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An den Ufern des Styx

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08.07.2012
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An den Ufern des Styx

Still lag das Stahlwerk im Licht des Mondes da, von den Sümpfen jenseits der Stadt wehte Verwesungsgeruch herüber. Jacob lauschte dem Donnergrollen der Artillerie. Er schaute sich ein letztes Mal um, dann schlüpfte er durch ein Loch des Maschendrahtzauns. Geduckt lief er über den Fabrikhof, Glasscherben knirschten unter den Sohlen seiner Stiefel. Die Ruine des Hochofens wuchs ihm schwarz entgegen.
Vor der Rampe des Zulieferungsbereichs wirbelten Fetzen aus Papier und Kunststoff über den Asphalt, die Tore der Eisenschmelzerei hingen schräg in ihren Laufschienen.
Also dann, dachte Jacob und holte tief Luft. Mit wenigen Sätzen gelangte er ins Innere der Werkhalle. Gut möglich, dass er hier einiges an brauchbarem Schrott finden würde; Metallteile, die sich für den Bau eines Ofens oder einer Werkbank eigneten. Gut möglich, dass heute Abend auch andere Sammler auf der Suche waren.
Der Wind heulte durch die entblößten Rippen der Dachkonstruktion. Dort, wo noch vor einem Jahr Stahlkocher den funkensprühenden Strom flüssigen Roheisens bändigten, herrschte nun ein Chaos geborstener Armaturen, rosteten Panzerplatten und Kühlwasserleitungen.
Jacob streifte seine Arbeitshandschuhe über. Im Schein des Mondes durchstöberte er den Inhalt der massiven Legierungspfannen. Zwischen Koksresten, Schutt und Schlacke fand er Bleche und Winkeleisen. Nach und nach füllte sich sein Rucksack. Er drehte gerade ein verbogenes Stahlrohr in den Händen, als ein Schrei durch die Nacht hallte, zu einem Kreischen anhob und abrupt verstummte.
Jacob erstarrte. Dann zuckte ein Gedanke durch seinen Kopf: Lauf!
Er ließ das Stahlrohr fallen, schleuderte den Rucksack zu Boden und rannte los. Das Herz pochte mit harten Schlägen bis in seine Kehle. In den Schläfen rauschte das Blut. Er lief durch das Werkhallentor, das Echo seiner Schritte jagte ihn aus der Fabrik.
Das Knallen der Stiefel in den Ohren rannte er, was die Lungen hergaben. Vor seinen Augen dehnte sich der Hof zu einer weiten grauen Fläche.
Etwas zischte über seinen Kopf hinweg. Sie schießen, dachte Jacob. Er stolperte, stürzte und schlug der Länge nach hin. Er stemmte sich hoch, ein dumpfer Schlag traf ihn zwischen den Schulterblättern und warf ihn nieder. Er spuckte Blut, dick und schwarz. Geschosse prasselten neben ihm zu Boden - Pfeile, Bolzen, Stahlkugeln. Jacob zog die Beine an, verbarg den Kopf unter den Armen.
»Nicht mehr schießen!«, rief eine raue Stimme. »Wir kriegen ihn lebend.«
Jacob kämpfte gegen den Schmerz, der sich durch den Rücken in seinen Körper bohrte. Er tastete nach der Klinge im Ärmel seiner Jacke. Schon hörte er hinter sich die Schritte.
»Dreht ihn um«, sagte die raue Stimme. Er wurde gepackt und herumgerissen. Vier Gestalten umringten ihn - Männer in Tarnhosen und zerlumpten Armeejacken, an ihren Gürteln baumelten Helme und Gasmasken. Sie hielten die Waffen gesenkt.
»Perkov gibt uns achtzig oder sogar hundert für den«, sagte einer der vier, offenbar der Anführer. Er war der Mann mit der rauen Stimme.
»Sieht aus wie ein Jude«, sagte ein anderer. »Ist verdammt jung.« Alle lachten, als hätte er einen Witz gemacht.
»Na los«, sagte der Anführer. »Wir nehmen ihn mit.«
Jacob riss die Klinge aus seiner Jacke und hielt sie sich an den Hals. »Einen Scheiß werdet ihr.« Seine Stimme klang heiser.
Die vier Männer blickten auf ihn herab.
Der Anführer sagte: »Okay. Dann mach mal.«
Jacob presste den Griff der Klinge, er spürte die schartige Schneide an seiner Kehle. Ein Schnitt, dachte er, und die Sache ist vorbei.
»Das wird wohl nichts«, sagte einer der Männer, und wieder lachten alle. In ihr Gelächter hinein krachte ein Schuss. Jacob sah, wie der Kopf des Anführers jäh zurückgerissen wurde. Einen Augenblick lang stand der Mann reglos da, das Kinn steil nach oben gereckt, so, als betrachtete er den Mond. Dann brach er zusammen.


Jacob erwachte auf einem improvisierten Krankenlager. Neben der mit Filzdecken gepolsterten Pritsche stand ein Tisch, auf dem Verbandsmaterial ausgebreitet lag. Jacob rieb sich die Schläfen und zuckte zusammen. Der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern erinnerte ihn an die vergangene Nacht. Bruchstückhaft kehrten die Ereignisse auf dem Fabrikhof des Stahlwerks zurück. Da war ein Mann mit einem Loch in der Stirn, der zum Himmel hinauf starrte. Und da war das blasse Gesicht einer jungen Frau, ihr langes schwarzes Haar glänzte im Mondschein. Sie beugte sich zum ihm herab und sagte ... Doch vielleicht bildete er sich das nur ein.
Benommen schaute er sich in dem schäbigen Zimmer um. Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der mit Brettern vernagelten Fenster drang, tanzte der Staub. Tapetenfetzen hingen von den Wänden, unter der Decke breitete sich der Schimmel aus.
Draußen knatterte ein Sturmgewehr, zwei oder drei Straßen entfernt. Dann herrschte wieder Stille.
Jacobs Gedanken kehrten zurück zu der Frau. Er sah, wie sie eine Haarsträhne, die vor ihrem Gesicht flatterte, hinter das Ohr strich, sah ihre Augen, ihren Mund. Hatte sie ihn gerettet?
Mit einem Knarren öffnete sich die Tür. Ein hünenhafter Mann in Soldatenkluft trat herein.
»Kannst du aufstehen?«, fragte er.
Jacob nickte.
»Zieh dir die Stiefel an.«
Der Mann stützte ihn beim Gehen, führte ihn durch einen düsteren Flur und öffnete eine Tür. Die Küche der Wohnung war ein großer kahler Raum. Neben dem Kochherd saß auf einem umgedrehten Blechzuber die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar. Sie trug einen zerschlissenen Armeemantel und Fallschirmjägerstiefel.
»Setz dich da hin«, sagte sie zu Jacob und deutete auf einen Schemel, der an einem Esstisch stand.
Jacob setzte sich und schaute sich in der Küche um. Erst jetzt bemerkte er den alten Mann, der in der gegenüberliegenden Ecke am Boden saß und rauchte. Er würdigte Jacob keines Blickes, starrte auf die morschen Lärchenholzdielen vor seinen Füßen und zog an seiner Zigarette. Sein Gesicht war bleich, seine Haare grau.
Die junge Frau räusperte sich. »Mein Name ist Emily.« Sie deutete mit einer Bewegung des Kinns auf den Alten. »Das da ist Sander und der Große heißt Einar.«
Jacob schaute von einem zum anderen und dann wieder zu Emily.
»Wir drei wohnen in diesem Haus«, sagte sie. »Und du heißt ...«
»Jacob.«
»Bist du Jude?«, fragte Einar. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust und sah mit hartem Blick auf Jacob herab.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Zeig uns deinen Schwanz«, sagte Einar.
Jacob erstarrte, dann schüttelte er wieder den Kopf.
Mit zwei mächtigen Schritten war Einar bei ihm. Er packte Jacob an der Kehle. »Zeig deinen Schwanz«, sagte er noch einmal.
Jacob würgte. »Okay. Ja. Ich bin Jude.«
Einar fluchte und ließ ihn los.
»Ich wusste es«, sagte er. »Verfickte Scheiße. Der kann nicht hierbleiben.«
»Und warum nicht?«, sagte Emily.
Jacob rieb sich den Hals und blickte scheu zu ihr hinüber. Sie war schlank, beinahe zierlich, aber in ihren dunklen Augen loderte das Feuer.
»Wenn sie uns mit einem Juden erwischen, sind wir tot«, sagte Einar und fuhr sich durch das blonde, verfilzte Haar.
»Wenn sie uns erwischen, sind wir so oder so tot«, erwiderte Emily.
Einar schüttelte den Kopf. Er stampfte durch die Küche, drehte sich um und sagte: »War ein Fehler, ihn herzubringen.«
Emily zuckte mit den Schultern. »Hätte ich ihn denen überlassen sollen? Sie wollten ihn an Perkov verkaufen.«
»Und wenn schon«, erwiderte Einar. »Ist das mein Problem? Du verschwendest Munition und gefährdest uns alle, nur um diesem nutzlosen ...«
»Deswegen sitzen wir doch in dieser Scheiße«, unterbrach ihn Emily. »Weil jeder nur an sich denkt.«
Einar schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch. »Ich sage, wir schmeißen ihn raus. Mein letztes Wort.«
»Wenn wir ihn jetzt mit seinen Verletzungen rausschmeißen, wird er es nicht schaffen«, gab Emily zurück.
»Ich gehe«, sagte Jacob. Emily und Einar sahen ihn an. »Danke, dass ihr mich vor denen gerettet habt.«
Einar hob die Hände. »Siehst du«, sagte er zu Emily. »Der kleine Wichser kommt allein zurecht.«
Emily schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
Schweigen breitete sich im Raum aus. Emily hatte Recht. Seit dem Ausbruch des Krieges war jeder Tag ein Überlebenskampf. Allein, ohne Hilfe würde es Jacob mit diesen Verletzungen nicht schaffen.
»Wie alt bist du?«, fragte der Alte in die Stille hinein. Er drückte seine Zigarette in einer beschädigten, von Rissen und Sprüngen übersäten Tasse aus.
»Hm?«
»Ich will wissen, wie alt du bist.«
»Siebzehn«, log Jacob.
Sander schaute ihn an, und sein Blick schien sich in Jacobs Stirn zu bohren. »Siehst nicht aus wie siebzehn.«
»Naja, ich ...«
»Hast du die Schule besucht?«
»Sicher.«
»Wolltest du studieren?«, fragte Sander weiter und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ja.«
»Sieh an.« Sander klemmte die Zigarette in den gesprungenen Rand der Tasse und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es schien, als wollte er die Müdigkeit aus seinem Gesicht wischen.
»Und welches Fachgebiet?«
»Ist doch völlig gleich, was der Kleine studieren wollte«, sagte Einar.
Sander beachtete ihn nicht. Er rieb sich die Wangen, dann schaute er Jacob an und hob die Augenbrauen.
»Also?«
»Maschinenbau«, sagte Jacob.
Sander streckte den Rücken, ein paar Wirbel knackten. Er wirkte jetzt deutlich jünger.
»Was hast du im Stahlwerk gesucht?«, fragte er und griff nach seiner Zigarette.
»Teile«, antwortete Jacob. »Schrott, aus dem ich was bauen kann.«
Sander erhob sich, rollte die Schultern, bog und streckte den Hals. Niemand sagte ein Wort.
Draußen, nicht sehr weit entfernt, knallten Schüsse. Eine Frau schrie. Es war ein einzelner, klagender Schrei. Dann kehrte die Stille zurück.
Sander führte die Zigarette an seine Lippen und inhalierte tief. Er betrachtete Jacob, blies blauen Rauch in die Küche und sagte: »Du bleibst bei uns.«


Drei Tage lang kümmerte sich Emily um Jacob. Dabei sprach sie kaum ein Wort. Sie desinfizierte seine Wunden, sie bandagierte seine Stirn. Die Spitze eines Bolzengeschosses steckte in Jacobs Rücken. Emily weigerte sich, es zu entfernen.
»Ist zu nah an deiner Wirbelsäule«, sagte sie. »Ich kenne mich damit nicht aus. Wir finden eine andere Lösung.«
Jacob nickte. Ihm war es gleich. Tag und Nacht gingen ineinander über. Er dämmerte dahin. Sein ganzer Körper schmerzte. Fieberschübe und wirre Träume plagten ihn.
Jeden Morgen erschien Emily mit einem Tablett an seinem Bett. »Etwas Tee und zwei Scheiben Brot«, sagte sie. »Mehr haben wir gerade nicht.«
Am vierten Tag öffnete sich die Tür und Emily führte einen Fremden herein.
»Dieser Mann ist Arzt«, sagte sie zu Jacob und reichte ihm ein halbgefülltes Glas. Der Geruch stach in der Nase.
»Wodka?«, fragte Jacob.
»So was in der Art.«
Jacob richtete sich auf, trank und sank zurück. Er schloss die Augen und kippte vornüber in die Dunkelheit. Seine Hände griffen matt ins Leere. Da gab es nichts, woran er sich festhalten konnte.


Jacob schlug die Augen auf. Einar stand an seinem Bett und schaute auf ihn herunter. Jacob spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er schluckte.
»Keine Angst«, sagte Einar. »Wenn ich es wollte, wärst du schon tot.«
Jacobs Blick fiel auf das Bajonett, das Einar wie ein Messer im Gürtel trug. »Wo ist Emily?«, fragte er.
»Tja, das ist eine gute Frage.« Einar durchsuchte die Taschen seiner Armeejacke. Schließlich fand er eine Zigarette und Streichhölzer. Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob er sich zu Jacob auf die Pritsche setzen sollte. Dann schnalzte er mit der Zunge und hockte sich auf den Boden. Den Rücken an die Wand gelehnt, spielte er mit der Zigarette zwischen seinen Fingern, zündete sie an und rauchte.
»Also, wo ist sie?«, fragte Jacob noch einmal.
»Sie ist fort«, sagte Einar. »Sie bezahlt deine Behandlung.«
Jacob kniff die Augen zusammen. Er verstand nicht, was Einar gesagt hatte.
»Was meinst du damit?«
Einar betrachtete den dünnen Rauchfaden, der von seiner Zigarette silbrig grau nach oben stieg.
»Meinst du, ein Arzt kommt einfach her und operiert dich kostenlos aus reiner Menschenliebe?«
Jacob bewegte die Schultern. Er spürte noch immer ein dumpfes Ziehen, aber der bohrende Schmerz war fort.
»Der Bolzen ...«, sagte er.
»... ist raus«, bestätigte Einar. »Bedanke dich bei Sander und Emily. Wenn es nach mir gegangen wäre ...«
»Ich weiß«, sagte Jacob. »Du hasst die Juden.«
Einar hob die Schultern. »Ich hasse euch nicht. Ihr seid mir völlig egal.«
»Sie haben früher schon einmal Jagd auf uns gemacht.«
»Scheiße«, sagte Einar. »Ich weiß, was damals im zweiten Weltkrieg passiert ist. Ich kenne die Story mit den Deutschen.«
»Also was ist nun mit Emily?«, fragte Jacob erneut.
Einars helle Augen richteten sich auf ihn. Es lag kein Hass in diesem Blick, kein Zorn. Da war nur große Müdigkeit, eine bis in die Knochen reichende Erschöpfung. »Sie fickt als Bezahlung für deine Behandlung, Kleiner.«
Jacob richtete sich auf. Wieder schlug sein Herz schneller.
»Wieso ...«, stieß er hervor. »Wieso tut sie das?«
Einar winkte ab. »Bilde dir bloß nichts ein«, sagte er. »Wir bekommen auch ein paar Konserven dafür, ein wenig Munition ...«
Jacob schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gewollt.«
Einar lachte. »Es ist Krieg, Kid. Hier bekommt niemand, was er will.«


