein Arzt, der um diese Uhrzeit das Klinikum verlässt? Das ist etwas Privates. Beim Einsteigen schaltet er das Radio aus. Sie brauchen zehn Minuten.
Elena öffnet die Tür, ehe Elbrich geklingelt hat.
„Ich habe keine weitere Info. Nichts. Ich habe versucht die Kollegin zu erreichen, aber nichts.“
„Ich fahre in die Bergstadt.“
„Soll ich mitkommen?“
„Nein.“ Elbrich reißt einen Koffer aus der Schrankwand und packt ihn schnell.
„Informier mich!“
„Du mich auch“ – das Taxi hat gewartet.
Der Vormittagsexpress braucht vierzehn lange Stunden bis in die Bergstadt. Elbrich sucht die Nachrichtenportale nach Informationen ab. Von acht Verletzten ist die Rede und von Schuldursachen, die mehr oder minder um den Kondukteur kreisen.
Eine Mitreisende beschwert sich über sein Fingertrommeln gegen das Abteilfenster. Elbrich formt die Hand zu einer Faust und hält sie mit der anderen Hand geschlossen. Die Mitreisende beobachtet ihn, sagt aber nichts.
Ehe Elbrich das Gebirge vom Zugfenster sehen kann, hat die Nacht begonnen.
Sich an einen Ort von Bedeutung tragen, heißt: Zwei mentale Bilder abgleichen. Nicht aus dem, was war, agieren, sondern das, was ist, akzeptieren.
Der Express erreicht die Bergstadt. Elbrich steigt aus. Vom Talbahnhof ragt die Südflanke hoch zum Andenplatz. In wenigen Häusern brennt Licht, die Bergstadt sucht Traum und Schlaf, manche finden ihn, andere simulieren ihn. Elbrichs Blick folgt der Oberleitung der Zahnradbahn, die in Berg und Stadt mal verschwindet, sich dann zeigt, tarnt und aufdeckt, wie ein geheimes Versprechen, das in die Wahrheit drängt, sich dann zurückzieht, unsicher bleibt.
Und jetzt?
Sein Bruder liegt irgendwo in dieser Stadt.
Die Oberleitung führt ihn zu einem Punkt. Er blinkt blau, der kleine Punkt. Das sind die Rettungsfahrzeuge und die Technische Inspektion, die Polizei und die Feuerwehr. Das ist der Andenplatz.
Die Berge nehmen den schwarzen Nachtbogen der Stadtränder auf und reichen ihn an den Himmel. Stadt, Berg und Himmel schließen einen Orbit für den, der ihn erkennt.
„Ich habe“, schreibt er Elena: „keine Nachricht von meinem Bruder. Rufe mich sofort an, wenn es anders ist. Ich fahre zu seiner Wohnung.“
„In Ordnung“, schreibt Elena. „Ich bin für dich da. Sei vorsichtig“
Der Bruder lebt in einer Betriebswohnung der Zahnradbahngesellschaft. Das Abendfoto zeigt die zerstörte Glasfassade der Andenplatz-Station. In einem Meer aus Kristallen steht die intakte rote Zahnradbahn. Acht Verletzte. Und wie? Und wer? Keine Angaben. Die Bahn hatte die Glasfront der Andenplatz-Station durchstoßen und war auf dem schneebedeckten Platz vor dem Denkmal zum Liegen gekommen. Über die Fahrerkabine hat sich ein Pulver aus Glas, darüber eine dünne Schicht Schnee gelegt. Elbrich trommelt gegen die Scheibe, den Heimatlosen stört das nicht.
Aus einem Felsen gehauen, vier Stockwerke. Handkraft ersetzte das Baumaterial, Holz war teuer in der Zeit vor der Eisenbahn.
Mehrere Personen rauchen vor dem Eingang, der dunkler wirkt als die Hauswand; wenn Dunkelheit scheinen könnte im Sinne eines Blendens, einer Macht im Eindruck, hier täte sie es. Die Bergstadt kehrt das Licht in Dunkel um. Ihre Zigaretten leuchten beim Inhalieren wie kleine, giftige Pünktchen auf.
