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An einem Novembertag am Kleinen Wannsee

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29.01.2010
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An einem Novembertag am Kleinen Wannsee

Klirrend kalt brach der Tag, mit dem Morgengrauen des 21. November 1811 an. Im Gasthof „Stimmings Krug“ am Kleinen Wannsee waren zwei Fenster bis spät in der Nacht hell erleuchtet geblieben. Heinrich von Kleist und Henriette Vogel schrieben in ihren Zimmern Briefe an ihre Nächsten. Sie teilten ihren Entschluss mit, gemeinsam ein Bündnis auf ewig einzugehen. Oft und immer wieder hatten sie darüber gesprochen, in den zwei Jahren, seit sie eine zunehmend innige Freundschaft verband. Der Ehemann von Henriette, Friedrich Ludwig Vogel, genannt Louis, hatte zugestimmt, sie freizugeben, sich scheiden zu lassen.

Seit ihrer Ankunft waren sie den Wirtsleuten und den anderen Gästen durch ihre euphorische Stimmung aufgefallen. Wenn sie lauter miteinander sprachen, waren manch vertrauliche Worte zu hören. Wie in jugendlichem Übermut, obwohl sie anfangs der dreissig waren, zierten sie sich nicht ihre Gefühle zu zeigen. Bei Heinrich war dies ein sehr ungewöhnliches Verhalten, er der sonst eher reserviert und unterkühlt wirkte.

Nach dem Lichterlöschen war Heinrich noch lange wach gelegen, um zwischendurch wieder aufzustehen, ans Fenster zu treten und hinauszuschauen. Zu erkennen war nichts, doch liessen seine Gedanken ihm Bilder aufkommen. Es waren die zunehmenden Zwiespältigkeiten, die ihn seit dem vierzehnten Lebensjahr quälten. Damals musste er unter dem starken moralischen Druck der Familie ins renommierte Garderegiment eintreten. Nach sechs Jahren quittierte er zum Entsetzen seiner Familie den Dienst als Offizier, weil ihm das knechtisch-disziplinierte Wesen des Söldnerheeres missfiel. In seiner Familie war der Beruf als Soldat Tradition. Die von Kleists wurden stets hochdekoriert, darunter achtzehn gar als Generäle. Verzweifelt suchte er ob der gesellschaftlichen Missachtung, der er daraufhin anheimfiel, nach einer Möglichkeit, wieder Anerkennung und Wohlstand zu erlangen. Vergeblich! Wirtschaftliche Zwänge stellten sich gegen seine poetische Neigung. Die Sehnsucht nach einer Zweisamkeit von edlem Geiste kam immer wieder in Konflikt mit selbstzerstörerischen Gefühlen von Bindungsunfähigkeit. Was er in seine Werke einfliessen liess, war Teil eigener Lebenseinstellung. Es gab keine Liebe, die ewig hielt, keine Zärtlichkeit, die andauerte, keine Begierde, deren Flammen nicht wieder erloschen. Verbundenheit zeigte nur Dauer in einer rein geistigen und musischen Beziehung. In dieser Nacht durchlebte er in Gedanken diese und andere Spannungen noch einmal in allen Facetten. Vor wenigen Wochen wurden seine Artikel in den „Berliner Abendblättern“, die sich gegen den preussischen Staatskanzler Hardenberg richteten, durch die Zensur der Zeitung gestoppt. Als er dem preussischen Herrscherhaus sein letztes literarisches Stück überreichte, den „Prinzen von Homburg“, in dem der General in Ohnmacht fällt, stürzte er am Hof endgültig in Ungnade.
Auch Henriette fand vorerst keinen Schlaf. Sie hatte es sich lange schon ersehnt, diese Erlösung, und mit Heinrich wird es ihr nun gelingen. Dieser Mensch von edler Denkart, der Poet, mit dem sie eine tiefgeistige Verbundenheit zusammenschweisste. Es war die Musik, die sie vorerst einander näherbrachte. Alsbald erkannten sie die andern Gemeinsamkeiten und fühlten sich füreinander bestimmt. Ihrem Wunsch entsprechend erläuterte er ihr die Kriegskunst und lernte sie das Fechten. In der Gesellschaft sprach man von ihnen beiden als einem platonischen Paar ohne Leidenschaft. Dass ihr Äusseres nicht mit besonderen Reizen ausgestattet war und sie auch nicht dem Adel zugehörte, lastete man ihr an. Doch die Gerüchte taten ihr nichts an, sie wusste um die niedrigen Beweggründe derer, die sie streuten. Es waren Adam Müller, dessen Zuneigung einst von ihr nicht erhört wurde, und Marie von Kleist, eine Verwandte von Heinrich, die eine Verbindung von ihm ausserhalb des Adels aus Standesdünkeln für unwürdig hielt. Henriette hatte mit ihrem Gesang und ihrer reizvollen Art ein gewinnendes Wesen und als Gesellschafterin ein gewisses Ansehen. Ihre Kenntnisse von Musik und Kunst gaben ihren Gesprächen etwas Beflügelndes. Die Verbundenheit mit Heinrich war beständig, was anderen Frauen nicht gelang, erreichte sie. Mit diesen Gedanken fand sie dann doch einige Stunden Schlaf.