Sander deutete auf die vernagelten Fenster. »Jeden Morgen kontrollieren wir, ob die Bretter fest sitzen. Und zwar im Keller, im ersten und im zweiten Stock.«
Jacob betrachtete ihn gedankenverloren.
»Wir haben im ganzen Haus Fallen aufgestellt«, fuhr Sander fort. »Damit fangen wir Ratten und Mäuse, manchmal einen Marder. Die Fallen müssen auch jeden Morgen überprüft werden.«
Sander bemerkte Jacobs Blick.
»Was hast du? Warum starrst du mich so an?«, fragte er.
»Ich ... Es ist ...«, sagte Jacob.
»Ja?«
»Ich erkenne dich kaum wieder. Du ...«
Sander lachte. »Das passiert vielen Menschen. Ich habe ein Allerweltsgesicht.«
»Nein, ich meine, du siehst völlig verändert aus. Viel jünger.«
Sander rieb sich das Kinn. »Der Bart ist ab«, sagt er. »Daran wird es liegen.«
Jacob wollte etwas sagen, doch Sander hob die Hand. Er fixierte Jacob mit einem seltsamen Blick. Dann lächelte er und sagte: »Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir unser Destilliergerät.«
Jacob folgte ihm durch das verfallene Treppenhaus.
»Ihr brennt Alkohol?«, fragte er nach einer Weile.
»Das würden wir gern«, erwiderte Sander. »Aber dafür fehlen uns die Baumaterialien.«
»Ein Gefäß aus Kupfer wäre ideal«, sagte Jacob.
Sander lachte. »Ich weiß. Einar geht deswegen einem Tipp nach. Wir haben von einer Villa in der Nähe des Flughafens gehört. Dort im Keller soll eine komplette Brennanlage stehen.«
Im vierten Stock öffnete Sander eine Tür, und sie traten in einen hellen, grüngetünchten Raum. An den Wänden dunkelten Stockflecken. Der Destillierapparat stand dicht bei einem der beiden ungesicherten Fenster.
»Vorsicht«, sagte Sander. »In diesem Raum arbeiten wir eigentlich nur nachts und immer ohne Beleuchtung. Wenn du tagsüber hier zu tun hast, solltest du die Fenster abhängen.« Er deutete auf Feldplanen, die zusammengerollt in einer Ecke des Zimmers lagen. »Das gilt auch für alle anderen Räume.«
»Heckenschützen«, sagte Jacob.
Sander nickte. »Ja, es werden immer mehr. Es ist kein Problem, an einem der offenen Fenster im Treppenhaus vorbeizugehen. Aber bleib nicht stehen.«
»Warum schießen die auf uns?«
»Sie wollen Angst verbreiten«, antwortete Sander. »So kontrollieren sie uns.«
»Wir kämpfen doch nicht.«
»Das könnten wir aber. Denk mal an die Partisanengruppen. Vor denen fürchten sie sich. Mit den Heckenschützen wollen sie verhindern, dass wir uns organisieren.«
Jacob sah sich schweigend in dem Raum um. »Warum nagelt ihr diese Fenster nicht auch zu?«, fragte er dann.
»Naja, früher haben wir das gemacht«, sagte Sander. »Aber wir brauchen etwas im Licht im Haus. Außerdem hat man von hier aus einen guten Blick auf die Kreuzung vor dem Haus.« Er zwinkerte Jacob zu. »Manchmal ist Wissen der beste Schutz vor deinen Feinden. Ich stehe nachts gern hier und beobachte.«
Das Destilliergerät war simpel konstruiert. Der untere Teil bestand aus einem Herd, der mit Holz oder Kohle befeuert werden konnte. Das auf dem Fensterbrett verankerte Abzugsrohr ragte etwa einen Meter aus dem Zimmer heraus. Auf der Herdplatte stand ein großer Kochtopf, durch dessen Deckel ein daumendickes, abwärts geneigtes Winkelrohr geführt war.
»Es gibt drei Öfen in diesem Haus«, sagte Sander. »Einer steht unten in der Küche, einer in Emilys Zimmer in der dritten Etage und das hier ist der dritte. Brennholz ist wertvoll, also ...« Er begann, Jacob die Befeuerungsmethode zu erklären.
»Heh, Sander«, unterbrach ihn Jacob. »Ich weiß, wie man einen Ofen heizt.«
Sander lachte. »Schon gut. Dann sag mir mal, was hier bei dieser Destille zu tun ist.«
»Man erhitzt das verschmutzte Wasser«, sagte Jacob. »Der Dampf kühlt ab und das kondensierte Wasser tropft in ein Gefäß, das unter das Rohr da gestellt wird.«
»Kluger Junge.« Sander lächelte. »Ja, wir verwenden eine Blechwanne, wenn Emily unten in der Küche nicht gerade drauf sitzt.«
»Wenn ihr Regenwasser nutzt, müsstet ihr es eigentlich nicht mehr destillieren«, sagte Jacob.
»Stimmt. Aber die Planen, mit denen wir es auffangen, sind stark verschmutzt.« Sander wies mit dem Zeigefinger nach oben. »Wir haben auf dem Dach auch ein paar Felddecken ausgelegt, um Feuchtigkeit aufzusaugen. Wir wringen das Zeug dann aus und reinigen das Wasser mit der Destille. Gut, lass uns runtergehen, ich will mir den Verband an deinem Rücken anschauen.«
In der dritten Etage glitt Jacobs Blick über die geschlossenen Wohnungstüren.
»Wann wird Emily zurück kommen?«, fragte er.
»Bald«, erwiderte Sander ohne sich umzudrehen. »Sie wird bald zurück sein.«


Später an diesem Vormittag hämmerte jemand gegen die Haustür. Sander und Jacob gingen nach unten.
»Ich bin's«, rief Einar von draußen. Sander öffnete.
Einar stampfte in die Küche und löste den Trageriemen seines Gewehrs. Er stellte das Gewehr in eine Ecke und warf seinen Rucksack auf den Küchentisch.
»Gute Neuigkeiten«, sagte er. »Ich habe die Brennerei gefunden. Ein bisschen Kleinkram wurde geplündert, doch die Brennblase ist noch da. Ich brauche aber jemanden, der beim Transport hilft.«
»Ist das Haus bewohnt?«, fragte Sander.
»Bis vor kurzem war es das«, sagte Einar. »Im ersten Stock liegen fünf Leichen. Zwei Erwachsene, drei Kinder.«
Jacob starrte Einar an.
»Was ist?«, sagte Einar und stützte die Fäuste in die Seiten. »Denkst du, ich lege fünf Menschen um, wegen einer Brennapparatur?«
Jacob schwieg.
Sander rieb sich das Kinn. »Mit purem Alkohol könnten wir unsere medizinischen Vorräte auffrischen.«
»Und er ist ein ideales Tauschmittel«, sagte Einar. Er öffnete den Rucksack und holte ein paar Konservendosen, Werkzeug und einige Scheite Brennholz hervor. »Da ist noch etwas anderes. Ich habe heute Nacht einen Sniper entdeckt. Stand gerade im gegenüberliegenden Haus, als er vom Dachboden aus auf ein paar Sammler geschossen hat.«
»Wo war das?«, fragte Sander.
»In der Nähe des Zentralbahnhofs. Dem Kerl würde ich gern einen Besuch abstatten.«
»Meinst du, der ist morgen wieder da?«
»Ja. Ich habe gewartet und gesehen, wie er das Haus verließ. Der hatte das Gewehr nicht dabei. Ich wette, er kommt zurück.«
Sander nickte. »Einen Versuch ist es wert.«


Das letzte Licht des Tages legte sich grau über die Stadt. Seit dem späten Nachmittag donnerten in der Ferne wieder dumpf die Geschütze. Jacob folgte Einar durch zerstörte Straßen. Sie stiegen über Berge aus Schutt, duckten sich hinter Mauern und sprangen zwischen ausgebrannten Fahrzeugwracks von Deckung zu Deckung.
Jacobs Herz hämmerte gegen seine Brust. Es war nicht nur die Angst, die Aufmerksamkeit eines Scharfschützen zu erregen. Es war der Gedanke, Emily nicht wiederzusehen, der ihn verrückt machte. Der Verabredung nach hätte sie im Laufe des Tages zurückkehren sollen. Doch sie war nicht gekommen, und das bedeutete ... Niemand wusste, was das bedeutete.
»Da sind wir«, sagte Einar und zeigte auf ein Haus, das hoch über den Platz vor dem Zentralbahnhof aufragte. »Wir suchen uns ein gemütliches Versteck im ersten Stock.«
»Und dann?«
»Dann warten wir.«
Das gemütliche Versteck - schwarzer Schimmel an den Wänden, ein Loch in der Decke, Rattendreck und Katzenpisse überall. Jacob hockte im Flur neben der zertrümmerten Wohnungstür und lauschte. In das Wummern der Artillerie hinein knallten Schüsse, hell und scharf, sehr nah. Dann wieder Stille, bis auf das Rauschen des Windzuges, der durch die verwüsteten Zimmer und Korridore strich.
Hinter der Tür der Nachbarwohnung lauerte Einar auf den Scharfschützen. »Schlaf nicht ein, Kid«, hatte er Jacob eingeschärft. »Mach keinen Mucks.«
Irgendwann, es waren Stunden vergangen, spürte Jacob seine Beine nicht mehr. Er legte sich in völliger Finsternis auf den Rücken und streckte die Knie ... und erwachte vom Geräusch schwerer Schritte im Hausflur.
Jacob wagte nicht, sich zu bewegen. Das Schaben der harten Sohlen auf den Absätzen des Treppenhauses schnürte ihm die Kehle zu. Im Klang dieser Schritte lag etwas Feindseliges. Jacob hörte darin all die Verachtung und den Hass, die seiner Familie und ihm in den letzten zwei Jahren entgegengeschlagen waren. Als Ungeziefer hatte man sie bezeichnet, und wie Ungeziefer wollte man sie zertreten.
Jacob hörte jedes Detail – das Ächzen der morschen Dielen, das Knarren des Stiefelleders, das Rascheln schwerer Feldkleidung. Die Schritte wurden lauter, kamen näher, so nahe ... Dann herrschte plötzlich Stille im Treppenhaus. Und jetzt roch Jacob den Fremden. Schweißgeruch und Tabakdunst breiteten sich aus. Kein Zweifel, er stand direkt vor seiner Tür.
Jacob presste die Kiefer zusammen, das Pochen seines Herzens dröhnte ihm im Schädel, so laut wie die Schläge einer Kirchturmuhr. Er starrte in die Finsternis, doch da war nichts. Und so lag er in diesem Flur, hilflos wie ein auf den Rücken gerollter Käfer, angsterfüllt, verzweifelt. Er sieht dich, ging es ihm durch den Kopf. Als er ein metallisches Klicken hörte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Es war das Geräusch einer Pistole, deren Hahn gespannt wurde. Er zielt auf dich, und schießt dir ins Gesicht.
Jacob schloss die Augen und hörte ein Poltern. Ein Schlag, ein Schrei. Ein schwerer Körper ging zu Boden.
»Schauen wir uns den Kerl an, Kid«, hörte er Einars Stimme.
Als der Fremde die Augen öffnete, blickte er auf die Spitze eines Bajonetts.
»Ich ramm' dir die Klinge in die Fresse, wenn du mich verarschen willst«, sagte Einar.
Jacob hielt eine Kerze in der Hand. In ihrem gelben Licht tanzten die Schatten an den Wänden des Treppenhauses. Noch immer zitterte er am ganzen Leib.
»Hör auf, herumzuzappeln«, sagte Einar zu ihm, dann wandte er sich wieder dem Fremden zu. »Ich weiß, dass du zum Spaß auf Leute schießt.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, bitte. Ich wollte mich hier nur umschauen.« Jacob betrachtete ihn. Sah so ein Mann aus, der ihn töten wollte? Was sagte dieses Gesicht? Jacob konnte darin keine Verachtung erkennen, keinen Hass. Da war nichts als Angst. Es war die Angst eines gewöhnlichen Mannes.
»Du trägst Soldatenklamotten«, sagte Einar.
Der Fremde grinste schief. »Du auch, Bruder.«
Einar schwieg. Jacob kaute auf seiner Lippe. Der Fremde hatte Recht. Sahen sie nicht alle wie Soldaten aus?
»Und wenn er die Wahrheit sagt?« Jacobs Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren.
Einar lächelte und schüttelte den Kopf. Er bewegte die Spitze des Bajonetts vor den Augen des Mannes hin und her. »Ich habe dich gestern gesehen. Du bist hier aus dem Haus spaziert, nachdem du geschossen hast.«
»Nein«, sagte der Fremde in flehendem Ton. »Du irrst dich. Das war ich nicht. Bitte. Ihr müsst mir glauben.« Tränen liefen über sein schmutziges Gesicht.
»Und was wolltest du mit der Pistole?«, fragte Einar.
»Ich ... ich hatte etwas gehört«, sagte er. »Ich dachte ... Heh, ich wollte mich nur schützen.«
Jacob rückte dicht an Einar heran. »Ich glaube ihm«, sagte er. »Lassen wir ihn laufen.«
Einar atmete tief durch. »Okay«, sagte er zu dem Fremden. »Zieh deinen Mantel aus.«
Der Mann erbleichte.
»Was hast du vor?«, sagte Jacob. »Willst du ihn ausrauben? Er ist einer von uns.«
»Halt's Maul, Kid. Einer von uns? Sicher nicht.«
Der Mann schälte sich aus dem Armeemantel. Noch immer glitzerten Tränen in den groben Zügen seines Gesichts.
»So«, sagte Einar. »Jetzt zieh das Hemd aus und zeig' unserem jungen naiven Freund hier deine Schulter.«
Die Worte fielen schwer wie Blei, es war, als rauschten sie aus großer Höhe herab in das schmutzige Treppenhaus. Ein kalter Glanz trat in die Augen des Fremden. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ausziehen«, wiederholte Einar. Der Mann knöpfte das Hemd auf und streifte es über die Schulter.
Jacob betrachtete den dunklen Fleck über der Brust des Fremden.
»Das kommt vom Rückstoß eines Gewehrs«, sagte Einar. »Viele Schützen haben so etwas.«
Jacob öffnete den Mund, aber er sagte nichts. Unwillkürlich klammerte er sich an Einars Arm.
»Okay, machen wir die Sache kurz«, sagte Einar zu dem Fremden. »Ich lasse dich laufen, wenn du mir sagst, wo du das Gewehr versteckt hast.«
»Du lässt mich laufen«, wiederholte der Mann mit einem höhnischen Lächeln.
»Ja«, sagte Einar. »Ich poliere dir die Visage, und dann lass ich dich laufen. Damit du deinen Leuten sagen kannst, was wir mit euch Heckenschützen machen.«
»Vergiss es.«
»Dann frisst du jetzt die Klinge«, sagte Einar. Er holte mit dem Bajonett aus. »Schau weg, Kid.«
»Okay, warte.« Das Gesicht des Fremden war kalkweiß. »Dachboden. Eine lockere Bohle unter dem letzten Fenster.«
Einar nickte. »Wir gehen jetzt zusammen da hoch. Wenn das Gewehr nicht da ist, schneide ich dir die Eier ab.«
Der Fremde schluckte. Jacob zitterte so sehr, dass das Wachs der Kerze auf seine Hände tropfte.
Einar tippte auf das Hämatom des Fremden. »Das sage ich nicht nur so. Ich schneide dir den Sack ab. Mit diesem Bajonett. Alles klar?«
»Dachboden, letztes Fenster«, wiederholte der Mann. In seinen Augen stand Todesangst.
Einar nickte. Mit einer schnellen Bewegung presste er eine Hand auf den Mund des Fremden und rammte die Klinge durch die Kehle des Mannes. Das Blut spritzte in weitem Bogen durch das Treppenhaus. Jacob wich entsetzt zurück. Im flackernden Licht der Kerze starrte er auf die grausame Szene. Er sah, wie das Blut schwarz an den Wänden herablief. Sah, wie die Hände des Fremden in die Luft griffen. Sah Einar, der noch ein, zwei Mal zustieß und dann die Klinge am Mantel des Toten abwischte.
»Warum ...«, keuchte Jacob. »Du wolltest ihn gehenlassen.«
Einar durchsuchte die Taschen des Mannes. Er steckte das Bajonett in seinen Gürtel, ergriff den Rucksack des Scharfschützen und sagte: »Holen wir uns das Gewehr.«