„Reco?“, fragt eine weibliche Stimme.
„Nein.“ Elbrich keucht. „Ich heiße Elbrich. Mein Bruder ist heute verunglückt.“
Die Person, die nach Reco gefragt hat, drückt die Zigarette in einer Hausnische aus.
„Ihr Bruder war der Kondukteur?“
„Wahrscheinlich.“
„Ach, Sie sind das.“
Die Frau winkt ab.
Elbrich versteht sie nicht.
„Wissen Sie, wie es ihm geht?“
„Klinik.“
Elbrich reicht ihr die Hand. Die Frau zögert. Dann gibt sie ihm die Hand.
„Kann man ihn besuchen?“
Die Frau zieht die Hand zurück.
„Ich hab' deine Frau informiert. Beruhige dich. Du kriegst vom Keuchen noch tote Lunge. Ich muss zum Depot, ich sage dir alles Wichtige. Ist nicht viel.“
Die Frau bückt sich und schnürt ihre schweren Sicherheitsschuhe. Sie steht auf.
„Los, komm mit.“
Sie gehen einen anderen Weg. Die Treppe führt zu einer kleinen Station am Südende des Stadtviertels. Mondloser Himmel. Das Viertel schläft ...
„Hat keinen gewundert, das Unglück.“
„Warum?“
„Naja ... “
„Ich schätze die direkte Art der Leute hier.“
„Direkt?“ Sie lacht auf. „Das höre ich zum ersten Mal. Meist sagen die Bergstädter nie das, was ist.“
Die Treppe endet. Sie setzen ihren Weg über eine Straße aus grob behauenen Pflastersteinen fort. Trotz spärlichen Straßenlichts sehen sie die Hauschläge an den Steinen. Ihre Schuhsohlen knirschen.
Die Frau zündet sich eine Zigarette an. „Er hatte nicht das Feingefühl für eine Bahn“, fährt sie fort: „Er bremste manchmal zu stark und manchmal zu schwach. Das Bremsen, das ist die große Kunst bei der Zahnradbahn. Viele vertrauen dem Steigrad, denken, Bremsen sei in der Zahnradbahn einfacher. Das ist es nicht. Das ist es überhaupt nicht.“
Elbrich schweigt.
„Ihr Bruder liegt im Universitätshospital, meines Wissens. Fragen Sie da nach. Mehr habe ich nicht.“
„Kann ich Ihren Namen erfahren?“
„Nein. Das reicht. Ich muss jetzt zum Depot.“ Sie zeigt auf ein leuchtendes Gebäude einige hundert Meter bergauf. Es könnte ein Bunker sein, deren Besatzung sich eines Sieges sicher ist. Er leuchtet zu hell, um getarnt zu sein.
„Er hat ausdrücklich betont, dass er sich keinen Kontakt wünscht“, wiederholt die Empfangskraft am Universitätshospital, Osteingang.
„Ich bin sein Bruder.“
„Er hat diesen Wunsch geäußert und diesem leisten wir Folge.“
„Er steht unter Schock. Ich bin sein Bruder.“
„Entschuldigen Sie, das weiß ich inzwischen.“
„Kann ich ihm was ausrichten?“
Die Empfangskraft am Empfangstresen reißt einen Zettel ab. „Sie können etwas aufschreiben.“
Elbrich setzt den Stift an. Jetzt fehlen ihm die Worte. Die Empfangskraft hebt die Augenbrauen. Ruf mich an, wenn du was brauchst.
Doch der Bruder ruft nicht an.
Er ruft nicht in der Woche an, nicht im Monat an, er ruft nicht im Sommer an, der im Tiefland einer Vorstellung von Jahreszeiten folgt, wie sie Elbrich in der Grundschule gelehrt wurden: Heißer Sommer, grüne Blätter, die Menschen halbnackt an stillen Gewässern liegen.