Heinrich klopfte an die Tür von Henriette. «Bist du schon wach, mein Herzchen?»
«Ja mein Herznärrchen, komm rein.» Sie rekelte sich im Bett, ihren geliebten Freund mit warmen Gefühlen empfangend. Heute würde ihr gemeinsamer grosser Tag werden. Sie rückte auf die Seite und hob die Bettdecke etwas an.
«Leg dich noch etwas neben mich, mein Liebster. Ich möchte diesen Moment noch auskosten.»
Heinrich, der schon voll bekleidet war, legte seinen Gehrock ab, setzte sich auf den Bettrand und zog die Schuhe aus.

Ein Blick nach draussen zeigte ihnen, das Wetter war verdriesslich. Ein unfreundlicher Tag, an dem niemand sich freiwillig länger als notwendig draussen aufhielt. Etwas Sonne wäre schön gewesen, die euphorische Stimmung welche sie beide beherrschte, das Gloriose ob diesem, ihrem Tag, unterstreichend. Doch es war November, ein Herbsttag, der mit seiner schärfsten Kälte der Natur seinen Lauf wies.
«Hast du es vorbereitet, mein Liebster?» Der Blick, mit dem sie ihn dabei fragend ansah, drückte sanft ihre ganze Erwartung auf das Kommende aus. Nicht ohne Furcht, aber doch einer Bestimmtheit, die keiner Kehrtwendung mehr Raum geben würde.
«Ja, mein Jettchen, der Triumphmarsch kann beginnen, der Vollzug in Angriff genommen werden», er nahm den Mantel zur Hand und schlug auf die innere Brusttasche, als Zeichen des Vorhandenseins wessen sie benötigten.
Sie fasste nach seiner Hand, sie liebevoll drückend, er umschloss die ihre fest.

Das Wasser plätscherte in leichten Wellen an das Ufer, in den Kieselsteinen vereinzelt Blasen bildend, kräuselnd sich wieder zurückziehend. Heinrich nahm einen ebenen Stein zur Hand und liess ihn mit flachem Wurf über das Wasser springen, bis er versackte. Henriette, fand Gefallen daran, tat es ihm gleich. Ein Spiel, das einem Wettkampf glich, der sich jedoch nicht exakt messen liess. Alsbald machten sie sich auch einen Spass daraus, dass der eine sich versteckte und der andere ihn suchte. Bei jedem Wiederfinden sich lachend in die Arme fallend, als ob die Frühlingstriebe um Monate zu früh ausgebrochen wären. Auch fanden sich ihre Hände wie zu einem Reigen und sie tanzten nach einer imaginären Musik.

Der Tagelöhner, welcher in einem offenen Unterstand handwerkliche Arbeiten verrichtete, beobachtete das Paar, wie es da miteinander schäkerten. Es war eine Unverfrorenheit, die die Beiden an den Tag legten. Kinder würde man bei überbordender Ausgelassenheit zu Anstand ermahnen, wenn nötig züchtigen. Da, sie liebkoste ihn gar. Der Herr wirkte erst unwillig, doch dann ging er darauf ein. Zum Gasthof wandten sie nie einen Blick, als ob sie keinen Bedenken hätten, gesehen zu werden, oder einfach fehlendes Schamgefühl. Er selbst war ja einfachen Standes, aber so was gebührte sich seiner Meinung nach auch für diese Herrschaften in der Öffentlichkeit nicht. Der Sittenzerfall dünkte ihn schon schlimm, in dem sich manche Leute überhaupt nicht zierten. Glücklicherweise ist es sehr kalt, das Ärgste würde er nicht mit ansehen müssen, waren seine Gedanken. Wenngleich, ein bisschen Neid, kam ihm schon auf.