Jacob lag auf dem Bett und stöhnte. Er presste die Hände auf das Gesicht, doch er konnte die Bilder der letzten Nacht nicht vertreiben. Wieder und wieder rollte die Szene im Treppenhaus vor seinen Augen ab.
»Wie geht's dir?«, hörte er Emilys Stimme und fuhr herum.
Emily stand in der Tür. Ihr Gesicht war blass, Schatten lagen unter ihren Augen.
Jacob sprang auf und machte einen Schritt auf sie zu.
»Du bist zurück«, sagte er.
»Ja«, erwiderte sie und lächelte müde. »Wollte mich nicht anschleichen. Deine Tür stand offen, also ...«
»Komm rein«, sagte Jacob. »Bitte.« Er setzte sich auf die Pritsche und wischte mit dem Hemdsärmel über sein Gesicht. Emily trat ins Zimmer und setzte sich zu ihm.
»Hast du geheult?«
Jacob schüttelte den Kopf.
Emily griff in die Tasche ihres Mantels und holte ein Päckchen Tabak hervor. Jacob beobachtete, wie sie das Päckchen öffnete, Zigarettenpapier und etwas Tabak entnahm. Ein Duft, der von ihrem Haar auszugehen schien, breitete sich aus.
»Ich wär' schon eher gekommen«, sagte sie. »Aber am Fluss gab es Kämpfe. Ich musste warten.«
»Hm.«
»Wo kommst du eigentlich her, Jacob? Hast du mit deiner Familie hier in der Stadt gelebt?«
Jacob nickte.
»Und wo sind deine Leute jetzt?«, fragte Emily weiter.
»Weiß nicht«, sagte Jacob. »Wir haben uns verloren.«
»Verloren?«
»Ja. Wir wurden getrennt.«
Emily verteilte ein wenig Tabak auf dem Zigarettenblättchen. Jacob betrachtete ihre schlanken Hände, verfolgte, wie Emily den Tabak knetete und rollte. »Ihr wart auf der Flucht?«
Jacob nickte. »Ja, mein Vater wollte raus aus der Stadt.«
»Was ist passiert?«
»Wir waren im Zug, meine Eltern, meine Schwester und ich.«
Emily befeuchtete ihre Lippen. Sie leckte über die Klebefläche des Blättchens, drehte die Zigarette zwischen ihren Fingern, strich sie glatt und zupfte den überstehenden Tabak heraus.
»Nachts gab es einen Bombenangriff. Der Zug entgleiste. Alles brannte. Irgendjemand hat mich aus dem Abteil gezogen.«
Emily hielt inne. »Und du weißt nicht, was mit deinen Leuten geschehen ist?«
Jacob schüttelte den Kopf. »Ich hab sie gesucht, aber ...«
Emily griff in ihre Tasche und holte eine Schachtel Streichhölzer hervor. Sie steckte die Zigarette an und rauchte. »Und dann?«, fragte sie.
»Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte«, sagte Jacob. »Ein Mann nahm mich mit, zurück in die Stadt.«
Jacob schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Erst habe ich ein paar Monate bei einem alten Ehepaar in unserer Nachbarschaft gelebt. Später habe ich mich allein durchgeschlagen.«
»Naja, jetzt bist du nicht mehr allein«, sagte Emily.
Jacob räusperte sich. »Danke, dass du mich im Stahlwerk gerettet hast«, sagte er.
Emily nickte. »Die sind gelaufen, wie die Hasen. Unser altes Sturmgewehr hat sie beeindruckt.« Sie lachte. »Nur dich herzuschleifen war kein Spaß. Du konntest dich kaum auf den Beinen halten.«
Jacob rieb sich die Stirn. »Da war ein Schrei, bevor ich weggerannt bin. Hast du ...«
Emily saugte an ihrer Lippe. »Ja«, sagte sie. »Einar war noch mal da, um sich ein bisschen umzusehen. Er hat die Leiche eines Mädchens gefunden. Ich denke, sie haben sie beim Sammeln überrascht.«
Eine Weile schwiegen sie.
Dann sagte Jacob: »Ihr habt den Arzt für mich gerufen und du ...«
»Mach dir keine Gedanken, ich war nicht wegen dir bei ihm«, sagte Emily.
»Nein?«
»Er hat uns in den letzten Monaten so oft geholfen, auch mit Vorräten und Munition ...«
»Aber warum hast du ...« Jacob rieb sich über die Lippen und schwieg.
»Heh, Jacob, sieh mich an.« Jacob hob den Blick und sah in Emilys Augen.
»Wir werden das hier überleben«, sagte sie. »Das ist alles, was zählt.«


Sander entzündete die Petroleumlampe und stellte sie auf den Küchentisch.
»Ich habe mit Ivar gesprochen«, sagte er. »Die Partisanen geben uns zweihundert für das Scharfschützengewehr und noch ein paar Lebensmittel dazu. Wir sollen es ihnen in vier Tagen bringen.«
Einar rieb sich das Kinn. »Lass es uns behalten«, sagte er. »Unser altes Gewehr und die Pistole, die ich dem Sniper abgenommen habe. Das ist nicht viel. Wir haben zu wenig Waffen.«
»Vergiss nicht die Feueraxt«, sagte Sander lächelnd. »So weit ich mich erinnere, hast du damit zwei Plünderer erschlagen.«
Einar winkte ab. »Ich meine es ernst, Sander. Das Scharfschützengewehr könnte nützlich sein.«
Sander hob die Schultern. »Sehe ich auch so, aber wir haben nur zwei Patronen dafür. Du weißt, wie schwer die aufzutreiben sind.«
Einar schwieg.
»Was nutzt uns ein Gewehr ohne Munition?«
Einar nickte.
»Heute Nacht gehe ich raus«, fuhr Sander fort. »Jacob übernimmt den ersten Teil der Wache, Einar den zweiten. Emily schläft sich aus.«
Einar lachte auf. »Der soll allein Wache schieben?«
»Das schafft er schon. Erklär ihm alles. Gib ihm die Pistole.«
Einar schnalzte mit der Zunge. »Kannst du mit einer Waffe umgehen, Kid?«
Jacob schüttelte den Kopf.
»Zeig es ihm«, sagte Emily und schaute Jacob mit ihren dunklen Augen an. »Ich glaube, er lernt sehr schnell.«
Jacob spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
»Ich wollte heute die Brennblase holen«, beharrte Einar. »Wer weiß, wie lange die da noch im Keller liegt.«
»Ihr holt sie morgen.«
»Aber ...«
»Einar.« In Sanders Stimme lag keine Schärfe, doch ihre Kraft duldete keinen Widerspruch. »Du warst jetzt drei Nächte lang draußen. Zeig Jacob, wie man die Pistole abfeuert, und ruh dich aus.«
Einar hob die Schultern. »Ich hoffe, er schießt sich nicht ins Knie.«
Gegen Mitternacht beschloss Jacob, Tee zu kochen. Emily hatte ein paar Vorräte mitgebracht, vor allem Konserven und ein wenig Schokolade. Auch etwas Schwarzer Tee war dabei.
Er legte die Pistole auf den Küchentisch und entzündete den kleinen Benzinkocher, den er statt des Kochherds benutzen sollte, goss Wasser in den Topf und lauschte. Wacheschieben bedeutete genau dies: Lauschen. Zu sehen gab es nichts. In den ersten zwei Stunden war Jacob in den unteren Etagen von Raum zu Raum gegangen, doch das machte nicht viel Sinn.
Einar hatte ihm erklärt, wie Plünderer vorgingen, wenn sie ein bewohntes Haus überfielen. Meist hebelten sie im Erdgeschoss ein vernageltes Fenster auf. Sie kamen selten durch die Tür.
»Also setz dich irgendwo ins Treppenhaus, Kid. Sperr die Löffel auf. Wenn sie kommen, kommen sie durch die Fenster im Parterre!«
Wie in jeder Nacht rollte der Donner der Artilleriegeschütze. Im Topf siedete das Wasser, und Jacob brühte Tee auf. Er setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und betrachtete die Pistole, deren Metallverschluss im Licht der Petroleumlampe glänzte.
»Du führst die Waffe geladen, gespannt und gesichert, Kleiner. Wenn du schießen willst, darf du nicht vergessen, den Sicherungshebel zu drücken.«
Einar hatte ihm auch die schwere Feueraxt gezeigt, die in einer Wohnung des zweiten Stocks bereit lag, um Eindringlinge zurückzuschlagen. Doch Jacob bezweifelte, dass er dazu in der Lage war, mit dieser unhandlichen Waffe zu kämpfen.
Wie mochte es sich anfühlen, Einar zu sein? Wie er durch diese Welt zu gehen? Als Krieger. Als Mörder. Jacob dachte daran, dass auch Emily einen Mann getötet hatte. Aber das hatte sie getan, um ihn zu retten. Ob auch Sander getötet hatte?
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. Ein Geräusch im Treppenhaus riss ihn aus den Gedanken. Er sprang auf, griff die Pistole und schlich zur Küchentür hinaus. Er lauschte. Irgendwo im Hausflur knarrten die Dielen. Jacob entsicherte die Pistole und wartete. Minuten vergingen. Er atmete durch. Er spähte durch die offenstehende Wohnungstür, trat in das Treppenhaus und schaute sich um. Nichts.
Er kehrte in die Küche zurück, ergriff die Petroleumlampe und ging im Erdgeschoss von Wohnung zu Wohnung. Nichts.
Obwohl der Ausbruch des Krieges viele Monate zurücklag, wurde ihm erst jetzt bewusst, dass die Welt seiner Kindheit verloren war. Irgendwie, er hätte es nicht genau erklären können, hatte er an der Vorstellung festgehalten, dies alles - der Krieg, die Zerstörung, die Schreie und die Leichen auf den Straßen - dies alles wäre eines Tages fort. Fort und vergessen, als wäre nichts davon geschehen. Mila, seiner Schwester, wäre wieder da und auch seine Eltern. Sie würden wieder in ihrem Haus leben. Doch das stimmte nicht.
Er setzte sich an den Esstisch, sicherte die Waffe und nippte an seinem Tee. Er fühlte den Luftzug, der durch die Küche strich und dann hörte er ein Seufzen, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Jacob wagte nicht, sich zu rühren.
Die Flamme im Brenner der Lampe züngelte über dem Docht. Jacob hob den Glaszylinder und blies sie aus. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erhob er sich und schlich aus der Wohnung. Im diffusen Rest des Mondlichts, das in den oberen Etagen durch die Fenster fiel, stieg er die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. Eine Wohnungstür stand offen. Jacob trat in den Korridor, und da war es wieder. Aus einem der Zimmer drang ein Seufzen, ein Aufstöhnen, ein erstickter Schrei.
Jacob schluckte. In seinem Kopf war Leere, in seinen Füßen Blei. Lautlos näherte er sich dem Zimmer. Die Waffe lag schwer in seinen Händen. Er drückte den Pistolenlauf gegen die Tür, ein schwacher Lichtschein fiel in den Flur.
Jacob öffnete die Tür noch ein wenig mehr, nur einen Spaltbreit ... Beinahe wäre die Pistole aus seinen Händen geglitten. Im sanften Schimmer einer Kerze bog sich Emilys nackter Körper unter Einars Händen. Der Riese saß auf einem Stuhl, der Tür den mächtigen Rücken zugewandt. Emily ritt auf seinen Schenkeln, sie schlang die Arme um seinen Nacken, küsste seine Brust, leckte seinen Hals.
Jacob ließ die Waffe sinken. Atemlos stand er da und starrte auf Emily, die in den Armen des Hünen zart und zerbrechlich wirkte. Doch sie ritt Einar wie einen Bullen. Ihre Finger krallten sich in seine Schultern. Ihre Hüften kreisten wild, ihre Brüste wippten auf und ab. Einar ächzte, er walkte und knetete Emilys weißen Leib. Sein Atem ging in schweren Stößen. Der Stuhl unter ihm knarrte.
Jacob betrachtete Emilys Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund halb geöffnet. Ihre Lippen formten Worte, die er nicht verstand. Was auch immer sie jetzt fühlte, Jacob wünschte ... Emily schlug die Augen auf, und ihre Blicke begegneten sich.
Es war, als hätte ihn erneut ein Bolzen getroffen. Emilys Blick brannte sich in seinen Schädel, durch seine Brust, seine Eingeweide. Er wich zurück, eilte durch den Flur, das Treppenhaus hinab und hockte sich mit klopfendem Herzen im Erdgeschoss neben die Haustür.


Einar zog sich das Tuch vor das Gesicht und öffnete die Tür. Jacob taumelte zurück. Der Verwesungsgestank betäubte ihn.
»Schnell rein, schnell raus«, sagte Einar. »Ich habe die Brennblase schon demontiert. Wir schnappen uns das Ding und sind weg.«
Jacob presste den Ärmel seiner Jacke vor Mund und Nase und stolperte hinter Einar durch den Flur der Villa.
»Hier entlang«, sagte Einar und stieß die Kellertür auf. »Zünde die Kerze an. Kleb' sie auf das Geländer, damit wir was sehen beim Schleppen.«
Die Kupferbrennblase mochte zwei Zentner wiegen, und obwohl Einar über Bärenkräfte verfügte, war es eine erbärmliche Schinderei, den Kessel die Kellertreppe hinauf zu tragen.
»Lass uns das Ding kurz hier absetzen«, sagte Einar, als sie den Treppenabsatz erreichten. »Ja, so ist es gut.«
Jacob rieb sich die Schultern. »Ist verdammt schwer, das Teil.«
Einar nickte. »Und verdammt wertvoll für uns.«
»Was ist mit den Leuten hier passiert?«
»Sie wurden umgebracht«, sagte Einar. »Und jetzt verfaulen sie, wie all die anderen Toten in dieser Stadt. Los, lass uns weitermachen. Der Gestank bringt mich um.«
»Ich will sie sehen«, sagte Jacob.
Einar schüttelte den Kopf. »Nein, Kid. Das willst du nicht. Los, machen wir, dass wir hier rauskommen.«
Jacob bewegte sich nicht. »Erst will ich sie sehen.«
»Meine Fresse«, sagte Einar und kratzte sich am Nacken. »Vor zwei Tagen, da hast du dir die Hosen bepisst, und heute willst du die volle Horrorshow?«
Jacob nickte.
»Okay«, sagte Einar. »Aber erst schleppen wir das Ding rauf.«
»Nein«, sagte Jacob. »Ich weiß, wie du deine Versprechen hältst.«
Einar betrachtete ihn einen Moment lang. »Also gut«, sagte er schließlich. »Wie du willst.«
Jacob folgte Einar in den ersten Stock, in der Hand hielt er die brennende Kerze.
»Was du jetzt siehst, Kleiner, wirst du dein Leben lang nicht vergessen. Du wirst es nicht verstehen, deshalb erkläre ich es dir. Hier entlang.« Einar deutete auf einen großen Raum, den Salon des Hauses.
»Siehst du all die Bilder an den Wänden, Kid, die Vorhänge an den Fenstern?«
Jacob kämpfte gegen den Würgereiz, der Gestank war unerträglich.
»Die Leute hier sind seit Tagen tot, aber es wurde nicht viel gestohlen«, sagte Einar. »Und gleich wirst du wissen, warum.«
Im zuckenden Schein der Kerze trat Jacob hinter Einar in den Salon.
In der Nähe der Fenster, zehn oder zwölf Schritte entfernt, lagen fünf enthauptete Leichen. Wahrscheinlich hatten die Mörder ihnen die Köpfe auf den Bauch gelegt, denn zwei der Schädel ruhten eingesunken im weichen Gewebe unter den blanken Rippenbögen. Die drei anderen Köpfe lagen neben den Toten.
Jacob trat etwas näher und betrachtete die Leichen. »Sie bewegen sich!«, stieß er hervor.
Einar schüttelte Kopf. »Sieh' genau hin.«
Das Pulsieren der unbekleideten Leiber rührte von Tausenden dicker Maden her. Sie wimmelten und brodelten im toten Fleisch.
Jacob spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten, Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Das Ehepaar hatte zwei Töchter und einen Sohn«, sagte Einar. »Geh näher ran.«
Jacob machte noch einen Schritt, hob die Kerze und betrachtete einen der abgetrennten Köpfe. Er gehörte einem der Mädchen, Jacob erkannte das blonde, zu Zöpfen gebundene Haar. Das Gesicht wirkte schrecklich entstellt. Es sah aus, als streckte die Tote ihm mit einem furchtbaren Grinsen die Zunge entgegen. Doch, Moment ...
Jacob stieß einen Schrei aus. Er fuhr herum und prallte gegen Einar, den Hünen. Er ließ die Kerze fallen, klammerte sich an Einar fest und schrie. Finsternis umfing sie.
»Sie haben die Frau, die Mädchen und den Jungen vergewaltigt«, sagte Einar in die Dunkelheit hinein, und Jacob schrie. Tränen flossen heiß an seinen Wangen herab.
»Sie haben dem Mann und dem Jungen die Schwänze abgeschnitten und den Mädchen in den Mund gestopft.« Einars tieftönende Stimme erfüllte den Raum. Jacob presste sich an ihn und hörte, wie sie im Inneren des Riesen widerhallte. Er wimmerte, biss sich auf die Lippen.
»So bestrafen sie alle, die den Partisanen helfen«, sagte Einar. »So zeigen sie uns, dass man uns das Maul stopfen wird, wenn wir mit den falschen Leuten reden. Und deshalb meiden Plünderer das Haus. Vorerst.«
Nachdem sie den Brennkessel auf den Handkarren gewuchtet hatten, nahm Einar das Tuch vom Gesicht und steckte sich eine Zigarette an. »War 'ne bescheuerte Idee von dir, Kid.«
Jacob schwieg, und als Einar den Karren anzog, half er, indem er den Brennkessel in Balance hielt.
»Das ist die Welt, in der wir leben«, sagte Einar. »Deshalb musst du lernen, wie man kämpft, wie man schießt, wie man eine Handgranate wirft.«
Einar blieb stehen. Jacob sah ihn aus geröteten Augen an.
»Das war der Zorn des Ares, Kleiner. Er ist der verfickteste, blutrünstigste Gott im ganzen Olymp. Der Gott des Massakers, des Schlachtens und Metzelns.«
Einar zog an seiner Zigarette. »Und das hier«, er machte mit den Armen eine Geste, die die ganze Stadt einschloss, »das hier ist sein verdammter Spielplatz.«


