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- 16.03.2015
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Ananasrenetten
Obwohl keine Menschenseele unterwegs war, reduzierte er schon vor dem Tempolimit seine Geschwindigkeit. Er stoppte den Wagen, ließ die Scheibe herunter und warf einen letzten, angewiderten Blick auf die kleine silberne Plakette am Armaturenbrett, die den heiligen Christophorus abbildete.
Das hölzerne Gedenkkreuz am Straßenrand, direkt am Zugang zum ehemaligen Gut, erinnerte ihn ständig an das grauenvolle Geschehen. Erst gestern, am fünften Jahrestag, war er mit seiner Frau hier gewesen und hatte Kerzen und Rosen mitgebracht. Jetzt, in der flimmernden Frühlingsbrise, sah es aus als taumelten die kleinen Flammen und als weinten die Blumen dicke Tränen aus ihren Knospen.
Er schloss die Augen und verlor sich in Gedanken. Es war jedes Jahr dasselbe: Mit anderen Dorfbewohnern stand man schweigend am Mahnmal – unbeweglich, wie in trauervolle Ergebenheit versunken. Nachdem man die Blumen hingelegt und die Kerzen angezündet hatte, fuhr man in die Dorfkneipe nahe des Glockenturms, wo man in Erinnerungen schwelgte und gemeinsame Erlebnisse austauschte.
Auch er stimmte immer in den Kanon mit ein, wie leid es ihm tat. Dass er auch alles darum geben würde, den Täter zu finden. Und dass das, was zwei Jahre später geschah, hätte verhindert werden können.
Er öffnete die Augen und sah das Gesicht vor sich schweben, das ihn unverwandt anschaute. Dann zuckte er zusammen. Er konnte das Lügen nicht mehr ertragen.
Peter trat aus dem Zelt heraus und roch den vertrauten Duft nach Vieh, Dünger und Heu. Die Apfelbäume erinnerten ihn wieder an seinen Plan. Er stellte sich vor, den süßlichen Geruch jener Sorte wahrzunehmen, die er bald züchten wollte.
Er schaute über den Zeltvorplatz, der jedes Jahr das gleiche ernüchternde Bild bot. Die ersten Raufsüchtigen wurden nach draußen komplimentiert, Unbelehrbare gar nicht erst hereingelassen. Auf dem Weg warteten Taxifahrer geduldig auf Kundschaft; Teenies stiegen quengelnd zu ihren Eltern in die Autos, deren Motorengeräusche in der lauten Schlagermusik untergingen.
Im Zelt hatte Peter schon eine aufgeheizte Stimmung gespürt, als läge Ärger in der Luft oder würde etwas Schlimmes passieren. Allzu lange wollte er sowieso nicht mehr bleiben, schließlich war Selma trächtig und kalbte bald. Er drehte sich um und erschrak. Ein kleiner, alter Mann stand ihm lächelnd gegenüber.
„Peter, bist du das?“, fragte der Alte. „Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Herr Jansen? Was machen Sie denn hier?“ Peter schaute den Alten an, der in seiner Aufmachung wie ein Jäger aussah.
Oswald Jansen legte seine Hand auf Peters Schulter. „Wie geht es dir, mein Junge?“ Als Peter kurz nickte, deutete Oswald auf sein Fernglas, das um seinen Hals hing. „Ich beobachte immer noch Vögel. Du weißt, wie früher. Jetzt, im Morgengrauen ist die beste Zeit dafür. War nur eben im Zelt was trinken. Hatte kein Wasser mehr im Auto.“ Er zeigte auf seinen Wagen, der am Rande der Wiese stand. „Wenn du möchtest, bringe ich dich nach Hause. Wollte sowieso noch rüber zum See fahren.“
„Vielen Dank, schon gut, Herr Jansen. Ich kann das Stück auch zu Fuß gehen. Bin noch nicht lange hier und außerdem habe ich eine Bekannte gesehen, die ich noch sprechen möchte.“
„Na gut, Peter.“ Oswald kramte in seiner Hosentasche. „Hier hast du etwas Geld.“
„Das kann ich nicht annehmen.“
„Ach komm, Peter. Wie früher, als ihr noch klein wart. Hm?“ Er strahlte ihn an. „Fürs Taxi. Und bestell Jonas und deinen Eltern liebe Grüße. Pass auf dich auf, mein Junge.“
Nachdem Jochen eine weitere Kippe auf der Wiese ausgetreten hatte, zog er sich seine heruntergerutschte Hose hoch und stieß die dicke Zeltplane zur Seite. Drinnen schlug ihm warme, vom Alkohol durchschwängerte Luft entgegen.