Was von der Aggression übrig bleibt, ist dem Frust gewichen. Elbrich spürt den Zerfall jeder Handlung. Die Bergstadt verfremdet ihre Gassen vor ihm. Die Abscheu wächst vor dem Teil der Identität, die auf Sorge und Wohl zum Bruder beruht. Elena arbeitet jetzt Teilzeit, plant die schönen Dinge eines Wochenendes, berührt ihn und er berührt sie und sie berühren sich und lassen es beim Berühren bleiben. Elbrich kann die Zeit nicht fassen, obwohl er dienstlich funktioniert und dienstliches Funktionieren ist das Abarbeiten der Frühschicht, der Spätschicht, der Nachtschicht und der 24-Stunden-Schicht. Der Dienstplan hält die Struktur, die er jetzt braucht, um sich im Alltag zurechtzufinden. Sie gibt dem, der die Zeit verliert, eine Orientierung, eine einzige Orientierung, die sein Leben auf die eingelernte Tätigkeit des Berufslebens reduziert. Elbrich flucht viel. Sein Fluchen wird mit den Wochen stiller. Er läuft auf und ab, verschreibt sich selbst ein Beruhigungsmittel. Elena umarmt ihn, schützt mit ihren dünnen Armen seinen vor Frustration vibrierenden Körper. Sie spürt die Energie, die in ihm umwälzt und pulsierend warm durch die Nacht treibt.
„Nehmen Sie den Jahresurlaub vor“, empfiehlt der Oberarzt. Seine Schwestern nicken. Alle tragen das Gesicht der Sorge.
Erster freier Tag.
Anrufe in die Bergstadt.
Eine Mitarbeiterin der Bahngesellschaft verplappert sich, der Bruder sei in einem Inselsanatorium, eine andere behauptet, das Rehazentrum der Zahnradbahn habe ihn aufgenommen. Sofort fährt Elbrich in die Bergstadt: Unbekannt verzogen, die Bahngesellschaft hat den Bruder beurlaubt. In der Wohnung lebt ein Azubi mit seiner spanischen Freundin, sie denken erst, er sei ein Nachbar ihres bösen Vaters aus Andalusien. Wer die Wohnung ausgeräumt hat? Keine Ahnung, sie war leer und kalt.
Tage des Sammelns. In einem Restaurant in Klinikumsnähe erfährt Elbrich über eine Chirurgin von der Schwere der acht Verletzten. Alle haben überlebt, klar. Sie mussten ein deutsches Operationsverfahren aus den 30er Jahren einsetzen: Der Unterschenkel wird amputiert, der Fuß an den Oberschenkel gesetzt, die Ferse dient als Kniegelenk. Elbrich wird schlecht, er erbricht im Klo. Seifenspülung, weiter befragen. Und was waren das für Leute? Männer, Frauen, Kinder? Keine Ahnung, ich habe es von einer Kollegin und sie von einer Kollegin und sie von einer Kollegin … Elbrich schläft schlecht. Geschwächt vor Übermüdung kehrt er ins Tiefland zurück.
Elena hat ein sehr, sehr gutes Risotto vorbereitet. Er isst nicht viel. Er mag das Schlonzige nicht, sagt er.
„Er ist verschwunden. Der Bruder.“
„War er das nicht immer?“, fragt Elena.
„Wie meinst?“
„Er war ja immer irgendwie anders. Sein Körper, du hast immer von seinem Körper geredet. Und was er tun muss.“
„Ja und? Ja was?“
„Ich weiß nicht.“ Elena zeigt ihm beide Handflächen. Vor ihr dampft das Risotto. „Diese Geschichte, wie er die Schule verließ …“
„Was? Was?“
„Ohnehin die ganze Kindheit. Die Mutter nie da und immer am Arbeiten, du erziehst ihn. Ist ja schon eine Form der Abwendung. Der Kehrtwendung. Ich weiß nicht. Vielleicht wartest du.“
„Auf was?“
„Dass er kommt. Dass er sich eines Tages meldet. Er wird es. Vertrau‘ mir.“
Vertrau‘ ihr doch.