Jacob trat in die Küche. »Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte er.
»Sicher«, sagte Emily.
Sie hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und rauchte. Das Licht der Petroleumlampe zeichnete einen harten Schatten auf die linke Seite ihres Gesichts.
»Lass mich mal ziehen«, sagte Jacob.
Emily strich etwas Asche am Rand der Blechbüchse ab, die neben ihr am Boden stand. Sie streckte den Arm aus und hielt Jacob die Zigarette hin. »Nimm sie, ich dreh mir eine neue.«
Jacob nahm die Zigarette und stand einen Moment lang unschlüssig in dem kahlen Raum.
»Was ist?«, sagte Emily und lachte. »Weißt du nicht, ob du dich aufs Sofa oder in den Sessel setzen sollst?«
Jacob rückte den Küchenschemel unter dem Tisch vor und setzte sich. Er zog an der Zigarette und paffte den Rauch hinauf zur Decke.
»Warum haben wir eigentlich nur so wenige Möbel?«, fragte er.
»Das meiste Holz brauchten wir für die Sicherung der Fenster«, antwortete Emily. Sie zog ihr Tabakpäckchen aus der Manteltasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Wir haben auch eine ganze Menge verfeuert.«
»Wenn der Winter kommt, brauchen wir einen guten Ofen«, sagte Jacob und rauchte. »Dieser Kochherd da taugt nicht viel.«
»Mir wird übel, wenn ich daran denke, den Winter in dieser Stadt zu verbringen«, sagte Emily.
»Du könntest die Stadt verlassen. Viele Leute sagen, weiter oben an der Grenze ist nicht so schlimm.«
Emily schüttelte den Kopf. »Ich bleibe mit Sander und Einar zusammen.«
»Hm.«
»Und du? Warum haust du nicht ab?«
Jacob strich mit der Handfläche über den Tisch.
»Meine Eltern«, sagte er. »Mila, meine Schwester. Wenn sie zurückkommen ...«
Emily betrachtete ihn lange.
»Naja«, sagte sie schließlich und zeigte auf den eisernen Herd. »Also den haben wir aus einem Nachbarhaus rüber geschleppt.«
Jacob sah auf. »Mit ein bisschen Schrott könnte ich einen besseren bauen.«
Emily nickte. »Ich habe gesehen, dass du im Keller mit dem Gestell für den Brennkessel angefangen hast.«
»Wäre toll, wenn ich es schweißen könnte, aber es wird auch so gehen.«
»Du kannst schweißen?«
»Hat mir mein Onkel beigebracht.«
»Schweißer scheint mir kein typischer jüdischer Beruf zu sein.« Emily lachte wieder und Jacob betrachtete ihre schönen Zähne.
»Er war Lehrer«, sagte Jacob. »Schweißen war nur so ein Hobby.«
Einen Augenblick lang wirkte es, als wollte Emily eine Frage stellen, doch dann steckte sie ihre Zigarette an und schwieg.
»Mit der Brennanlage könnte ich in zwei, drei Tagen fertig sein«, sagte Jacob, erhob sich und machte ein paar Schritte durch den Raum. Er öffnete die Feuerklappe des Kochherds und warf die Zigarettenkippe hinein.
»Wollen wir ein bisschen einheizen?«, fragte er.
Emily schaute ihn an und überlegte, als hätte er sie vor ein schwieriges Problem gestellt.
»Klar«, sagte sie dann, nahm einen Zug von ihrer Zigarette und blies langsam den Rauch aus. »Mach mal.«
Als das Feuer im Herd knackte, drehte Jacob den Docht der Petroleumlampe ein wenig herunter. Rötliches Licht erfüllte den Raum.
»Jetzt können wir auf der Herdplatte auch Tee kochen.«
»Du vergisst aber nicht, dass ich hier Wache schiebe, ja?«, sagte Emily. Sie drückte die Zigarette in der Blechbüchse aus.
Als der Tee fertig war, reichte ihr Jacob eine dampfende Tasse und hockte sich neben sie.
»Ich hab das von letzter Nacht gehört«, sagte Emily und blickte Jacob an.
»Hm.«
»Sagst du mir, warum du die Toten sehen wolltest?«
Jacob hob die Schultern und öffnete den Mund. Aber dann schwieg er.
»In allen Straßen liegen Leichen«, sagte Emily. »Also, warum diese?«
»Ich hab mir die Toten nie genau angeschaut«, sagte Jacob.
»Aber gestern wolltest du es?«
»Ja, wurde Zeit.«
»Es wurde Zeit? Warum?«
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. »Ich bin kein Kind mehr«, sagte er schließlich. »Ich bin ein Mann.«
Emily lächelte. Sie trank. »Willst du über die vorletzte Nacht sprechen, als du Einar und mich gesehen hast?«
Jacob nagte an seiner Lippe und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Wie habt ihr euch kennengelernt, also, ihr drei?«
Emily betrachtete ihn einen Moment lang schweigend. Sie räusperte sich und sagte: »Sander und Einar kannten sich schon, als ich ihnen über den Weg gelaufen bin. Ich suchte Schutz und die beiden suchten ... Wir passten gut zusammen.«
»Ich verstehe nicht, wieso Einar Sanders Befehlen gehorcht.«
Emily lachte. »Ja, das ist schräg.«
»Erklär es mir.«
Es wurde warm in der Küche. Emily stellte die Tasse auf den Boden. Sie wand sich aus ihrem Mantel und raffte ihr Haar im Nacken zusammen. Jacob beobachtete sie.
»Einar ist von diesen griechischen Mythen besessen«, sagte Emily.
»Habe ich gemerkt.«
»Ja, und da gibt es zwei Helden, die sind genau nach seinem Geschmack. Ajax und Achill.« Sie zog ein Tuch aus der Seitentasche ihrer Tarnhose und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz.
»Unter den Sterblichen gab es keinen Krieger wie diese beiden.« Emily lächelte. »Blutrünstig waren die, die übelsten Schlächter unter dem Himmel. Killer mit sengendem Blick und schwarzen Lippen.«
Irgendwo vor dem Haus peitschten drei, vier Schüsse durch die Nacht.
Jacob und Emily lauschten.
Im Ofen knisterte das Feuer. Jacob betrachtete Emilys Gesicht. Er folgte der feinen Linie, die von ihrem Kinn abwärts führte.
»Aber da gab es noch einen anderen«, fuhr Emily fort. »Odysseus hieß der.«
»Ich kenne Odysseus«, sagte Jacob und verzog das Gesicht. Er lachte.
»Naja, der Typ war ja auch ein Krieger«, sagte Emily. »Aber er war vollkommen anders als Ajax und Achill.«
»Ja?«
Emily ergriff ihre Tasse und führte sie zum Mund. Jacob beobachtete, wie sie die Lippen befeuchtete und trank.
»Der Typ«, sagte Emily, »war schlau. Mehr als schau. Vielleicht war er sogar weise, keine Ahnung. Er besiegte seine Feinde mit List.«
»Und was hat das mit Einar und Sander zu tun?«
Emily hob die Schultern. »Einar hält sich für Achill und Sander ...«
»Er hält Sander für Odysseus?« Jacob schüttelte den Kopf und lachte.
»Einar sagte mal zu mir, Ajax und Achill hätten auf Odysseus hören sollen. Sie starben, weil sie zu stolz waren, dem Klügeren zu folgen.«
»Naja«, sagte Jacob. »Es scheint ja zu funktionieren.«
Emily lachte. »Du glaubst nicht, was zwischen den beiden manchmal los ist. Aber am Ende wird immer gemacht, was Sander sagt.«
»Und du? Was denkst du?«
»Hm?«
»Hältst du Sander auch für Odysseus?«
Das Lächeln verschwand aus Emilys Gesicht. Sie stellte die Teetasse ab und richtete sich auf.
»Keine Ahnung ...« Sie strich eine Haarsträhne zurück und presste die Lippen zusammen. »Hör mal. Es ist spät. Geh schlafen, damit du nachher fit bist, wenn ich dich wecke.«
»Was ist los?«, fragte Jacob.
»Nichts. Da gibt's nur nichts zu sagen. Sander ist Sander.«
»Versteh ich nicht.«
Emily fuhr sich durch das Haar und hob die Hände. »Okay, es reicht jetzt«, presste sie hervor. »Geh schlafen, Kleiner. Zeit fürs Bettchen.«
Jacobs Züge wurden hart.
»Ist es, weil du ihn auch fickst?«
Emily starrte ihn böse an.
»Wovon redest du?«
»Sander. Fickst du ihn auch?«
»Sander? Der würde mich umbringen.«
Jacob wusste nicht, was er sagen sollte.
»Hör zu, Jacob. Hau jetzt ab. Ich brauche Ruhe und du auch.«
Jacob erhob sich. Er stellte seine Tasse auf den Tisch. Einen Moment lang stand er da und schaute Emily an. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.


Einar schleuderte den leeren Blechteller auf den Tisch und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Phantastisch«, sagte er. »Ich liebe Dosenfleisch und danke Gott für jeden Tag, an dem ich keine Ratte fressen muss.« Er hob die Arme und rülpste.
Emily verdrehte die Augen und schob das Geschirr zusammen. »Sind die Herren fertig? Darf ich abräumen?«
Das Donnern der ersten Geschütze begann.
Sander strich sich über den Bauch. »Lass mal«, sagte er. »Ich mach heute Küchendienst.«
Jacob schaute zu Emily hinüber. Sie hockte sich auf den Blechzuber und starrte auf die Spitzen ihrer Stiefel.
»Einar und ich übernehmen heute die Wache«, sagte Sander. »Emily und Jacob, ihr geht raus.«
»Wie lief es gestern Nacht?«, fragte Emily. »Habt ihr Beute gemacht?«
»Nur ein bisschen Munition und ein paar Blendgranaten«, sagte Sander.
»Aber wir haben einen Tipp bekommen, wo wir Zucker und Hefe abstauben können«, sagte Einar.
Sander nickte. »Das ist eure Aufgabe heute Nacht. Ihr habt noch zwei Stunden zum Ausruhen. Haut euch aufs Ohr. Nachher erkläre ich euch alles.«
»Das schaffe ich auch allein«, sagte Emily. »Jacob sollte weiter an der Brennanlage arbeiten.«
Sander schüttelte den Kopf. »Nein, ihr geht zu zweit.«
Emily erhob sich. »Fein«, sagte sie und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.


Emily schaute durch das Glas ihres Gewehrs. Eine Strähne ihres Haars tanzte wie eine Schlange im Wind.
Sie setzte die Waffe ab. »Ich sehe nichts«, sagte sie, »aber irgendetwas stimmt nicht.«
Jacob schaute sich um. Sie hockten im Schutz einer Hauswand, die Straße vor ihnen schien menschenleer. Es war eine sternenklare Nacht, das Schwert des Orion leuchtete inmitten der Schwärze des Alls.
»Riechst du das?«, sagte Emily. »Was ist das?«
Jacob wollte etwas sagen, da zerriss eine Explosion die Luft. Der Boden unter ihren Füßen bebte. Ohrenbetäubendem Donnern folgte eine eine gewaltige Druckwelle. Sie jagte in einer Staubwolke heran, die Häuser erzitterten.
Emily hustete. Sie deutete mit der Hand die Straße entlang und rief Jacob zu: »Die ist da vorn eingeschlagen. Lass uns schauen, ob Leute verletzt wurden.«
Sie rannten los, sprangen über Schutt und aufgerissenen Asphalt, bogen um eine Häuserecke. Rauch biss in ihre Kehlen. Emily stoppte abrupt, Jacob prallte gegen sie und sah ... Jacob begriff nicht, was er da sah.
»Beweg dich nicht«, sagte Emily. Sie ließ die Waffe sinken.
Die Hitze verschlug Jacob den Atem. Er stand starr, blinzelte, hob die Hand über die Augen. Im flackernden Schein der brennenden Häuser bewegte sich die seltsamste Prozession, die er je gesehen hatte. Zwischen qualmenden Trümmern gingen Dutzende nackter Männer und Frauen. Ihre Körper waren mit weißer Asche bestäubt, ihre Lippen schwarz gefärbt. Rußflocken wirbelten durch die Luft.
An der Spitze des Zuges schritt eine hochgewachsene Frau. Sie trug ein Sturmgewehr in den Händen, bunte Tücher und Reiherfedern schmückten ihr langes Haar, eine Kette aus Patronenhülsen schwang zwischen den Brüsten. Ihr folgte eine gehörnte Gestalt, Mann oder Frau war ungewiss. Ein kolossales Cape umhüllte sie. Nur die Büffelhörner waren deutlich zu erkennen.
»Fuck«, sagte Emily. »Das sind Sanders Leute.«
Jacobs Lippen öffneten sich. Er schaute zu Emily und dann wieder zu dem Menschenzug, wo sich die Anführerin jetzt ihnen zuwandte und einen Arm hob. Die Prozession stoppte.
»Scheiße«, sagte Emily. »Wir sind erledigt.«
Die Anführerin drehte sich zu der Gestalt mit den Büffelhörnern um und neigte ihren Kopf. Es wirkte, als ob sie miteinander sprachen, doch die Lippen der Frau bewegten sich nicht.
»Lass uns abhauen«, sagte Jacob. Sein Blick glitt über die Menschenmenge. Einige der Männer und Frauen trugen Gewehre. Äxte und Speere zitterten in der Luft.
»Keine Chance«, sagte Emily tonlos. »Drehen wir uns um, sind wir tot.«
Der Blick der Anführerin richtete sich wieder auf sie. Sie streckte ihnen den Arm entgegen.
»Komm«, sagte Emily.
»Bist du verrückt?«
»Es geht nicht anders.«
Jacob folgte Emily. Er stemmte sich gegen die Hitze, gegen die Angst in seinem Herzen. Sie traten vor die Führerin des Zuges. Die Frau schaute schweigend auf sie herab. In ihrem weißen, aschebestäubten Gesicht regte sich nichts. Hart blickten ihre schwarz umrandeten Augen, weit hob und senkte sich ihre nackte Brust.
Sie bleckte die Zähne und schwenkte das Gewehr. Emily wich zurück, Jacob stockte der Atem.
»Heute Nacht gehören die Straßen uns«, sagte die Frau. Sie sprach mit der Stimme eines Mannes.
Ganz in der Nähe brach der Dachstuhl eines Hauses zusammen. Funkenregen ging auf die Straße nieder.
»Verlasst diesen Ort. Hier gibt es nur den Tod für euch.«
Noch einmal entblößte sie ihr Gebiss, dann hob sie das Kinn.
»Komm«, sagte Emily und packte Jacob am Arm.
Sie wandten sich um und liefen los. Jacob spürte den Blick der Frau im Rücken.
»Nicht umdrehen«, sagte Emily. »Drehst du dich um, sind wir tot.«
Etwas knarrte, und Jacob fuhr hoch.
Emily stand in der Tür. Sie hielt die Petroleumlampe in der Hand.
»Mach dich bereit«, sagte sie. »Wir müssen los.«