Henriette und Heinrich waren hüpfend an einen Holztisch geeilt, der in Ufernähe stand, und setzten sich auf die Bank. Die Kälte wurde in dieser Stellung wieder spürbarer. Heinrich legte seine Arme wärmend um Henriette, die sich dankbar anschmiegte.
«Ich werde uns Kaffee und Rum bestellen, dies wärmt», sagte Heinrich. Er erhob sich und ging auf den Gasthof zu. Henriette warf ihm eine Kusshand nach.
Die Wirtsleute nahmen die Bestellung verwundert auf, heimlich kopfschüttelnd, dass dies am Ufer des Sees serviert werden sollte. Doch der Gast war König, einen solchen Wunsch zu erfüllen war wohl sonderlich, aber nicht unmöglich. Das Paar war in merkwürdiger Art verliebt, darin waren sie sich einig. Ihre Besessenheit konnten sie nur so deuten.
Der dampfende Kaffee tat gut, sich die klammen Hände daran wärmend. Ein Schuss Rum, immer wieder mal nachschenkend, trieb auch die inneren Geister noch stärker belebend an. In überschwänglicher Stimmung prosteten sie einander zu, bis die Karaffe geleert und die Kanne mit Kaffee nur noch einen Bodensatz zeigte.
Das Spiel begann von Neuem, noch ausgelassener nach diesen einheizenden Getränken. Im Grau am Himmel zeigte sich eine leichte Helle, eine schimmernde Ahnung der Sonne, ohne dass es der Kälte etwas anhaben konnte. Sie tanzten wieder zu einer Musik, deren lieblichen Klänge einzig in ihren Köpfen spielte. Im Tanzschritt schwebten sie nun davon, sich den Blicken des Taglöhners entziehend, eine Mulde weiter hinten hinabgehend.

Zwei Möwen liessen sich beim Tisch nieder, wo Henriette und Heinrich kurz zuvor noch vergnügt sassen. Sie suchten nach Nahrung, die Gäste an dieser Stelle manchmal achtlos wegwarfen. Doch hier gab es für sie nichts zu holen.

Henriette und Heinrich standen in der Senke, hielten einander an den Händen und blickten sich tief in die Augen. Ihr Gesicht zeigte ein Lächeln, während er sie forschend ansah, als lese er in ihren Augen, sich nochmals der Sache zu versichern. Was er darin fand, war ein Ja, ja, ja. Diesem Lächeln, eine gewisse Bitterkeit schwang wohl auch mit, konnte er sich nicht entziehen, das forsche schwand aus seinem Antlitz, das bejahende Lächeln seines Einverständnisses trat an dessen Stelle.
«Ja Heinrich, mein Herzensnärrchen, meine Einsamkeit, mein Schiff, ich will mit dir diese Reise antreten, die uns die grosse Erfüllung bringt.»
«Ich auch Täubchen, mein Herzchen, Herzallerliebstes. Ja, auch ich bin bereit zu dem, das ich mir schon lange ersehnte. Mit dir gemeinsam diesen Weg zu gehen, zur Erfüllung unserer beider innigstem Wunsch.»
Ihre Arme umschlossen sich und ihre Gesichter neigten zueinander, zu einem letzten Kuss.
Heinrich drehte sich leicht ab, tastete mit der Hand in die Brusttasche und zog die durchgeladene Pistole heraus. Er hielt den Lauf auf ihre Brust, dorthin wo ihr Herz schlug. Der Schuss hallte durch die kalte Stille, in der Nähe flogen Wasservögel auf.
Seine Hand spürte das Blut an ihrem Rücken. Henriette war tot, ihre Sehnsucht erfüllt.
Langsam beugte sich Heinrich mit Henriette in den Armen zu Boden, sie ins Gras bettend, und legt sich neben sie. Der Pistolenlauf im Mund nach oben richtend, sich der Wirkung des gewählten Schusskanals ins Gehirn sicher, drückte Heinrich ab, auch er seiner lang währenden Sehnsucht nun endlich folgend.

 

Lieber Friedel

Ich habe deine Anregungen und Hinweise übernommen, um diesem denkwürdigen Geschichtchen einen würdigen Abschluss zu geben.

Gegenwärtig überschlagen sich ja die Biografen zu Kleist mit Fragmenten seines Lebens, ohne dass es ihnen zu gelingen scheint, eine wirklich umfassende Klarheit seines Wesens erschaffen zu können.

Danke dir für dein nochmaliges Lesen und die Ratschläge zur Vollendung dieses historischen Aktes.