Der Dienstplan teilt ihn für die erste Woche die Nachtschichten zu.
Nachtschichten.
Die Patientin hatte einige Anfälle, die auf Epilepsie hindeuten. Zweifellos, eine Verdachtsdiagnose. Sie schläft im Raum 43, dem Spezialraum zur Langzeit-EEG-Messung. Das Licht lässt sich dimmen und die Wände sind in hellem Blau gehalten. Elbrich ordnet ein EEG von 24 Stunden an und der Oberarzt nickt, ja, was sonst, Elbrich, was sonst, seine Worte wiederholt, bis jeder im Stationszimmer sich auf Elbrichs Gesicht konzentriert.
Das Kind hat einen Plüschpinguin mitgebracht, der abwechselnd „Antarktis“ und „Weddelmeer“ sagen kann. Seltene Worte für eine Achtjährige, denkt Elbrich.
Elbrich trommelt gegen den Überwachungsmonitor. Plötzlich leuchtet die Zimmerblinke über Raum 43 rot auf. Das Kind hat die Nottaste gedrückt, bevor es bewusstlos zur Seite gesackt ist. Es atmet schwer, der kleine Brustkorb hebt und senkt sich. Hyperventilation. Ein epileptischer Anfall. Eine Spur Blut aus dem Mundwinkel, den der hyperventilierende Atem zu Schaum schlägt. Der Körper ganz seltsam verdreht.
„Kannst du mich verstehen?“
Das Weiße der Augen wird sichtbar, die Augäpfel tanzen in den Höhlen, aber der Körper zittert leise, schwaches Zittern, ein Vibrieren aus dem Inneren des jungen Körpers, als täuschten die Nerven einen Anfall vor. Elbrich polstert ein Kissen über die Bettkante, um den Kopf zu schützen. Das Bettlaken nass vor kindlichem Schweiß. Die Arme hängen schlapp ab. Die Luft riecht säuerlich. „Verstehst du mich?“, ruft Elbrich. Ihr Körper rutscht ab. Da liegt sie wie ein nasser, warmer Sack. Eine Elektrode der EEG-Haube ist abgeplatzt. Die Tür schlägt auf, der Nachtpfleger stürmt herein, „Mensch Elbrich, was guckst du blöde!“ Schreit auf den Monitor. Schreit auf Elbrich. Elbrich blickt zum Monitor.
Fünf Hirnfrequenzen. Sie schwimmen auf dem blauen Grund des Monitors. Sie ziehen lange, lange Fäden wie die Tentakel eines Tintenfischs in einem sehr tiefen, tropischen Ozean. Dort ist dunkel, aber sehr warm. Der Sinusknoten am Herzen hat vor Minuten sein letztes Signal gegeben. Das Blut ruht in den Herzkammern. Die Synapsen im Hirn warten auf den Sauerstoff. Alle chemischen Botenstoffe schweben im Plasma. Was schweben kann, löst sich auf. Was fließen kann, sackt ab. Niemand nimmt etwas an. Niemand gibt etwas weiter. Der Stoffwechsel beruhigt sich.
Es ist der Pfleger, der Elbrich wegschubst, schreit, reagiert, das Krankenhaushemd mit den kleinen, grünen Kästchen aufreißt, den rechten Arm auf die Stelle über dem Herzen stemmt, den linken auf sein breites Kreuz zurücklegt, und drückt, und schreit, und drückt, und schreit vom Defi, schreit, schreit einfach nur, wie es Elbrich noch nie gehört hat. Aber Elbrichs Körper folgt nicht der Pflicht, die zu tun ist.