Emily hatte kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Schweigend waren sie in die Nacht aufgebrochen, schweigend erreichten sie das verfallene Haus am Hafen, wo ein Schwarzmarkthändler seine Geschäfte trieb. Jetzt, auf dem Rückweg, hielt es Jacob nicht mehr aus.
Er packte Emily am Handgelenk. »Ich will nicht, dass wir uns streiten«, sagte er.
Emily schaute ihn an. »Okay«, sagte sie. »Und jetzt lass mich los. Wir müssen weiter.«
Ein wenig später waren im morgendlichen Dunst bereits die Konturen ihres Hauses auszumachen. Das Licht der aufgehenden Sonne warf einen orangefarbenen Schimmer über die zerstörte Stadt.
»Du hast mich nach Sander gefragt«, sagte Emily. »Er ist der Teufel.«
Sie blieb stehen. »Und wir brauchen ihn.«
Jacob schaute sie an. Sie hielt das Gewehr vor der Brust und suchte mit dem Blick die Straße ab.
»Guck nach vorn«, sagte sie und ging weiter. »Hier könnte jederzeit ...«
Ein Schlag traf Jacob seitlich am Kopf. Seine Knie knickten ein, er stürzte. Einen Moment lang verdunkelte sich Welt. Er hörte, wie Emily schrie. Ein Stiefeltritt warf ihn auf den Rücken. Als er aufblickte, starrte er in den Lauf einer Schrotflinte.
»Wenn wir mit der Fotze fertig sind, bist du dran, Jungchen«, sagte der Mann hinter der Flinte und setzte Jacob den Stiefel auf die Brust.
Jacob dröhnte der Schädel, Blut lief heiß über seine Wange.
»Fick dich, Perkov«, hörte er Emilys heisere Stimme und drehte den Kopf.
Es waren vier oder fünf Männer. Sie hatten Emily Mantel und Hemd heruntergerissen und zielten mit ihren Waffen auf sie.
»Du weißt, wer ich bin?«, sagte einer der Männer. Er trug einen schäbigen Ledermantel, eine breite Narbe lief quer über sein Kinn.
Perkov lachte, und seine Männer lachten mit ihm. Er löste das Schloss seines Koppels und öffnete den Mantel.
Jacob schaute die Straße hinab. Dort, keine dreihundert Meter entfernt, warteten Einar und Sander auf sie.
Der Schlag einer flachen Hand klatschte. Jacob blickte zu Emily. Sie stand wankend zwischen den Männern, mit blutenden Armen schützte sie ihre nackte Brust. Dunkel sickerte ein Rinnsal aus einer Wunde über ihrer Stirn.
Perkov richtete die Pistole auf Emily. »Komm her«, sagte er, während er seine Feldhose aufknöpfte. Einer der Männer trat ihr in die Beine, packte sie bei den Haaren und stieß sie vor Perkov auf die Knie. »Mach den Mund auf, Nutte.«
Emily spuckte auf den Boden, doch der Mann hinter ihr riss ihren Kopf zurück. Sie starrte Perkov in die Augen und presste die Lippen zusammen.
Jacob wollte sich abwenden, doch die Mündung des Flintenlaufs bohrte sich in seine Wange. »Nicht doch, Süßer. Du verpasst was.«
In einem der Fenster am Ende der Straße, dort wo im vierten Stock ihres Hauses die Wasserdestille stand, blinkte eine Reflektion.
Perkov strich mit dem Lauf der Pistole über Emilys Wange. »Mund auf«, sagte er.
Emily schloss die Augen.
Ein ungeheurer Knall peitschte durch die Straße. Als hätte etwas von der Größe einer Faust sein Gesicht durchschlagen, platzte Perkovs Kopf. Das Echo des Schusses hallte von den Häuserwänden wider. Die Pistole in der Hand schwankte Perkovs Körper vor und zurück, und noch ehe er auf den Boden schlug, krachte ein zweiter Schuss. Ein Blitz zuckte und alles versank in gleißender Helle.
Schüsse, Schreie, dann Einars Gebrüll. Jacob sah die Gestalt des Riesen, mit einer Axt hieb er auf seine betäubten Gegner ein.
»Emily!«, rief Jacob. Er rollte sich herum und kroch über die Straße.
»Hier, Jacob. Ich bin okay.«
Sie saß benommen auf dem schmutzigen Asphalt - das Haar verklebt, Gesicht, Brust und Schultern schwarz von Perkovs Blut. Jacob legte die Arme um sie, zog sie an sich heran. Einen Moment lang saßen sie so da, hörten die Schreie, hörten wie Einars Axt Knochen und Schädel zertrümmerte - Achill schlachtete seine Feinde. Dann Stille.
Einar trat zu ihnen.
»Gehen wir heim«, sagte er.


Emily nannte ihn Moonshine, aber dieser Alkohol war nicht mit dem üblichen Fusel zu vergleichen, der in der Stadt als Tauschmittel diente. Jacob hatte die Destille im Keller fertiggestellt und nach Sanders Anweisungen in mehreren Durchgängen etwas Hochprozentiges gebrannt.
Seit der Dämmerung saßen sie zusammen in der Küche und feierten, obwohl es nicht viel zu feiern gab. Emily hielt Sander immer wieder ihre Tasse hin und er goss nach. Einar und Jacob tranken aus Teebechern, Sander aus einem gesprungenen Whiskeyglas. Im Kochherd knisterte ein Feuer. In dieser Nacht würde niemand das Haus verlassen.
»Ich habe den Partisanen heute das Gewehr gebracht«, sagte Sander. »Lief alles, wie verabredet.«
Einar nickte. »Ein Jammer«, sagte er.
Jacob dachte an Perkov und an Sanders Schuss.
»Wo hast du das gelernt«, fragte er. »Ich meine, so zu schießen.«
Sander winkte ab. »Hab doch schon gesagt, es war viel Glück dabei.«
Einar lachte auf. »Ja, genau. Wie beim zweiten Schuss.«
Lange vor Mitternacht waren sie alle betrunken.
Sander saß neben der Tür am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und schlief. Emily konnte sich kaum noch auf dem Blechzuber halten. Jacob hockte neben Emily und versuchte Einar zu folgen, der vom Tisch aus auf ihn einredete.
»Er fließt unter der Erde«, sagte Einar. »Sein Wasser ist schwarz.«
»Unter der Erde?«
»An seinem Ufer stehen die Menschen und warten.«
Jacob trank. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber es machte ihm nichts mehr aus. Emily hatte sich an ihn gelehnt. Ihr Atem strich über seinen Hals.
»Worauf warten diese Menschen?«, fragte Jacob.
»Sie warten auf Charon, den Fährmann«, sagte Einar.
Jacobs Blick fiel auf Sander. Im Schein der Petroleumlampe wirkte es, als bewegten sich seine Augen unter den geschlossenen Lidern.
»Er bringt die Menschen in die Unterwelt«, sagte Einar.
»Versteh ich nicht«, sagte Jacob.
Einar schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Emily schreckte hoch.
»Die Sache ist die«, sagte Einar. »Die Menschen sind tot, aber sie wissen es nicht. Sie verstehen nicht ... dass ...«
Er hatte Mühe zu sprechen, nahm einen Schluck aus seinem Becher und atmete geräuschvoll aus. Dann sagte er: »Die Überfahrt ist nur der letzte Akt, verstehst du? Aber sie glauben es nicht.« Er sank auf den Tisch. »Sie wissen nicht, dass sie tot sind«, wiederholte er und schlief ein.
Einars letzter Satz hallte in Jacobs Kopf nach.
»Komm«, sagte Emily, erhob sich und zog ihn hinter sich her. Sie griff nach einer ungeöffneten Flasche Moonshine, die auf dem Tisch stand. »Die nehmen wir mit.«
Jacob ließ sich von Emily nach oben in ihr Zimmer führen.
»Zieh dich aus«, sagte sie und entzündete zwei Kerzen, die auf einem Tisch neben dem Bett standen.
Jacob rührte sich nicht. Er fühlte sich schlagartig nüchtern und blickte im Raum umher.
»Mach schon«, sagte Emily lächelnd. Sie öffnete die Feuerklappe des Ofens und legte ein paar Scheite Brennholz in die Glut. Sogleich begann es, im Ofen zu knacken.
Jacob entkleidete sich, warf Hemd und Hosen auf den Boden.
»Zieh alles aus«, sagte Emily. Sie löste den Verschluss des Moonshine und setzte die Flasche an die Lippen. Sie trank einen Schluck, und als Jacob nackt vor ihr stand, stellte sie die Flasche auf den Tisch.
»Setz dich auf den Stuhl dort.«
Jacob dachte an die Nacht, in der er Emily und Einar beobachtet hatte. Emily öffnete ihr Hemd und löste das Koppelschloss ihrer Feldhose. Im Gegenlicht der Kerzen umgab sie eine schimmernde Aura.
Jacob machte ein paar Schritte durch den Raum und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand.
»Schau mich an, Jacob«, sagte Emily und streifte das Hemd über ihre Schultern.
Jacob blickte in ihre Augen. »Du bist ... sehr schön«, sagte er.
»Schau meinen Körper an«, sagte Emily. Sie ließ all ihre Kleider auf den Boden fallen und stand still da. Ihre helle Haut schimmerte im rötlichen Schein der Kerzen. »Möchtest du, dass ich zu dir komme?«
Jacob nickte.
Emily trat vor ihn, so dicht, dass er den Duft ihres Körpers wahrnahm. Er schaute zu ihr hinauf, versuchte in ihren Augen zu lesen. Sie legte die Hände auf seine Schultern, und die Berührung durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag.
Emily streichelte Jacobs Arme, seine Brust. Sie schmiegte sich an ihn, küsste seine Wange, seine Lippen, seinen Hals.
Dann hockte sie sich vor ihn, strich mit den Händen über seinen Bauch, seine Schenkel. Sie hielt inne, blickte zu ihm herauf und sagte nichts. Jacob schluckte, er spürte das Beben seines Körpers, spürte seine schweißnassen Hände.
Er blickte in Emilys Augen, versank in ihrem Glanz, ihrer dunklen Tiefe.
Emily umfasste seine Hüfte und zog ihn ein wenig zu sich heran. Jacob fühlte den Hauch ihres Atems.
Emilys Blick strich langsam über seinen Hals, abwärts über seine Brust und immer weiter hinab. Dann betrachtete Emily sein Glied, das sich prall und zitternd vor ihrem Gesicht in die Höhe reckte. Sie betrachtete es lange und ohne ein Wort zu sagen.
Jacob saß da, seine Brust hob und senkte sich schnell. Er schluckte mit trockenen Mund, die Zunge lag schwer am Gaumen. An den Armen rollten Schweißperlen hinab.
Emily schaute wieder zu Jacob herauf. Ihre Hände strichen innen über seine Schenkel.
»Hat ein Mädchen schon mal deinen Schwanz in den Mund genommen?«, fragte sie, und ihr Blick sank tief in ihn hinein.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Aber du hast schon mit einem Mädchen geschlafen?«
»Ja«, sagte Jacob tonlos.
Emily befeuchtete ihre Lippen.
»Möchtest du, dass ich ihn streichle?«
Jacob nickte. Er spürte die Wärme von Emilys Händen und rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Gefällt dir das?«, fragte Emily.
Jacob nickte. Emily schaute in seine Augen, und dann wanderte ihr Blick wieder abwärts.
»Du hast einen schönen Schwanz, Jacob«, sagte sie. Ihre Züge wirkten jetzt völlig entspannt. Sie öffnete ein wenig die Lippen und griff etwas fester zu. Ihre Finger betasteten Jacobs Penis, streichelten und drückten ihn.
»Er fühlt sich gut an«, sagte sie. »Glatt, heiß und hart.«
Ein Schauer jagte Jacobs Rücken empor.
»Möchtest du, dass ich deine Eier streichle?« Emilys Blick traf ihn mit einer Heftigkeit, die ihn beinahe vom Stuhl rutschen ließ.
»Ich möchte sie gern in die Hand nehmen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, ob dir das gefällt.«
Jacob nickte und er spürte, wie Emily mit einer Hand hinab strich und seine Hoden umfasste. Er spürte die Hitze ihrer Handfläche, spürte, wie Emily ein wenig fester drückte, sanft an seinen Hoden zog, sie streichelte und knetete. Mit der anderen Hand massierte sie seinen Penis, presste ihn und strich mit dem Daumen die Unterseite entlang.
Jacob hielt es kaum noch aus. In einer schnellen, ungeschickten Bewegung beugte er sich vor und griff nach Emilys Brüsten.
Emily hob den Kopf und schaute ihn an. Ohne den Griff ihrer Hände zu lösen, richtete sie sich ein wenig auf und streckte den Rücken.
»Mach nicht so schnell«, sagte sie. »Langsamer ist es schöner.«
Schwer lagen ihre Brüste in Jacobs Händen. Er streichelte und drückte sie, beobachtete, wie sich die Brustwarzen immer mehr aufrichteten, hart und dunkel wurden.
Emily schaute zu ihm auf. Ihre Hände begannen wieder, sein Glied zu streicheln und seine Hoden zu massieren. Der erste Samen tropfte herab, rann über Emilys Finger.
»Kannst du noch ein bisschen warten?«, sagte Emily.
»Ich ... weiß nicht.« Jacob rang nach Atem. Jetzt spürte er wieder, wie betrunken er war. Der Puls pochte in seinem Hals, in den Ohren rauschte es.
»Warte noch ein bisschen«, sagte Emily, ohne die Hände ruhen zu lassen.
Ihre Lippen näherten sich Jacobs zuckenden Glied. Jacob spürte ihre Hitze, fühlte, wie sie ihn berührten, ihn küssten.
Emily öffnete den Mund, Jacob lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Nein«, hörte er Emilys Stimme. »Schau mir zu.«
Jacob stöhnte. »Ich kann nicht. Ich ... ich will doch mit dir schlafen ... warte ...«
Er legte die Hände auf ihre Schultern, versuchte, Emily von sich wegzuschieben. Er wich auf dem Stuhl zurück, doch er konnte sich ihrem Griff nicht entwinden.
»Wir werden miteinander schlafen«, sagte Emily. »Wir haben noch die ganze Nacht.«
Sie zog an Jacobs Hoden, ein wenig fester diesmal, sie presste sein Glied, nahm es tief in den Mund.
»Nein ... ich ... warte ...«, stöhnte Jacob.
Doch Emily war unbezwingbar. Sie streichelte ihn, saugte und leckte bis es aus ihm herausschoss. Sein Samen ergoss sich in Emilys Mund, und sie knetete seine Hoden, drückte und rieb sein Glied, als wollte sie auch den letzten Tropfen aus seinem Körper pressen.
Vor Jacobs Augen drehte sich der Raum. Emily streichelte seine Schenkel, seine Brust. Sie erhob sich, ging hinüber zum Tisch und trank ein Schluck Moonshine.
»Leg dich aufs Bett«, sagte sie. »Ruh dich einen Moment aus. Wir sind noch lange nicht fertig.«


Jacob erwachte von einem Schmerz in der Stirn, so heftig und glühend, dass er sich benommen aus dem Bett wälzte und die Schläfen rieb. Emily lag schlafend unter der Fleecedecke. Neben der Pritsche auf dem Boden stand die geleerte Flasche Moonshine.
Jacob wankte zum Fenster und hob die Feldplane. Es war heller Tag.
Während er sich ankleidete, dachte er an die vergangene Nacht. Er sah Emily, die sich über ihn beugte, ihn auf das Bett drückte und ... Verdammt, wo waren Sander und Einar?
Jacob trat aus der Wohnung und spürte den Luftzug, der durch das Treppenhaus strich. Langsam ging er nach unten.
Den ersten Toten fand er im zweiten Stock. Er lehnte mit gebrochenem Genick am Geländer.
Im Erdgeschoss lag ein Mann mit zertrümmerten Schädel. In der Hand hielt er eine alte Armeepistole. Unzählige Fliegen schwirrten hier durch den Hausflur. Hirnmasse und geronnenes Blut klebten an den Wänden.
In der Küche fand Jacob Einar. Sie hatten ihn getötet, wo er gestern Nacht eingeschlafen war. Die Klinge seines Bajonetts steckte zwischen seinen Schulterblättern.
Der dritte Fremde lag auf der Schwelle der Haustür. Es wirkte, als wäre er im Lauf erschlagen worden.
Jacob stieg über ihn hinweg und trat vor das Haus. Über die Straße wehten staubige Böen. Sander lag mit zerfetztem Hemd auf dem rissigen Asphalt, er hielt noch immer die Feueraxt in der Hand.