Mit pelziger Zunge starrte er auf die jungen Frauen an der Theke. Sie hatten modische Frisuren, wie man sie in der Stadt heute trug. Verschmierte Lidschatten, unnatürlich rote Wangen und nassgeschwitzte Blusen zeugten von fortgeschrittener Stunde. Jochens Blick wanderte zwischen engen Röcken, blickdichten Strümpfen und lehmigen Pfennigabsätzen hin und her. Das Frischfleisch ist sicher noch länger hier, dachte er und spürte eine Schwellung in seiner Hose.
Seine ganze Aufmerksamkeit galt aber weiterhin der schlanken Schwarzhaarigen, die er letzte Woche an der Kasse im Supermarkt zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte es einfach mal ausprobiert und die junge Frau angesprochen. Als sie sich umgedreht hatte, fielen ihre langen Haare sanft über die Schultern, hell leuchtete ihr zarter Hals im Flackern der Leuchtstoffröhren. Esther war wohl Single, sonst hätte sie sicher nicht zugesagt, ausgerechnet zum heutigen Scheunenfest zu kommen, das über die Grenzen des Landkreises hinaus für seine feuchtfröhliche Atmosphäre bekannt war.
Für Jochen konnte es keinen besseren Ort geben. Die dunklen Ecken im Zelt, die angrenzenden, dichten Felder oder auch sein Auto, das er extra abseits geparkt hatte, boten die beste Gelegenheit, zu prüfen, ob sie noch Jungfrau war. Heute wollte er die Theologiestudentin aus ihren Zwängen befreien.
Verdutzt schaute sich Jochen um. Esther wartete nicht am vereinbarten Punkt, sondern war gegenüber am Imbissstand an einem Stehtisch, ganz in der Nähe seiner beiden Kameraden aus dem Schützenverein. Ein großer Blonder stand bei ihr. Die beiden tranken, lächelten sich vertraut an; die Hand des jungen Mannes berührte mehrmals Esthers Arm.
Schnaufend stampfte Jochen über die Holzbohlen. Einen Augenblick später hatte er sie gepackt.
„Aua! Lass mich los!“ Mühselig versuchte Esther, sich aus dem Griff zu lösen.
„Ich bin nur mal kurz weg, und schon machst mit anderen rum!“
„Heh! Geht man so mit einer Dame um?“ Peter stellte seinen Apfelsaft weg und musterte Jochen mit zusammengekniffenen Augen.
Den Blick seiner Kameraden im Rücken spürend, hob Jochen seine linke Faust und holte aus.
Mit einer schwungvollen Bewegung wich Peter dem Boxhieb aus und schlug zurück. „Entschuldige dich sofort bei ihr“, sagte er eindringlich.
„Hört auf!“ Mit breiten Armen stellte sich Esther zwischen den beiden. Sie schaute Jochen an, der sich noch ans Kinn fühlte und zu überlegen schien, ob er es nochmal versuchen sollte. „Das ist Peter, Agrarstudent ...“ Sie drehte sich um. „Peter, das ist Jochen.“ Dann hauchte sie: „Mein ... meine Begleitung.“
Peter legte seinen Kopf schief und gab eine Zahnlücke frei. Dann hielt er Jochen seine fleischige Hand entgegen.
„Los, steig auf deinen Mähdrescher! Sieh zu, dass du Land gewinnst!“ Jochen lachte dreckig auf und sah zu seinen Kameraden hinüber. Ihre Anfeuerungsrufe waren in ein Grölen übergegangen.
Peter sah Esther mitleidig an und verschwand dann wortlos.
Sofort legte Jochen seinen Arm um Esthers Schulter.
„Du tust mir weh! Was bildest du dir eigentlich ein?“ Hilfesuchend schaute sie zu den beiden Männern am Nebentisch hinüber.
Als Jochen bemerkte, dass die beiden die Situation beratschlagten, lockerte er den Griff und gab vor, Esther nur zärtlich zu umarmen.