„Sie werden beurlaubt“, erklärt der herbeigeeilte Oberarzt Minuten später. „Sofort. Beurlaubt. Bringen Sie das mit ihrem Bruder in Ordnung. Informieren Sie mich. Gehen Sie heim. Schwierig. Abmahnung. Los. Zur Info: Die Kleine hat es überstanden. Gehen Sie. Die Azubine bestellt Ihnen ein Taxi. Ich will sie hier nie wieder sehen. Los. Raus hier.“
Er kehrt heim. Er legt sich neben Elena. „Ist was passiert?“
Elbrichs Körper hat in Minuten der Reanimation und Nicht-Reanimation die Energie verbrannt, die ihm für Monate zur Verfügung stand. Jetzt arbeitet sein Körper aus der Reserve für Puls und Atmung, für Verdauung und wenige, einfache Denkprozesse. Ob Hunger oder Durst, ob sein Körper Wärme oder Kälte benötigt, kann er nicht beurteilen. Über die Reize unklar, die er braucht, ruht sein Körper unter der Sommerdecke im Schlafzimmer.
Seine Apathie, sie bleibt.
Die Haut erbleicht, wird schuppig, ein Ekzem bildet sich auf der Innenseite des rechten Oberschenkels. Er kann den Namen seiner Frau benennen, E und -lena, die ihre dünnen Arme um ihn schlägt, ihm die Wärme zukommen lässt, die seinen kalten Körper und Verstand zurück in den Alltag holen soll, so ihr Wunsch. Alltag, Alltag, so lautet ihr einfacher Wunsch: Sich über die Baustellen aufregen, die die Straßenbahnen umleiten oder sich über das verwürzte Risotto beschweren, das Elena zu stark pfeffert und Elbrich zu schwach salzt. Sonntags den Rasen mähen, Tulpen einpflanzen, das Beet harken, freitags auf das Wochenende mit einem Glas Rotwein anstoßen, sich vorsichtig an das Thema Kinder heranwagen, wenn das geht. Elena organisiert diesen neuen Alltag, führt Energiestoffe zu, hält Kreisläufe in Gang, nach Elbrichs Kündigung das Haus im Finanzrahmen, beantwortet Fragen von Kollegen, Freunden, ja sogar vom ehemaligen Pflegepersonal, das sich sorgt, aber sich mit den Wochen ans Sorgen gewöhnt. Der meteorologische Herbstanfang ist der eines Sommers nach Temperatur und eines Herbstes nach Farben. Der schönste Herbst seit Jahrzehnten, schreiben die Zeitungen des Tieflands, ein Indian Summer bei uns, hier, im Tiefland. Sie überbieten sich in der Beschreibung der Blattfarben, von Sonnenstücken ist die Rede, von „Rubinlicht“ und „Eigelb“ oder einem Gelb, das jedes andere Gelb zu „vagem Blass“ verkommen lässt, an dem jeder Leuchstoffmeister seine Stoffe eichen lassen werde.
Elena und Elbrich frühstücken. Es fällt Elbrich schwer und Elena fällt es schwer, dass es Elbrich schwer fällt. Der Mann öffnet sich im Tempo einer neuen Jahreszeit. Aber er öffnet sich und Elena bleibt optimistisch.
Sie liest den Teil mit Nachrichten aus der Nation. Kleinere und größere Meldungen.
„Ist alles in Ordnung?“ Elbrich fragt.
„Der Prozess“, Elena stottert beim Vorlesen, atmet durch, sie liest flüssig und schnell: „gegen den Kondukteur des Andenplatz-Unglücks vom März dieses Jahres beginnt heute. Die Staatsanwaltschaft wirft fahrlässige schwere Körperverletzung vor … gefährlicher Eingriff in den Eisenbahnverkehr …“
Sie hält ihm die Zeitung hin. Ein Foto der Unglücksstelle. Die Bahn unter glasigem Schnee.
Ein Foto des Kondukteurs. Er trägt eine weiße Uniform. Der rechte Arm ragt weiter herab als der linke.
„Wenn du in die Bergstadt fährst“, bestimmt Elena: „Komme ich mit und ich erwarte keine Widerrede. Wo du bist, bin ich auch. Verstanden?“