Jacob zog die Tür hinter sich ins Schloss. Emily schaute ihn an.
»Warum machst du das?«, sagte sie. »Wir kommen nicht mehr zurück.«
Jacob nickte. Er zog die Riemen seines Rucksacks fest, schulterte das Gewehr und ergriff Emilys Hand.
Schweigend liefen sie durch die Nacht. In der Ferne rollte der Donner der Geschütze.

 

Lieber Achillus,

gleich präsentiere ich vermutlich eine Menge ungeordnete Gedanken zu deinem Text. Ich versuche auch gar nicht erst, sie in die richtige Reihenfolge zu bekommen.

Sprachlich souverän, hohes Niveau, gute Bilder, schöne Formulierungen, jedenfalls größtenteils. (Die erotischen Szenen, sind leider nichts als gut aufbereiteter Porno).

Das Szenario, das Setting kann ich nur bedingt kritisieren, ist nichts für mich, ahmt Endzeitvisionen aus Filmen nach, die ich nie lange ertrage: irgendwelche Kerle, die sich gegenseitig grausam und sinnlos töten und sich dabei wie Helden fühlen. Waffen, Metall, spritzendes Blut und in deiner Geschichte zusätzlich: stinkende, ausgeweidete, von Würmern zerfressene Leichen. Unterhaltungsmäßig mager, intellektuell leider auch.

Was den Text allerdings interessant macht, ist die Ebene, die ich darunter vermute. Was, wenn ich mir überlege, wozu du die griechische Sagenwelt anklingen lässt? Wenn ich mich frage, warum Achillus, das Tier, der Schlächter, wie er in der Ilias genannt wird, der Nickname des Autors ist? Achill, der in deiner Geschichte ebenso getötet wird und im Original auch? Dann lese ich über einen Helden, der von einer kriegerischen Welt umgeben ist, sich mit dem Teufel (Odysseus) verbündet, dennoch untergeht (der Zug der Toten in die Unterwelt kündigt es an). Vielleicht lese ich sogar eine Liebesgeschichte in einer zerstörten Welt, die Liebe nicht zulässt, in der Sex eine trügerische Bedeutung hat, und frage mich, wer Jakob ist, warum er, der Jude überlebt, ob er nicht eine andere Version von Achillus ist. Emily ist dann der Schlüssel für die Zukunft, eine Art Hoffnung. So viel, Achillus, ganz so spannungsgeladen wie deine anderen Texte, ist dieser nicht, Tiefe hat er und wären da nicht die obengenannten Vorbehalte, hätte ich ihn gefeiert.

Textstellen:

Die Ruine des Hochofens wuchs ihm schwarz entgegen.
schräg, aber gut formuliert.

Das Knallen der Stiefel in den Ohren rannte er, was die Lungen hergaben.
stimmt was nicht mit dem Satz

Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der mit Brettern vernagelten Fenster drang, tanzte der Staub.
:Pfeif:

Sie war schlank, beinahe zierlich, aber in ihren dunklen Augen loderte das Feuer.
na ja, das ist ein flaches Klischee. lodern, das würde ich weicher formulieren.

Einar lachte. »Es ist Krieg, Kid. Hier bekommt niemand, was er will.«klar,
weiß jeder.
Doch sie ritt Einar wie einen Bullen. Ihre Finger krallten sich in seine Schulten. Ihre Hüften kreisten wild, ihre Brüste wippten auf und ab. Einar ächzte, er walkte und knetete Emilys weißen Leib. Sein Atem ging in schweren Stößen. Der Stuhl unter ihm knarrte.
das wilde Hüftkreisen zerstört den Tonfall.

Das Pulsieren der unbekleideten Leiber rührte von Tausenden dicker Maden her. Sie wimmelten und brodelten im toten Fleisch.
Jacob spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten, Schweiß trat ihm auf die Stirn.
kalkulierter Horror

»Sie haben dem Mann und dem Jungen die Schwänze abgeschnitten und den Mädchen in den Mund gestopft.«
wozu brauchst du dieses allzuoft benutzte Bild?

»Ja, und da gibt es zwei Helden, die sind genau nach seinem Geschmack. Ajax und Achill.« Sie zog ein Tuch aus der Seitentasche ihrer Tarnhose und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz.
auf was spielt der Pferdeschwanz an?

Emily hob die Schultern. »Einar hält sich für Achill und Sander ...«
»Er hält Sander für Odysseus?« Jacob schüttelte den Kopf und lachte.
mm, aber warum, wird nur bedingt klar?

Es war eine sternenklare Nacht, das Schwert des Orion leuchtete inmitten der Schwärze des Alls.
:Pfeif: sehr schön

Perkov richtete die Pistole auf Emily. »Komm her«, sagte er, während er seine Feldhose aufknöpfte. Einer der Männer trat ihr in die Beine, packte sie bei den Haaren und stieß sie vor Perkov auf die Knie. »Mach den Mund auf, Nutte.«
was wollen Kerle mehr

»Du hast einen schönen Schwanz, Jacob«, sagte sie. Ihre Züge wirkten jetzt völlig entspannt. Sie öffnete ein wenig die Lippen und griff etwas fester zu. Ihre Finger betasteten Jacobs Penis, streichelten und drückten ihn.
»Er fühlt sich gut an«, sagte sie. »Glatt, heiß und hart.«
du schilderst das ungeheuer detailliert, wirklich porno-mäßig, änderst jeweils den Tonfall, indem du die Bezeichnungen veränderst, einmal Penis, dann Schwanz, Eier, dann Hoden, das wirkt auf mich künstlich.

Doch Emily war unbezwingbar. Sie streichelte ihn, saugte und leckte bis es aus ihm herausschoss. Sein Samen ergoss sich in Emilys Mund, und sie knetete seine Hoden, drückte und rieb sein Glied, als wollte sie auch den letzten Tropfen aus seinem Körper pressen.
die ganze Szene ist viel zu lang und zerfasert die zarte Liebe, das Band zwischen den beiden und zum Beispiel hier, uninspirierte Pornoszenerie.

Jacob nickte. Er zog die Riemen seines Rucksacks fest, schulterte das Gewehr und ergriff Emilys Hand.
Schweigend liefen sie durch die Nacht. In der Ferne rollte der Donner der Geschütze.
fängt es jetzt von vorne an, wird Jakob zu Achill?

Hoffe, du kannst was mit anfangen.
viele Grüße
Isegrims

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Geschichtenwerker,

geht mir auch so, dass die Hinweise, die ich erhalte langfristig von großem Nutzen sind. Ich lese meine älteren Geschichten mit Hilfe der Hinweise ebenfalls mit einen anderen Blick, das hilft wirklich sehr.

Beste Grüße
Achillus


Hallo Isegrims,

vielen Dank für Deine Gedanken zum Text. Hat mich sehr gefreut, von Dir zu hören.

Sprachlich souverän, hohes Niveau, gute Bilder, schöne Formulierungen, jedenfalls größtenteils. (Die erotischen Szenen, sind leider nichts als gut aufbereiteter Porno).

Danke für das Lob. Dass es sich bei den erotischen Szenen um Pornografie handelt, weise ich zurück. Dazu schreibe ich gleich ausführlicher.

Das Szenario, das Setting kann ich nur bedingt kritisieren, ist nichts für mich, ahmt Endzeitvisionen aus Filmen nach, die ich nie lange ertrage: irgendwelche Kerle, die sich gegenseitig grausam und sinnlos töten und sich dabei wie Helden fühlen. Waffen, Metall, spritzendes Blut und in deiner Geschichte zusätzlich: stinkende, ausgeweidete, von Würmern zerfressene Leichen. Unterhaltungsmäßig mager, intellektuell leider auch.

Ich verstehe Deine Abneigung gegen das Szenario, stimme aber Deinem zusammenfassenden Urteil nicht zu. Wenn Du es unterhaltungsmäßig und intellektuell mager findest, dann hat das viel mehr mit Deinen persönlichen Präferenzen zu tun, als mit dem, was der Text bietet. Über den Unterhaltungswert kann man ohnehin schwerlich diskutieren, weil das, was Menschen unterhaltsam finden, sehr unterschiedlich ist. Ich kann z.B. mit Gameshows überhaupt nichts anfangen, doch viele Menschen finden es Klasse.

Was die intellektuelle Tiefe betrifft, hat viel von dem, was Du aus dem Text ziehen kannst, damit zu tun, wie Du das Ganze interpretierst und ob Du das überhaupt willst. Für mich hat die Frage nach dem, was den Menschen jenseits seiner zivilisatorischen Konditionierungen ausmacht, philosophischen Charakter. Die Beschäftigung mit Krieg und Kampf beispielsweise und die Frage, wie sich Menschen in diesen Situationen verhalten, öffnen mir ein ganzes Universum von Gedanken und Schlussfolgerungen. Einige dieser Gedanken habe ich in diesem Text verarbeitet. Wenn Du das nicht siehst, mag es zu einem Teil meinem handwerklichen Unvermögen anzulasten sein. Es mag aber auch mit Deiner Abneigung und Deinem Desinteresse zusammenhängen.

Ich sehe beispielsweise nicht, dass Einar (oder eine andere Figur) sich wie ein Held fühlt. Dass er – der Aussage Emilys folgend – sich mit Achill vergleicht, hat nichts mit Stolz oder Einbildung oder Größenwahn zu tun. Es wird nicht ein einziges Mal gesagt oder gezeigt, dass er seine Handlungen in diesem Krieg für ruhmvoll, glorreich oder heldenhaft hält. Der Vergleich zu Achill ist nur im Kontext zu Odysseus/ Sander zu verstehen, Einar charakterisiert hier zwei unterschiedliche Typen von Kriegern.

Was den Text allerdings interessant macht, ist die Ebene, die ich darunter vermute. Was, wenn ich mir überlege, wozu du die griechische Sagenwelt anklingen lässt?

Wir können all unser Tun, all unsere Empfindungen, Gedanken und Handlungen im Spiegel der Mythen betrachten, wenn wir wollen. Mythen greifen stets das Grundlegende, die Basis menschlicher Erfahrung und menschlichen Seins auf. Nehmen wir die griechischen Mythen. Welche Figuren dort stehen uns nahe, mit welchen Handlungen und Entscheidungen könnten wir uns identifizieren?

Ich sehe beispielsweise sehr deutlich den Unterschied zwischen griechischen Mythen und den überlieferten Vorstellungen Asiens. In Asien hat der mythische Krieger eine völlig andere Bedeutung. Er verkörpert eine höhere moralische Ordnung, ein selbstloses Streben nach Werten, die dem Durchschnittsmenschen fremd sind.

Dann lese ich über einen Helden, der von einer kriegerischen Welt umgeben ist, sich mit dem Teufel (Odysseus) verbündet, dennoch untergeht (der Zug der Toten in die Unterwelt kündigt es an).

Also ich sehe da zwei Krieger von sehr unterschiedlicher Natur. Und sie gehen beide unter, weil die Prämisse dieser Geschichte ist, dass die Menschen keine Kontrolle über ihr Schicksal haben. Sie haben Kontrolle, wenn sie das wollen, über den innenwelt-bedingten Anteil des Schicksals, über die Art, wie sie über ihr Leben reflektieren, wie sie es einsetzen, wie sie Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken kultivieren. Aber selbst so mächtige und geschickte Krieger und Überlebenskünstler wie Einar und Sander sind verletzlich ...

... die ganze Szene ist viel zu lang und zerfasert die zarte Liebe, das Band zwischen den beiden und zum Beispiel hier, uninspirierte Pornoszenerie.
Hier muss ich noch mal entschieden gegenhalten, weil ich das als gedankenlose, unfaire Kritik empfinde. Was kennzeichnet Pornografie? Ich weiß nicht, ob es dafür eine Art offizielle Definition gibt, aber ich habe meine eigene. Zunächst einmal finde ich Pornografie legitim, es wäre lachhaft die Darstellung von Sexualität als amoralisch zu betrachten, auch wenn diese Darstellung primär der Lusterzeugung und dem Lustgewinn dienen soll. (Die einzigen Vorbehalte, die ich gegen Pornografie habe, konzentrieren sich auf das Zerrbild, das sie erzeugen, inklusive was die Rollen-Klischees von Mann und Frau betrifft, die Darstellung der Frau bzw. des Mannes als Objekt usw.)

Aber es gibt zwei Kennzeichen, die ich bislang in jedem Porno (Film oder Literatur) wahrgenommen habe, die Pornografie von anderen Darstellungen menschlicher Sexualität unterscheidet. Erstens existiert in der Pornografie zwischen den Akteuren keine andere glaubwürdige emotionale Ebene, als die, die durch den Sexualakt selbst evoziert wird. All die zur Schau gestellten Affekte und Emotionen (Überraschung, Verlangen, Erregung, Befriedigung, Schmerz, Scham) rekurrieren einzig und allein auf den Sexualakt. Selbst wenn in einer Szene der Pizzabote verführt, die Sekretärin zum Diktat ins Chefzimmer gerufen wird usw. sind diese Settings meist unglaubhaft und spielen für die Darstellung der geistig-emotionalen Beziehung zwischen den Figuren keine Rolle.

Punkt zwei: Die Darstellung des Sexualaktes ist kontextlos oder kontextschwach, die künstlerische Gestaltung dient keinem anderen Zweck als beim Rezipienten Lust zu erzeugen. Es spielt in der Pornografie überhaupt keine Rolle, wer es mit wem und aus welchen Gründen treibt, denn es soll beim Leser/ Zuschauer nur Lust erzeugt werden und zwar auf direktem Wege. Es sollen keine Fragen nach der Bedeutung innerhalb der Story oder in Bezug der Charakterentwicklung aufgeworfen werden. Es geht auch nicht um die Erforschung von künstlerischen Reflexions- und Darstellungsformen von Sexualität als menschlicher Grunderfahrung, sondern um Effizienz in der Erzeugung von Lust.

Diese beiden Aspekte kennzeichnen meiner Ansicht nach Pornografie. Wir sollten mit den verstaubten Denkmustern brechen, dass jede explizite Darstellung von Sexualität innerhalb von Film und Literatur immer auch gleich Pornografie ist.