Esther löste ihren Kopf aus der Umklammerung. „Wie viel hast du getrunken?“
„Das fragst du mich?“ Jochen sah auf die leeren Gläser. „Der Wievielte war das? Von wegen unschuldiges Mädchen vom Lande.“
Sie nahm das Cocktailglas, das ihr nicht gehörte und schlürfte die letzten Tropfen hinunter, wobei sie gegen ein Gefühl von Ekel ankämpfen musste. Dann knallte sie das Glas auf den Tisch zurück. „Weißt du was? Du kannst mich mal.“ Sie nahm ihre Jacke und zog sie an.
„Ich kann wahrscheinlich noch nicht mal eine rauchen gehen, ohne Kerle zu treffen, mit denen du nicht gebumst hast. Das war’s für mich.“ Jochen wand sich ab und ging in die andere Ecke des Zeltes, wohin Peter zuvor verschwunden war. Suchend sah er sich um und schrieb dabei eine SMS. ‚Kommt, wir schnappen uns das Schwein!’
Dann blickte Jochen nochmal zum Imbissstand und winkte seinen beiden Kameraden zu, die noch beim Aufstehen hastig ihr Bier austranken und in seine Richtung kamen.
Esther war verschwunden. Dich kriege ich auch noch, dachte er.
Auf dem Vorplatz angekommen, kramte Peter in seiner Hosentasche nach Geld. Kurz bevor er das einzige Taxi auf dem Platz erreichen konnte, löste sich eine elegant gekleidete Mittdreißigerin aus einer Gruppe und öffnete die hintere Tür des Fahrzeuges.
Oh, Entschuldigung“, näselte sie, nachdem sie Peter beinahe die Tür gegen das Knie gestoßen hatte.
„Ist schon gut. Nichts passiert.“
„In welche Richtung musst du denn?“, fragte sie beim Einsteigen. „Vielleicht können wir ja zusammen ... fahren.“
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Peter, wie die Frau sich nur ein winziges Stückchen weiter in die Mitte setzte und ihr es nichts ausmachte, dass ihr Rock dabei hochgerutscht war. Dann instruierte sie den Fahrer. „In die Stadt.“
Das fehlt mir auch noch, dachte er. „Ich muss genau in die andere Richtung“, log er lächelnd. „Sind nur ein paar Kilometer. Ich gehe zu Fuß.“
Sie verzog den Mund und schnallte sich an. „Tut mir echt leid.“ Dann warf sie einen letzten ausziehenden Blick auf Peter, der seine Jacke zuknöpfte und Kopfhörer in seine Ohren steckte. „Hals- und Beinbruch, mein Süßer.“ Mit ihren rot angemalten Lippen formte sie einen Kuss und zog die Tür zu.
Hans Sirowka regelte die Lautstärke wieder herunter und schlug verärgert auf den Lenker seines Lasters. Der Radiosprecher hatte von einer Vollsperrung auf der A3 berichtet, die Umleitung würde mindestens eine halbe Stunde kosten. Er griff zum Handy. „Chef. Ich weiß, es ist halb drei nachts, aber wir haben ein Problem ...“
„Ich hab’ die Verkehrsmeldungen verfolgt. Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, schallte es durch den Hörer. „Du weißt aber schon, dass das Obst um vier wieder umgeladen wird?“
„Wie soll ich das denn schaffen?“
„Fahr den Rest halt über die Dörfer!“
„Da ist teilweise nur dreißig ...“
„Na und? Um diese Zeit ist da ja wohl nichts los. Jetzt nerv’ mich nicht! Sonst war das deine letzte Fuhre!“
Keine halbe Stunde war vergangen, als Hans an einem riesigen Festzelt vorbeifuhr. Ihm kamen einige Autos und Taxen, vor allem aber Anhalter entgegen. Zu jeder anderen Gelegenheit hätte er gerne einen Tramper mitgenommen, der nicht so stark torkelte oder herumalberte wie diese. Hans fand die Gespräche mit den jungen Leuten immer interessant, da er selber keine Kinder hatte.
Wehmütig schaute er auf das Navi. Noch zehn Kilometer. Wenn er weiterhin so zügig fuhr, hatte sein Chef sich umsonst aufgeregt.
Als Hans an einer Ampel warten musste, sah er am Straßengraben einen gebrechlichen, grün gekleideten Mann, der mit einer Taschenlampe in das Feld leuchtete und was zu suchen schien. Dann nestelte der Alte an seinem Feldstecher und betrachtete schließlich den Himmel durch das Glas. Verwundert sah Hans dem Mann nach, wie er hektisch ins Auto stieg und ohne auf den Verkehr zu achten losfuhr, als würde er jemanden verfolgen.