Gruss

Anakreon

 

Aus gegebenem Anlass:

Gegenwärtig überschlagen sich ja die Biografen zu Kleist mit Fragmenten seines Lebens, ohne dass es ihnen zu gelingen scheint, eine wirklich umfassende Klarheit seines Wesens erschaffen zu können.

Neuere Erkenntnisse zum Tatmotiv der eigenen Forschung haben bzgl. des Falles Kleist ergeben:

„Dem Dichter Schiller grammatikalische Fehler anzukreiden, dürfte übrigens weitaus schwerer fallen als etwa den Dichtern Kleist, Hebbel und A. W. Schlegel“
brennt weiland Karl Kraus ein Feuerwerk ab in Heft 679 – 685, S. 95, seiner Fackel. Und ich lese auch nicht Kleist, um der Grammatik zu frönen. Wer täte dergleichen schon? Aber acht Seiten und fünf Minuten später kommt der Grund, warum Kleist sich erschossen haben mag:

„Sprachkritisch wird man wohl die »Penthesilea« im Ernst nicht untersuchen wollen, wenn die »Jungfrau von Orleans« in der Nähe steht. Dagegen möge es gestattet sein, an ein Abenteuer mit dem Kleist’schen Gedichte »Der Schrecken im Bade« zu erinnern, wo eine kleine grammatikalische Unbedachtsamkeit dazu führt, diesen selbst zu übertrumpfen. Kleist gebraucht als den Genitiv von Mai »des Mais«, was keineswegs falsch ist, aber gerade in der Stelle:

Nun heiß, fürwahr, als sollt’ er Ernten reifen,
War dieser Tag des Mais und, Blumen gleich,
fühlt jedes Glied des Menschen sich erschlafft​

an Kukuruz denken läßt. Gedacht, gesagt. Achtzehn Zeilen später lese ich:
— — und lauert

Dem Hirsch auf, der uns jüngst den Mais zerwühlte.​

Ein stilistisches Verhängnis, dem zu entrinnen es eben doch an etwas gefehlt hat.“

So kann man auch im sonnigsten Nebelmonat seit Jahren Vergnügen bereiten.

Gruß

Friedel

 

Lieber Friedel

Da juckt mich doch der Schalk, man möge es mir verzeihen, Karl Kraus posthum mit seinen eigenen Worten – aus anderem Zusammenhang - die verschreibe im Gedicht von Kleist, deuten zu lassen:

Stilblüten sammeln
sollte nur, wer ein Liebhaber ist. Sie auszujäten zeugt von einem schlechten Geschmack, von einem, der da wünscht, dass in der Zeitung nur korrekte Phrasen wachsen. Stilblüten sind die glücklichen Ausnahmen, denen wir in der Wüste der Erkenntnis begegnen. Und ist es nicht von einer ergreifenden Symbolik, wenn einer Zeitung der Satz gelingt:

»Sterbend wurde sie ins Spital gebracht, wo sie einem toten Kinde das Leben gab.«​

Geschieht das nicht unser aller gemeinsamen Liebsten, der Kultur? Sterbend wurde sie in die Redaktion gebracht und gebar die Phrase. Ach, wer doch dem toten Kind das Leben gäbe! Er würde die Mutter retten.

Aus: Karl Kraus, Glossen, Aufsätze, Vorträge, April, 1912.


Doppelsinnig nicht nur Kleists Gedicht, auch dass bei der Fackel zu Beginn, etwa Egon Friedell Texte dort veröffentlichte, eine Namensangleichung, die doch schmunzeln lässt.

Ich habe herzlich gelacht, gerade Kleist hätte ich diese beinah Freud'sche verschreibe nicht zugetraut. Die Zeit bezeichnet in einer Rezension von heute das Stück «Der Schrecken im Bade», als literarischen Scherz, in gutem Sinne. Eine Idylle wie Kleist in jenen glücklichen Tagen selbst dazu bemerkte. Es bestätigt, seine Persönlichkeit bleibt auch posthum nur schwer zu fassen, sein Motiv trotz Forschung noch verschleiert.

Gelungen ist, dass er am heutigen Tag, zweihundert Jahre nach jenem Novembertag, in dieser Form hier nochmals auftreten durfte.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

So ist's auch angedacht,

lieber Anakreon,

und es ist auch gut möglich, dass der gescheiterte Phöbus-Kleist dem Fackel-Krauss nix krumm nähme.

Gruß

Friedel

 

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