In meiner Geschichte wird die Gefühlsebene, die geistig-emotionale Verbindung von Emily und Jacob so weit beschrieben, dass die Sexszene nicht für sich allein steht. Der Sex ist die Fortsetzung von einer Entwicklung, die man als Leser verfolgen kann und hat eine Bedeutung die über den Sex bzw. die Darstellung von Sex hinausgeht. Für Jacob stellt die Szene einen persönlichen Einschnitt dar, etwas in ihm und mit ihm verändert sich. Keins der von mir genannten Porno-Kennzeichen trifft auf die Geschichte zu.

Isegrims, vielen Dank für Deinen Kommentar. Auch wenn ich längst nicht alle Deine Gedanken zum Text teile, fand ich Deine Hinweise sehr hilfreich, auch um mir selbst Klarheit zu verschaffen.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

einen Teil deiner Argumentation und der Abgrenzung zwischen Porno und Erotik kann ich nachvollziehen: in dem Text dient der Akt nicht allein sich selbst.

Vielleicht habe ich mich unpräzise ausgedrückt. Das Setting ist gewaltsam, karg, menschenfeindlich, vom Überlebenswillen, von Kämpfern geprägt. Über eine lange Strecke baust Spannung zwischen Jacob und Emily auf, die am Ende kulminiert. Emily sagt dann auch: wir werden Zeit haben, viel Zeit, oder so ähnlich, dennoch wird das so gar nicht geschildert, es klingt nach einem mehr oder weniger schnellen Lustaustausch, der vom Timbre her in die Szenerie passt. Hinzu kommt, dass du sprachlich schwankst, dich in meinen Augen nicht entscheiden kannst, ob du vulgäre oder umschreibende Wörter benutzen sollst und sie deshalb mischt. (Schwanz, Penis, Eier, Hoden). Wie wunderbar, großartig wäre der Text geworden, hättest du der lebensfeindlichen Düsterkeit, dem Blut, dem Tod, eine zarte pralle Sinnlichkeit entgegengesetzt, Raum dafür geschaffen. Sex, Erotik, beginnt und endet ja vor allem in den Gedanken, inneren Monologen, den Sehnsüchten, von denen gar nicht oder nicht genug die Rede ist. In die Sexszne reingehen, andeuten und wieder raus, zwischen den Zeilen Raum schaffen. Das ist es, was ich meine. Dafür reichen die Anspielungen auf die griechische Mythologie nicht aus. Und dann, ja dann, hätte mir auch dieser Gegensatz gefallen, das grausame Setting wäre mehr gewesen, als Kämpferspielchen, das, was du Philosophie nennst wäre hinter dem Blutteppich hervor getreten.

Liebe Grüße
Isegrims

P.S. Wie Achill mit Achillus zusammenhängt, du äußerst dich dazu nicht, also denke ich weiter darüber nach.

 

Hey Isegrims, danke, dass Du noch einmal reinschaust. Tatsächlich wird im Text nicht beschrieben, wie die ganze Nacht von Emily und Jacob aussieht. Die Geschichte zeigt den Beginn dieser Nacht, und der schnelle Lustaustausch ist Emilys Strategie, um etwas Dampf aus dem Kessel zu lassen.

Hinzu kommt, dass du sprachlich schwankst, dich in meinen Augen nicht entscheiden kannst, ob du vulgäre oder umschreibende Wörter benutzen sollst und sie deshalb mischt. (Schwanz, Penis, Eier, Hoden).

Die Ungenauigkeit dieser Beobachtung hat mich schon bei Deinem ersten Statement aufgeregt ;) Schau doch bitte richtig hin. Der Erzählton bzw. die Wahl der Körperteilbenennung ist durchgehend neutral: Penis, Glied, Hoden, Brustwarzen. Die umgangssprachlichen, etwas robusteren Formulierungen (Schwanz, Eier) stammen allesamt von Emily.

Wie wunderbar, großartig wäre der Text geworden, hättest du der lebensfeindlichen Düsterkeit, dem Blut, dem Tod, eine zarte pralle Sinnlichkeit entgegengesetzt, Raum dafür geschaffen. Sex, Erotik, beginnt und endet ja vor allem in den Gedanken, inneren Monologen, den Sehnsüchten, von denen gar nicht oder nicht genug die Rede ist. In die Sexszne reingehen, andeuten und wieder raus, zwischen den Zeilen Raum schaffen. Das ist es, was ich meine.

Ich begreife einfach nicht, was an menschlicher Sexualität so vulgär sein soll, dass man sie nicht explizit zeigen darf. Da stimmt doch etwas nicht. Über der Szene habe ich wirklich lange gesessen, weil ich das auch handwerklich als schwierigen Stoff empfinde. Um so mehr enttäuscht mich derartige Kritik. Aber natürlich ist das Dein gutes Recht. Allerdings werden wir da nicht auf einen Nenner kommen, denn ich finde an Sex nichts schmutzig. Ich wüsste auch nicht, weshalb er zart beschrieben werden sollte, denn in der Regel ist er das nicht, jedenfalls nicht bei mir. Und wie sich die Beiden in der Szene verhalten finde ich ... liebenswürdig, freundlich, fair, respektvoll.

P.S. Wie Achill mit Achillus zusammenhängt, du äußerst dich dazu nicht, also denke ich weiter darüber nach.

Stimmt, das ist ein persönliches Ding, aber keine große Sache. Ich danke Dir für Dein Interesse und dafür, dass Du so klar Deine Meinung gesagt hast, auch wenn ich sie nicht teile.

Lieber Gruß
Achillus

 

Hi Achillus,

ich wieder:Pfeif:

Die Ungenauigkeit dieser Beobachtung hat mich schon bei Deinem ersten Statement aufgeregt Schau doch bitte richtig hin. Der Erzählton bzw. die Wahl der Körperteilbenennung ist durchgehend neutral: Penis, Glied, Hoden, Brustwarzen. Die umgangssprachlichen, etwas robusteren Formulierungen (Schwanz, Eier) stammen allesamt von Emily.
stimmt, ich habe die Szene zum dritten Mal gelesen, du trennst das, Emily spricht von Schwanz. Die neutrale Benennung finde ich ist übrigens immer problematisch, egal, wie man's probiert.

Ich begreife einfach nicht, was an menschlicher Sexualität so vulgär sein soll, dass man sie nicht explizit zeigen darf. Da stimmt doch etwas nicht. Über der Szene habe ich wirklich lange gesessen, weil ich das auch handwerklich als schwierigen Stoff empfinde.
das geht an meinem Statement vorbei, Nichts ist an Sex vulgär, ich hätte mir in dem Text eben einen bewussten Kontrast gewünscht, oder hätte ihn selbst so geschaffen, beschrieben. Das wäre eine Chance für den Text gewesen, sich herauszuheben, das hat mich enttäuscht, um deine Worte aufzugreifen. Du solltest längst wissen, dass ich großen Respekt vor deinem Stil, der Akribie und dem Niveau deiner Texte habe, gerade deswegen lohnt es sich, einen Impuls zu geben.

Allerdings werden wir da nicht auf einen Nenner kommen, denn ich finde an Sex nichts schmutzig. Ich wüsste auch nicht, weshalb er zart beschrieben werden sollte, denn in der Regel ist er das nicht, jedenfalls nicht bei mir. Und wie sich die Beiden in der Szene verhalten finde ich ... liebenswürdig, freundlich, fair, respektvoll.
Sex kann, darf, soll, muss schmutzig, wahrhaftig, echt sein.... die markierten Eigenschaften ließen sich besser, klarer herausarbeiten, meine ich.

liebe Grüße
Isegrims

 

Hallo Achillus,

beim Lesen sind mir noch zwei kleine Fehlerchen aufgefallen:

Er fühlte den Luftzug, der durch die Küche strich und dann hörte ein Seufzen, wie er es noch nie zuvor gehört hatte.

Hier fehlt wohl ein "er" zwischen "hörte" und "ein.


Ihre Finger krallten sich in seine Schulten.

Und hier ein "r" in "Schulten".


Es ist schon viel zu Deinem Text gesagt worden, sogar von pornographischem Einschlag war die Rede, was ich persönlich nicht nachvollziehen kann.

Ich finde diesen Text zwiespältig (natürlich ist er handwerklich sehr gut).

Zunächst finde ich die Anspielung, dass sich quasi alle Beteiligten in der Unterwelt befinden und sie nur noch der Styx überqueren müssen, um in den Hades zu gelangen, gelungen. Der ganze Plot passt natürlich dazu: düster, brutal und eigentlich hoffnungslos.

Was mir auch gefällt ist der symbolische Schritt, dass Jacob durch das Ansehen der Leichen zum Mann wird und - typisch als Belohnung - Sex mit Emily bekommt (auch wenn ich die Szene zu explizit finde). Sex als Belohnung fürs "Mannwerden" ist natürlich ein wenig klischeehaft, was man kritisieren kann, wenn man möchte (mich hat es nicht gestört, denn es passt nun einmal zum Plot). Die Sexszene als Solches hat für mich wenig Bedeutung. Ich finde sie nicht pornographisch, aber andererseits auch irgendwie nichtssagend. Es ist für mich lediglich ein weiterer Schritt für Jacob auf dem Weg zum Mann zu werden, gerade noch rechtzeitig bevor ihre Beschützer sterben. Und Emily sucht sich gerade noch rechtzeitig einen neuen Weggefährten.

Das Ende verstehe ich noch nicht so ganz, lese es aber so, dass sie versuchen gemeinsam die "Unterwelt" hinter sich zu lassen, weswegen die Tür auch geschlossen wird.

Die Anspielung auf Jacob/Jude verstehe ich auch nicht so ganz (sollte es eine Anspielung auf Jakob aus der Bibel sein, so passt Dein Jacob nicht richtig dazu (zu brav), aber vielleicht geht das auch alles viel zu weit).

Was mir nicht so gut gefällt ist, dass ich nicht verstehe, worauf Du bzw. die Geschichte hinaus will. Was willst Du zeigen? Ist es einfach nur ein Bild der Gewalt? Das wäre mir zu wenig. Oder soll es mythisch sein? Dann ist es mir zu wenig geheimnisvoll. Willst Du das Grauen von Krieg und Gewalt zeigen? Dann sind mir die Charaktere zu flach.

Also handwerklich toll, spannend, aber am Ende bleibt man ein wenig mit einem Schulterzucken zurück, was ich wiederum schade finde.

Bester Gruß
Geschichtenwerker

 

Hallo Isegrims, danke fürs Nochmalreinschauen.

... stimmt, ich habe die Szene zum dritten Mal gelesen, du trennst das, Emily spricht von Schwanz. Die neutrale Benennung finde ich ist übrigens immer problematisch, egal, wie man's probiert.

Geht mir ähnlich. Es ist schon verrückt, dass uns Körperbezeichnungen wie Penis und Vagina merkwürdig in den Ohren klingen, obwohl wir zu Fingern auch nicht Griffel und zu Kopf nicht Birne sagen. Ich denke, dass ist auch ein Erziehungsproblem. Wenn Eltern und Lehrer schamhaft nach Verniedlichungsformen (Piepmatz und Mumu) suchen, müssen Kinder ja irgendwann glauben, dass mit den den regulären Bezeichnungen irgendwas nicht stimmt.

... Nichts ist an Sex vulgär, ich hätte mir in dem Text eben einen bewussten Kontrast gewünscht, oder hätte ihn selbst so geschaffen, beschrieben. Das wäre eine Chance für den Text gewesen, sich herauszuheben, das hat mich enttäuscht, um deine Worte aufzugreifen.

Wenn daran nichts vulgär ist, dann steht die Sex-Szene durchaus in Kontrast mit der Brutalität der Welt draußen. Genau mit der Intention habe ich sie jedenfalls geschrieben.

Du solltest längst wissen, dass ich großen Respekt vor deinem Stil, der Akribie und dem Niveau deiner Texte habe, gerade deswegen lohnt es sich, einen Impuls zu geben.

Danke für das Lob. Freut mich sehr.

Lieber Gruß
Achillus

Hallo Geschichtenwerker, vielen Dank für Deine Hinweise. Ich habe die Fehler korrigiert.

Zunächst finde ich die Anspielung, dass sich quasi alle Beteiligten in der Unterwelt befinden und sie nur noch der Styx überqueren müssen, um in den Hades zu gelangen, gelungen. Der ganze Plot passt natürlich dazu: düster, brutal und eigentlich hoffnungslos.

Düster und brutal, sicher. Aber ist der Text wirklich so hoffnungslos? Allein, dass es dort Personen wie Emily und Jacob gibt, dass sich Menschlichkeit und Mitgefühl überhaupt noch zeigen, macht mir Hoffnung. Aber das ist sicher Ansichtssache.

Was mir auch gefällt ist der symbolische Schritt, dass Jacob durch das Ansehen der Leichen zum Mann wird und - typisch als Belohnung - Sex mit Emily bekommt (auch wenn ich die Szene zu explizit finde). Sex als Belohnung fürs "Mannwerden" ist natürlich ein wenig klischeehaft, was man kritisieren kann, wenn man möchte (mich hat es nicht gestört, denn es passt nun einmal zum Plot). Die Sexszene als Solches hat für mich wenig Bedeutung. Ich finde sie nicht pornographisch, aber andererseits auch irgendwie nichtssagend. Es ist für mich lediglich ein weiterer Schritt für Jacob auf dem Weg zum Mann zu werden, gerade noch rechtzeitig bevor ihre Beschützer sterben. Und Emily sucht sich gerade noch rechtzeitig einen neuen Weggefährten.

Im Ansehen der Leichen vollzieht Jacob den Schritt der vollständigen Hinwendung zur Realität. Wir alle verschließen ständig die Augen vor der Welt, wie sie wirklich ist und vor der Person, die wir wirklich sind. In diesem Sinne öffnet Jacob die Augen und stellt sich der Kälte des Universums, ein Akt der Reifung, wie ich finde.

Der Sex ist weniger Belohnung, auch wenn ich zugebe, dass man das so sehen kann, sondern viel mehr Ausdruck von Jacobs Mannwerdung. Von allen Unterscheidungsmerkmalen in Verhalten und Empfinden ist bewusst gelebte Sexualität der markanteste Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Aus dem Grunde finde ich das nicht so klischeehaft, wie Du.

Ich finde die Sex-Szene aus mehreren Gründen bedeutungsvoll. Sie markiert einen Schritt in Jacobs Entwicklung, ja, aber sie ist auch bezeichnend für die Art der Beziehung zwischen Emily und Jacob. Emily führt Jacob quasi in diese Welt ein. Das kann man gut an der Weise erkennen, wie die Beiden miteinander umgehen. Die Szene zeigt außerdem Vertrauen, Jacob lässt sich führen. Und der Sex der sich dort abspielt, ist auch nicht wild, leidenschaftlich und hemmungslos, er steht in Kontrast zur hemmungslosen Brutalität der Welt umher. Das alles macht die Szene für mich interessant.

Das Ende verstehe ich noch nicht so ganz, lese es aber so, dass sie versuchen gemeinsam die "Unterwelt" hinter sich zu lassen, weswegen die Tür auch geschlossen wird.

Eine wunderbare Interpretation, vielen Dank dafür.

Die Anspielung auf Jacob/Jude verstehe ich auch nicht so ganz (sollte es eine Anspielung auf Jakob aus der Bibel sein, so passt Dein Jacob nicht richtig dazu (zu brav), aber vielleicht geht das auch alles viel zu weit).

Was mir nicht so gut gefällt ist, dass ich nicht verstehe, worauf Du bzw. die Geschichte hinaus will. Was willst Du zeigen? Ist es einfach nur ein Bild der Gewalt? Das wäre mir zu wenig. Oder soll es mythisch sein? Dann ist es mir zu wenig geheimnisvoll. Willst Du das Grauen von Krieg und Gewalt zeigen? Dann sind mir die Charaktere zu flach.

Also handwerklich toll, spannend, aber am Ende bleibt man ein wenig mit einem Schulterzucken zurück, was ich wiederum schade finde.