Regenwasser tropfte durch das undichte Dach auf den Beifahrersitz. Hans wischte es mit einem Tuch weg, und fragte sich, wann der LKW zuletzt in der Werkstatt gewesen war. Dann startete er die Musikkassette. Fröhlich pfeifend begleitete er die Truckermusik, die das quälende Quietschen der abgenutzten Scheibenwischergummis übertönte – und ließ dabei nicht vom Gaspedal ab.
Plötzlich sah er einen Jugendlichen, der sich waghalsig auf die Straße stellte, eine Flasche in die Höhe hielt und ihm zuwinkte. Hans hörte augenblicklich auf zu flöten und trat auf die Bremse. Der LKW rutschte über den Asphalt, das Heck brach aus. Eine junge Frau hastete in die Fahrbahnmitte und zog dem Lebensmüden an der Jacke. Der Mann zeigte keinen Widerstand und fiel zusammen mit der Frau in den matschigen Straßengraben, bevor Hans auf der Fahrbahn zum Stehen gekommen war.
Schwer atmend stellte Hans die Musik ab, kurbelte das Fenster herunter und erkundigte sich bei den beiden nach ihrem Wohlergehen.
Peter zog die Kapuze über den Kopf. Wind und Wetter machten ihm nichts aus, er war es durch die Feldarbeit gewohnt; er sorgte sich nur um die Kopfhörer, für die er solange hatte sparen müssen.
Links und rechts der dunklen Straße lagen die Äcker und die großen, saftigen Wiesen des Straetmans-Anwesens, dem Grundstück seiner Familie. Nach dem Agrarstudium wollte Peter die alte Familientradition wieder aufgreifen und auf dem ungenutzten Wiesenland eine große Apfelplantage anlegen. Er würde mit den Einnahmen alle erdenklichen Behandlungen für Jonas bezahlen. Sein Bruder könnte vielleicht sogar im künftigen Bioladen mitarbeiten, sich gebraucht fühlen. Sein geliebter Bruder, der nach seinem Sturz von einem Apfelbaum vor sechs Jahren seine Beine nicht mehr bewegen konnte und sich seit dem fast nur noch im Haus aufhielt. Neben seiner Fröhlichkeit hatte Jonas auch nach und nach seine lustigen Sommersprossen verloren. Die Sommersprossen, die Peter immer an den fleckigen Apfel erinnerten.
Peter erkannte gedämpftes Licht im Stall. Er schaltete die Musik aus und band die Kapuze zu. Wenn er sich beeilte, konnte er seinem Vater noch bei der Geburt helfen.
Er lief los und übersprang eine große Pfütze. Mit dem Fuß stieß er gegen einen armdicken Ast, den der Wind in die Wasserlache gefegt hatte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber. Knackend schlug zuerst seine rechte Hand auf die Fahrbahn, dann das Kinn. Benommen blieb er bäuchlings liegen. In seinem Kopf hämmerte es wild. Mit schmerzverzerrtem Gesicht probierte er, aufzustehen. Erfolglos. Seine Hand hielt den Druck nicht aus. Er ließ sich wieder auf den Boden fallen und hechelte stark.
Bilder aus der Kindheit schwebten vor seinem inneren Auge. Wie er jedes Mal nach einigen kräftigen Atemzügen seine Schmerzen verscheuchen konnte, wieder einfach aufgestanden war und weiterspielte, nachdem ihm seine Mutter noch ein buntes Pflaster aufgeklebt hatte. Nur Jonas hatte ein einziges Mal nicht so viel Glück gehabt.
Peter atmete tief ein und aus und versuchte, die Gedanken an Kummer, Schmerzen und Leid zu verjagen. Wie in Zeitlupe drehte er seinen Kopf, als er ein schleifendes und quietschendes Geräusch vernahm. Mit einer Mischung aus Sehnsucht und Traurigkeit blickte er auf das, was da auf ihn zu schlitterte.
Vor dem Aufprall schloss er die Augen und glaubte, rasch gedeihende Äpfel zu sehen. Eine Plantage grüner Früchte mit ihrer charakteristischen Punktierung. Jene Poren, die das Obst angeblich aktiv öffnen und schließen konnte, um am Leben zu bleiben. Ein Trugschluss.
Peter nahm einen letzten, kräftigen Zug durch die Nase und vernahm den intensiven Duft der Ananasrenette. Es war die Sorte, die seine Vorfahren in der Gegend eingeführt hatten, die er jetzt zum letzten Mal roch.
Die Äpfel mit den gleichen Sommersprossen, wie sein Bruder sie einst hatte. Das Obst, dem er in seiner Plantage wieder neues Leben einhauchen wollte.
Jonas’ Lieblingsapfel.
Hans Sirowka war seit zehn Jahren nicht mehr in den Gassen von Niederkrümpten gewesen. Im Licht der späten Mittagssonne wirkte das Dorf düsterer, als er es in Erinnerung hatte. Es war, als versteckten sich die Menschen hinter den Fassaden aus der Gründerzeit oder den Grabsteinen auf dem Friedhof.
In der Dorfkneipe, die an diesem Sonntag gut besucht war, roch es staubig und süß, wie bei alten Leuten. Gäste saßen und tranken; einige würfelten oder spielten Karten. Hans bestellte sich an der Theke einen Schnaps, der ihn in den Eingeweiden brannte.
Ihm wurde schwindelig vor Aufregung, als er den Gesprächen der Männer lauschte. Es gab nur ein Thema. Der tote Junge vom Hof.
Vor seinem inneren Auge tauchte wieder die bewegungslose Silhouette auf. Er nahm den metallischen Duft des Blutes wahr, das aus dem Körper des toten Jungen floss und sich in den Pfützen mit dem Wasser vermischte.
„Kannten Sie Peter auch?“, riss ihn der Wirt aus seinen Gedanken, während er mit einem Handtuch ein Glas polierte.
„Nein, nein“, beeilte sich Hans. Er klang rau, als wäre ihn der Hals zugeschnürt.
„Schrecklich …“, sagte der Wirt. „Ich hoffe, es war keiner von hier. Sein Vater würde ihm die Gurgel durchdrehen, wenn ihm nicht schon seine Frau zuvorkäme.“
Hans nickte stumm und versuchte, seine Erregung zu unterdrücken.
„Noch’n Schnaps oder ’n Bier?“
„Wissen Sie, wann und wo die Beerdigung ist?“
Alle Blicke ruhten auf Paul Straetmans, der sich als erster aus der vorderen Reihe erhob. Er schob einen Rollstuhl voran, in dem zusammengekauert sein zwölfjähriger Sohn Jonas saß. Nachdem sie ihr Taschentuch weggesteckt hatte, folgte ihm gebückt seine Frau Magda und hielt sich an Pauls Arm fest. Nacheinander standen die Restlichen auf und bildeten eine Prozession, die bedächtig über den Aschenweg schritt.
An einer Einmündung stoppten sie und die Menge schloss auf. Einige der Leute gafften Magda nach, die mit verzerrten Gesichtszügen nach vorne wackelte und das grüne Marmorgefäß streichelte. Für einen Moment herrschte absolute Stille. Dann brüllte sie ihren ganzen Schmerz auf einmal heraus.
Zwanzig Minuten später wurde die kleine Schaufel letztmalig zurück in den Eimer gesteckt, in dem sich zuvor Erde befand. Der Pfarrer verabschiedete sich und ließ die drei Straetmans alleine am offenen Grab zurück. Paul die Schultern fallen.
Entgeistert hatte Esther die groteske Szenerie beobachtet, wie Magda Straetmans unaufhaltsam die Gummireifen von Jonas` Rollstuhl vom Lehm befreite und sie keiner daran hinderte.
Esther trat näher, räusperte sich und sprach Paul Straetmans an, der sie trotz seiner ergrauten Haare an Peter erinnerte. „Mein herzliches Beileid. Ich bin Esther van gen Hasselt, eine Kommilitonin von … Peter.“
„Hatte Peter dir nicht auch Nachhilfe gegeben?“ Seine Stimme klang ruhig und gefasst.
Esther wollte die fleischige Hand, die so zerbrechlich wirkte, am liebsten gar nicht mehr loslassen. „Er hat versucht, mir sogar noch auf der Feier Matheformeln beizubringen.“
„Peter hatte große Pläne ...“, sagte seine Stimme voller Stolz und Kummer. Gedankenvoll blickte er auf das Grab, dann auf seine Frau.
Esther dachte nicht daran, das qualvolle Schweigen zu brechen.
„Er wollte mit mir zusammen eine Apfelplantage anlegen“, sagte Jonas. Er kramte in seiner Jackentasche, holte grünes Obst hervor und polierte dessen fleckige Schale an seiner Hose, bevor er die Frucht seinem Vater rüberschob.
Paul Straetmans legte die prächtige, saftige Ananasrenette neben das Grab auf die feuchte Erde. „Esther, mein Kind, ich danke dir, dass du gekommen bist.“
„Ich kannte den Verhafteten.“ Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Ich war dabei, als er mit Peter Streit anfangen wollte und ...“
„Ist schon gut, mein Kind“, sagte Paul und streichelte Esther über die Schulter.
Magda Straetmans beendete ihre fortwährende Reinigungsaktion und starrte auf die junge Frau. „Mörder!“ Sie spuckte das Wort geradezu aus. „Ich will, dass sie ihn hängen!“ Verbitterung und Verachtung huschte über ihre Züge.
„So beruhige dich doch, Magda. Er wird seine Strafe bekommen.“ Dann wisperte er Esther zu: „Meine Frau hat das mit Jonas nie überwinden können. Sie ist schwer krank. Ich weiß nicht, wie sie diesen neuen Schicksalsschlag übersteht.“ Nachdem er sich kurz zu seiner Frau umgedreht hatte, sprach er weiter: „Es wäre vielleicht besser, wenn du jetzt gehst. Nochmals vielen Dank.“
Als Esther die Wiese verlassen hatte, drehte sie sich letztmalig um. Sie putzte ihre Nase und schaute dabei auf die blauen Wolken am Himmel. Zwei Jahre später sollte sich Esther nur zu gut an die Worte von Paul Straetmans zurückerinnern.
Auf dem Aschenweg standen Gerda und Oswald Jansen und sprachen leise mit einem untersetzten Endfünfziger in löchrigen Jeans, der immer wieder den Kopf schüttelte. Oswald streichelte dem Mann über seinen Arm und nickte ab und zu. Dann wischte sich der Mann seine Tränen aus den Augen und ging auf die Straetmans zu. „Es tut mir so leid.“ Mit gesenktem Blick stand er da und kaute auf seinen Fingernägeln. Als sich Magda demonstrativ wegdrehte, sagte er zu Paul: „Wenn das Wetter nicht so schlecht gewesen wäre. Wenn ich ihn doch nur eher gefunden hätte ...“
„Machen Sie sich keine Vorwürfe.“
„Kann ich irgendwas für Sie tun?“
„Ist schon gut, Herr Sirowka. Vielen Dank für Ihre Anteilnahme.“
Lügen, Lügen, nichts als Lügen, dachte er. Ich halte es nicht mehr aus. Wütend schlug er zuerst auf das Lenkrad, dann auf die Plakette mit dem Schutzpatron der Reisenden. Vielleicht hätte er dieses Drama verhindern können, wenn er damals im Regen nicht so schnell gefahren wäre. Wenn er besser aufgepasst hätte. Und warum musste der Junge auch zu Fuß gehen, hatte sich nicht mitnehmen lassen oder ein Taxi genommen?
Er warf einen letzten Blick auf das Mahnmal, bekreuzigte sich und fuhr dann weiter. An der Zufahrt zum ehemaligen Straetmans-Anwesen stoppte er den Wagen. Er erinnerte sich, dass die Torwölbung früher mit prächtigen Rosen bewachsen war. Jetzt war das Holz verwittert; ein einziger, rostiger Nagel hielt das Metallschild. Er ließ die Scheibe herunter und glaubte, den beißenden Gestank von Verwesung zu riechen. Es herrschte eine sonderbare Ruhe, als würde alles einen weiten Bogen hierum machen.
Er blickte über den Feldweg auf das weitläufige Grundstück. Man musste schon genauer hinsehen, um unter dem Unkraut Spuren von Landmaschinen oder Traktoren zu erkennen, die davon zeugten, dass es hier einmal Leben gegeben hatte.
Verborgen am Waldrand lag sie. Die Ruine. Nichts weiter als tote Erde, Mauerreste und versengtes Holz. In dieser Gegend war es unmöglich, einen neuen Besitzer für das Gut zu finden, dessen Wiesen und Äcker schon lange verdorrt waren, von dem man sagte, es sei von einem Fluch gezeichnet. Der Fluch des Todes.
Erneut tastete er in seiner Jackentasche nach dem Brief und wischte sich eine weitere Träne aus dem Auge. Lange genug war er feige gewesen. Viel zu lange. Entschlossen trat er auf das Gaspedal.
„Ja, Mama, ich komme am Sonntag vorbei … Nein, Mama, ich habe heute keine Zeitung gelesen. … Was? Über die Scheunenparty vor fünf Jahren?“ Esther erfasste ein Kribbeln im Bauch. Sofort sah sie wieder den blonden, lebensfrohen Hünen vor sich. Wie er mit seiner Hand zärtlich ihren Arm streift, wie sie einfach nur seiner Stimme lauscht, ohne richtig zuzuhören. Peter, den sie so gerne näher kennengelernt hätte.
„Na ja, auf jeden Fall war dieser Profiler von der Kripo auch schon gestern im Fernsehen.“ Es war ein Rascheln durch die Leitung zu hören, während Esthers Mutter weiter sprach. „Der arme Peter … die armen Straetmans.“ Dann hatte sie die Stelle in dem Blatt gefunden und las vor. „'Fahrerflucht mit tödlichem Ausgang. Erfolglose Suche nach dem Fahrer des Ford Fiesta, Baujahr 2001 bis ...'“ Den Rest überflog sie nur noch. „2600 Fiesta-Halter überprüft, 20000 Handydaten gesichtet, 500 Personen befragt … der Verdächtige, der neunzehnjährige, vorbestrafte Jochen P., kam damals wieder schnell auf freien Fuß … Sag mal, du kanntest den doch auch?“
„Was haben die denn sonst noch gesagt, Mama?“ Esther ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie wusste noch zu gut, wie sie damals ihren Vater anrief, der sie sofort vom Zelt abholen kam. Aus sicherer Entfernung hatte sie zuvor noch Jochen beobachtet und ein mulmiges Gefühl bekommen, als er begann, mit zwei anderen jeden Winkel im Zelt abzusuchen. Wochenlang hatte sie sich Vorwürfe gemacht.
„Hier steht: 'Die Hinterbliebenen, die Eltern können in den meisten Fällen erst dann abschließen, wenn sie den Täter kennen. Erst dann können Verzweiflung und Wut schwinden'.“ Ihre Stimme stockte. „Wenn ich mir vorstelle …“
„Ist schon gut, Mama.“ Esther dachte wieder an die Nachricht vor zwei Jahren, als der Hof völlig niedergebrannt war und alle drei verbliebenen Staetmans ums Leben gekommen waren. Schmerzvolle Erinnerungen an Peters Beerdigung kreisten in ihrem Kopf. Der starke Vater, die schwache Mutter und Jonas.
„Als der Profiler das im Fernsehen gestern sagte, musste ich fast heulen: 'Der oder die Täter sowie mögliche Mitwisser sollen sich endlich melden – und zwar sofort'. Dann: 'Verjährung für Fahrerflucht und fahrlässige Tötung … abgelaufen. Auch wenn die Polizei einen Täter präsentiert: Es ist mehr als fraglich, ob ihn überhaupt eine Strafe erwartet. Das Verfahren wird nur dann zur Anklage gebracht, wenn die Staatsanwaltschaft Merkmale für die schweren Delikte Totschlag oder Mord findet'. Du hättest mal sehen müssen, wie er dann noch den Brief vorgelesen hat.“
Esther wischte ihre Tränen fort. Straffrei? Oh Gott … „Welchen Brief?“
„Hier steht es Wort für Wort: 'Ich möchte mich mit dieser Pressemitteilung, diesem persönlichen Brief direkt an Sie wenden. Auch wenn es jetzt verjährt ist und Familie Straetmans es nie mehr erfahren wird: Sie werden Ihre Schuldgefühle sowie die Angst, verraten oder entdeckt zu werden, nie mehr loswerden. Es wird Sie verfolgen. Für immer'.“
Von Schwindelgefühlen erschüttert, öffnete Oswald Jansen die Haustür und legte seine Mütze an den gewohnten Platz. Er tastete sich an den Nacken und fühlte Nichts. Ihm fiel wieder ein, dass er seinen Feldstecher erst vor einer Stunde im weiten Bogen aus dem Auto auf das Grundstück geworfen hatte.
Erst jetzt wurde es ihm langsam wieder bewusst. Wie zur Bestätigung griff er in seine Jackentasche. Der Brief war weg, er hatte es tatsächlich getan. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht, ging ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Fernsehsessel fallen.
„Da bist du ja … Musst du den Fernseher jetzt anmachen, Schnuckibärchen? Ich habe Kuchen gebacken. Komm, es gibt gedeckten Apfel mit Sahne.“ Die Alte blickte lächelnd auf ihren Mann, der seine gebrechlichen Hände in die Armlehnen krallte.
„Warst du wieder Vöglein beobachten, oder warum siehst du so abgekämpft aus?“, fragte sie, obwohl sie meinte, die Antwort zu kennen. „Das ist doch nichts mehr für dich. Wie lange willst du noch durch die Gegend kraxeln? Oder was für einen Unsinn hast du diesmal getrieben?“
„Ja, ja. Ist schon gut, Gerda. Komme sofort“, sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu lassen. „Unsinn? Ich habe zum ersten Male in meinem Leben das Richtige getan“, sprach er zu sich. Dann kam die Eilmeldung:
‚Neuigkeiten im Fall des vor fünf Jahren unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommenen Peter Straetmans. Am heutigen Sonntagvormittag fanden Beamte in Kleve einen Brief hinter dem Heckscheibenwischer ihres Streifenwagens.‘
Als die bekannten Fotos der Unfallstelle gezeigt wurden, faltete Oswald die knochigen Hände im Schoß und starrte ins Leere.
‚Es handelt sich bei dem Brief um vier handgeschriebene Seiten. Der Anonyme kennt viele Einzelheiten zum Fall Peter Straetmans und beschreibt den genauen Unfallhergang. Was genau in dem Brief steht, können wir Ihnen aus ermittlungstechnischen Gründen nicht sagen. Nur so viel: Er beginnt mit den Worten – ich zitiere: "Ich möchte mein Gewissen reinigen." Zitatende.‘
Oswald griff zur Fernbedienung und suchte den roten Knopf. Dann hörte er den Polizisten noch weiter sagen:
‚Ich möchte Sie bitten, dass Sie sich mit Namen zu erkennen geben.‘
Bei den letzten Worten schaltete er das Gerät aus. Er starrte auf den armen Kerl, der über dem Fernseher am Kreuz hing. Der Herr sah ihn so vorwurfsvoll an. Oswald hielt den durchdringlichen Blick nicht lange stand, senkte seinen Blick und saß da wie gelähmt. Er dachte nach, was er noch zu verlieren hatte, dass die Angaben im Brief die Polizei früher oder später sowieso zu ihm führen würden. Dass er das Warten nicht ertragen würde. Er stand auf und lehnte sich an den Esstisch, an dem seine Frau saß.
„Die armen Straetmans. Erst gestern waren wir am Kreuz. Erinnerst du dich noch, wie wir früher mit denen Kegeln waren? Du hast die beiden Jungen auch öfter mit in den Wald und auf den Hochsitz genommen. Trotz deines Rückens hast du Jonas später sogar noch über die Feldwege geschoben …“ Sie schüttelte den Kopf.
Oswald wartete geduldig, bis Gerda weitersprach.
„Ich konnte es damals gut verstehen, dass sich Magda und Paul nach dem Unglück mit Peter zurückgezogen haben und keinen mehr an sich heran ließen. Selbst uns nicht. Und dann der schreckliche Brand.“ Gerda machte eine Pause und schaute auf das Kreuz, das an der Wand neben dem großen Hirschgeweih hing. Sie bekreuzigte sich und küsste dann den Anhänger ihrer Kette. Während sie ihn wieder unter die Bluse zurücksteckte, blickte sie erneut auf die Wand. Ihr fiel wieder ein, dass ihr Mann zufälligerweise am Tag des Unfalles ein Wild angefahren hatte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Magda das Feuer ...“ Sie schüttelte erneut den Kopf und deutete auf die Kanne. „Komm, setz dich.“
Erwartungsvoll sah sie ihren Mann an, der einfach nur da stand, zu einer Antwort ansetzte und dann doch nichts sagte.
„Ich mochte den lieben Jungen so gerne. Meinst du, es war einer aus der Gegend?“ Sie füllte eine Kaffeetasse. „Meinst du, die finden das Schwein endlich, das den Jungen umgebracht hat, Schnuckibärchen?“
Oswald atmete schwer. Mit einer Mischung aus Gefasstheit und Demut ließ er den Blick nicht von seinen Händen, die er wie zu einem Gebet gefaltet hatte. Nur mühselig fand er in die Gegenwart zurück. Ein Hauchen entrang seinen trockenen Hals. „Für mich keinen Kaffee bitte. Ich muss weg. Sofort. Ich muss jetzt auch den zweiten Schritt tun.“