Zur Rolle von Jacob als Juden hatte ich schon einiges gesagt. Die Geschichte zeigt den Verlauf von zwei Wochen im Leben einer Figur innerhalb einer Katastrophensituation. Die Figur wird durch die Ereignisse herausgefordert, auf die Probe gestellt und macht gravierende seelische Veränderungen durch. Wenn es gelingt, das in einer Kurzgeschichte glaubhaft und spannend darzustellen, ist viel erreicht finde ich. Aber möglicherweise bin ich zu anspruchslos.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

das wollte ich so nicht unwidersprochen stehen lassen:

Wenn es gelingt, das in einer Kurzgeschichte glaubhaft und spannend darzustellen, ist viel erreicht finde ich. Aber möglicherweise bin ich zu anspruchslos.

Als anspruchslos würde ich Dich nicht bezeichnen und ich finde auch nicht, dass dies das richtige Attribut für Deinen Text ist.

Gruß
Geschichtenwerker

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Achillus,
bin heute krank und kann daher nicht urlaubsmäßig rumwuseln, hab also einfach mal deine Geschichte gelesen. Ich will dir meinen Eindruck dalassen, einen ganz stinknormalen naiven Lesereindruck ohne Verbesserungsvorschläge ohne gute profunde Kritik.
Sauspannend. Jedenfalls auf den allerersten Blick. Natürlich bin ich über diese geschichtslose Welt gestolpert, aber immer mit dem Jakob mitgestolpert, und hab mich gefragt, wie der arme Tropf bisher überlebt hat, so kindlich wie er einerseits wirkt. Aber andererseits kann er ja auch einiges. Er beobachtet gut, ist wachsam, zieht seine Schlussfolgerungen und hat einiges auf dem Kasten: ich denk nur an seine Montier- und Schweißerqualitäten. Ich hab mich jedenfalls irgendwie sehr gut mit ihm identifizieren können. Er ist irgendwie jung und unschuldig.
Ich lese solche Geschichten normalerweise nicht mehr gerne. Und wenn, geht es mir eher so, dass ich wissen will, wie die personellen Zusammenhänge sind, was zum Beispiel die Leute von diesem Perkov wollen und wer die sind, die Menschen an ihn verkaufen und zu welchem Zweck. Oder zu wem die Sammler gehören. Oder welche Ziele die Widerstandskämpfer haben und gegen was oder wen sie kämpfen. Und das war der Grund für mein atemloses Mitlesen. Ich wollte das alles unbedingt wissen. Und eigentlich müsste ich da jetzt stinkesauer sein, weil du mir das alles vorenthälts, du Schluri. :)

Irgendwie hast du es dann aber geschafft, mich von diesem detektivischen Lesen (so nach dem Motto, wann kommt denn da jetzt endlich mal eine Auflösung) abzubringen und mich in deinen Figurenkreis und deine ja wie soll ich das sagen, dein Spiel mit diesen mythischen Figuren hineinzuziehen. Und eigentlich ging das sehr schnell. Und dann haben es mir die Figuren und ihre mythische Dimension angetan. Odysseus, der Trickreiche, Ajax und Achill, die Kämpfer. Ich hab die Sage um Troja und die nachfolgende Odyssee als Kind verschlungen. Ich habe komischerweise Achill nie nur als die blutrünstige Gestalt gesehen, die er zweifellos ist, sondern als tragischen wunderbaren Helden, der alle Möglichkeiten hätte zu überleben, es aber doch nie schaffen wird. Er ist dem Tod geweiht trotz all seines Zorns. Ich weiß noch, ich hab ihn geliebt wegen seiner Liebe zu Patroklos und ich hab ihn gehasst, weil er Hektors Leichnam durch die Gegend geschleift hat und hab ihn trotzdem immer noch ein klein wenig gemocht. Und ich weiß noch, ich war stinkesauer, als er sterben musste. Egal, wer weiß, was ich mir als Kind eingebildet habe. Jedenfalls hast du deine dystopische Welt mit mythischen Figuren besiedelt, die zu dieser eigenartigen Welt passen - und mit mythischen Konflikten. Der Kampf um das Leben im Angesicht des Todes. Wie ist man da? Wie gibt man sich, worauf legt man wert? Was ist noch wichtig? Denkt man vielleicht immer mal wieder überhaupt nicht an den Tod, obwohl er mehr als präsent ist? Aus persönlichen Gründen bin ich momentan immer wieder mit dieser Frage beschäftigt - und irgendwie hast du mich da sehr getroffen. Ganz besonders gestolpert (jetzt nicht im negativen Sinn) bin ich über das Bedürfnis Jakobs, die toten Menschen zu sehen. Zuerst dachte ich, er befürchtet, das könnte seine Familie sein - aber dann will er sehen, wo er steht, so empfinde ich diese Situation. Und wer weiß, vielleicht ist der Anblick fremder Toter nicht nur ein Ritual, einer bestimmten Situation ins Auge zu sehen, sondern dem eigenen Tod oder dem Tod seiner Lieben überhaupt. Es ist ja ein Motiv, das immer mal wieder in vielen Geschichten verwendet wird, wenn ich nur an Stand by me von S. King denke. Es ist nicht nur Horror, Schrecken, sonder wohl auch etwas sehr sehr Menschliches, jedenfalls bei einigen, dem, was auf einen zukommt, ins Auge zu sehen - und sie dann wieder davor zu schließen und Wärme zu finden wie in der sich anbahnenden Liebe zu und der Liebesszene mit Emily.

Einen kleinen Punkt hätte ich: Ich hab mich immer gefragt, wie der Jakob mit dem Bolzen im Rücken auf dem Rücken liegen kann. So hab ich diese Stelle hier verstanden:

Jacob richtete sich auf, trank und sank zurück. Er schloss die Augen und kippte vornüber in die Dunkelheit. Seine Hände griffen matt ins Leere. Da gab es nichts, woran er sich festhalten konnte.
Das ist noch vor der Operation, oder? Wenn du magst, guck noch mal nach. Und ehrlich gesagt hab ich ja keine Ahnung, wie das ist, einen Bolzen im Rücken zu haben. Weiß ja noch nicht mal, was das genau ist. Zum Glück nicht. :D


Zu der Szene mit Sanders Leuten (dem Traum) wollte ich sagen, ich würde die unbedingt drinbehalten, aber ich würde sie vielleicht weniger deutlich als Traum kennzeichnen, sondern als Mischung aus allem: Traum, Halluzination, Vision. Was mir an dieser eindrucksvollen Szene aufgefallen ist, ist, dass J und E sich nie zum falschen Zeitpunkt umdrehen dürrfen. Zuerst dürfen sie diesen Wesen, die in dieser Nacht die Stadt regieren, keinesfalls den Rücken zukehren, müssen sich mit ihnen konfrontieren, dürfen keine Angst zeigen. Und dann dürfen sie sich, als sie von den Nacht- und Teufelswesen verschont werden und gehen können, sich nicht umdrehen und zurückschauen, sondern wie Lot und sein Weib (nur dass Jakob in der Rolle von Lots Weib zum Glück schlauer ist als diese und sich nicht umdreht, sondern Emily vertraut) sich angstlos und vertrauensvoll aus Sodom und Gomorrha hinausgehen. Das ist ja wie eine hmm Zusammenfassung, ein Fazit, ein Kern deiner Geschichte, dass diese beiden, der junge Mann und seine Liebe gehen dürfen und dieser Welt des Unheils den Rücken kehren. Insofern hat deine Dystopie auch etwas Freundliches und Vertrauendes in sich selbst und die Kraft der Zuneigung und Hoffnung.

Lieber Achillus, noch eine schöne Zeit wünscht dir und allen anderen Novak aus Island.

 

Hallo Geschichtenwerker,

Als anspruchslos würde ich Dich nicht bezeichnen und ich finde auch nicht, dass dies das richtige Attribut für Deinen Text ist.

Vielen Dank! Sehr nett von Dir. Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende,

Gruß Achillus


Hallo Novak,

danke für Dein Feedback zum Text. Habe mich sehr gefreut von Deinen Gedanken zu erfahren. Zunächst mal wünsche Dir ich Dir gute Besserung, ich hoffe Du bist bald wieder fit und kannst Deine Island-Reise genießen.

Sauspannend. Jedenfalls auf den allerersten Blick. Natürlich bin ich über diese geschichtslose Welt gestolpert, aber immer mit dem Jakob mitgestolpert, und hab mich gefragt, wie der arme Tropf bisher überlebt hat, so kindlich wie er einerseits wirkt. Aber andererseits kann er ja auch einiges. Er beobachtet gut, ist wachsam, zieht seine Schlussfolgerungen und hat einiges auf dem Kasten: ich denk nur an seine Montier- und Schweißerqualitäten. Ich hab mich jedenfalls irgendwie sehr gut mit ihm identifizieren können. Er ist irgendwie jung und unschuldig.

Ja, das war eine Idee bei diesem Charakter. Ich dachte mir, es könnte doch Alternativen zu Einar und Sander geben. Menschen, die überleben, obwohl sie keine Krieger sind. Jacob ist sehr geschickt, ein Konstrukteur. Und das rettet ihm das Leben. Denn Sander begreift sofort, wie nützlich er für die Gruppe sein könnte. Deshalb entscheidet er sich für ihn, nimmt ihn auf.

Ich lese solche Geschichten normalerweise nicht mehr gerne. Und wenn, geht es mir eher so, dass ich wissen will, wie die personellen Zusammenhänge sind, was zum Beispiel die Leute von diesem Perkov wollen und wer die sind, die Menschen an ihn verkaufen und zu welchem Zweck. Oder zu wem die Sammler gehören. Oder welche Ziele die Widerstandskämpfer haben und gegen was oder wen sie kämpfen. Und das war der Grund für mein atemloses Mitlesen. Ich wollte das alles unbedingt wissen. Und eigentlich müsste ich da jetzt stinkesauer sein, weil du mir das alles vorenthälts, du Schluri. :)

Ich verstehe Dich. Aber tatsächlich ging es mir mit dem Hintergrund primär um das Schaffen einer glaubwürdigen Szenerie, in der die Akteure ihrem Schicksal folgen, das sich letztlich ihrer Kontrolle entzieht, egal wie humanistisch oder geschickt oder kampferprobt oder listig sie sind.

Irgendwie hast du es dann aber geschafft, mich von diesem detektivischen Lesen (so nach dem Motto, wann kommt denn da jetzt endlich mal eine Auflösung) abzubringen und mich in deinen Figurenkreis und deine ja wie soll ich das sagen, dein Spiel mit diesen mythischen Figuren hineinzuziehen. Und eigentlich ging das sehr schnell. Und dann haben es mir die Figuren und ihre mythische Dimension angetan.

Das war meine große Hoffnung bei diesem Text. Leider hat das nicht bei allen Lesern geklappt, aber ich freue mich natürlich, dass Dich die mythische Dimension der Figuren gepackt hat.

Odysseus, der Trickreiche, Ajax und Achill, die Kämpfer. Ich hab die Sage um Troja und die nachfolgende Odyssee als Kind verschlungen. Ich habe komischerweise Achill nie nur als die blutrünstige Gestalt gesehen, die er zweifellos ist, sondern als tragischen wunderbaren Helden, der alle Möglichkeiten hätte zu überleben, es aber doch nie schaffen wird. Er ist dem Tod geweiht trotz all seines Zorns. Ich weiß noch, ich hab ihn geliebt wegen seiner Liebe zu Patroklos und ich hab ihn gehasst, weil er Hektors Leichnam durch die Gegend geschleift hat und hab ihn trotzdem immer noch ein klein wenig gemocht. Und ich weiß noch, ich war stinkesauer, als er sterben musste. Egal, wer weiß, was ich mir als Kind eingebildet habe.

Es gibt eine jahrhundertelange Auseinandersetzung im Abendland, ob Achill oder Odysseus als der größere Krieger gelten sollte. In den friedlicheren Zeiten und Gesellschaften favorisierte man meist Odysseus, weil er seine Ziele mit Hilfe von Taktik und List verwirklicht. Dann gab es aber auch andere Zeiten in denen Achill bevorzugt wurde, weil man ihn als Symbol für Tapferkeit und Mut betrachtete. Die jeweilige Aufwertung des einen Kriegers (List bzw. Tapferkeit) ging auch immer mit der Abwertung des anderen (Feigheit bzw. Grausamkeit) einher. Ich fand das sehr spannend.

Achill hat eine besondere Beziehung zum Fluss Styx. Seine Mutter, Thetis, tauchte ihn als Kind in den Fluss und machte ihn dadurch nahezu unverwundbar. Nur die Ferse, an der Thetis ihren Sohn hielt, wurde nicht vom schwarzen Wasser des Styx benetzt, so blieb eine verletzliche Stelle.

Jeder Mensch hat eine Angst, eine Schwachstelle, egal wie weise, geschickt, mutig er auch sein mag. Achill steht auch für die Unmöglichkeit, vollkommene Unverletzlichkeit zu erlangen.

Jedenfalls hast du deine dystopische Welt mit mythischen Figuren besiedelt, die zu dieser eigenartigen Welt passen - und mit mythischen Konflikten. Der Kampf um das Leben im Angesicht des Todes. Wie ist man da? Wie gibt man sich, worauf legt man wert? Was ist noch wichtig? Denkt man vielleicht immer mal wieder überhaupt nicht an den Tod, obwohl er mehr als präsent ist? Aus persönlichen Gründen bin ich momentan immer wieder mit dieser Frage beschäftigt - und irgendwie hast du mich da sehr getroffen.

Das ist natürlich wunderbar, wenn ein Text den Leser erreicht.

Ganz besonders gestolpert (jetzt nicht im negativen Sinn) bin ich über das Bedürfnis Jakobs, die toten Menschen zu sehen. Zuerst dachte ich, er befürchtet, das könnte seine Familie sein - aber dann will er sehen, wo er steht, so empfinde ich diese Situation. Und wer weiß, vielleicht ist der Anblick fremder Toter nicht nur ein Ritual, einer bestimmten Situation ins Auge zu sehen, sondern dem eigenen Tod oder dem Tod seiner Lieben überhaupt. Es ist ja ein Motiv, das immer mal wieder in vielen Geschichten verwendet wird, wenn ich nur an Stand by me von S. King denke. Es ist nicht nur Horror, Schrecken, sonder wohl auch etwas sehr sehr Menschliches, jedenfalls bei einigen, dem, was auf einen zukommt, ins Auge zu sehen - und sie dann wieder davor zu schließen und Wärme zu finden wie in der sich anbahnenden Liebe zu und der Liebesszene mit Emily.

Mich hat die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe, sehr beeindruckt. Natürlich war das keine so grausame Geschichte, wie in diesem Text, aber ich denke, es ist so, wie Du sagst: Der eigene Tod rückt damit auf einmal in eine vorstellbare Dimension. Wenn dieser Mensch dort, kalt und leblos auf dem Stahltisch des Pathologen liegen kann, warum dann nicht auch eines Tag ich?

In einigen buddhistischen Schulen ist die traditionelle Leichenmediation eine Praxis, bei der Tote in allen Stadien des Verfalls betrachtet werden. Dabei geht es in erster Linie um dies: Das dort, dieses verwesende Stück Fleisch bist du selbst.

Einen kleinen Punkt hätte ich: Ich hab mich immer gefragt, wie der Jakob mit dem Bolzen im Rücken auf dem Rücken liegen kann. So hab ich diese Stelle hier verstanden:

Das ist noch vor der Operation, oder? Wenn du magst, guck noch mal nach. Und ehrlich gesagt hab ich ja keine Ahnung, wie das ist, einen Bolzen im Rücken zu haben. Weiß ja noch nicht mal, was das genau ist. Zum Glück nicht. :D


Danke für den Hinweis. Ich hatte mir eine Bandage vorgestellt, die den Bolzen umschließt, aber das könnte bei einem langen Bolzen schwierig werden. Dafür müsste das Geschoss sehr tief im Körper stecken. Ich habe das jetzt geändert: Es ist nur noch die Spitze, die in Jacobs Rücken steckt. Auch in diesem Fall wird es sich auf dem Rücken nicht sehr bequem liegen, aber jemand der im Fieber ist, kriegt davon wahrscheinlich nur noch wenig mit.

Zu der Szene mit Sanders Leuten (dem Traum) wollte ich sagen, ich würde die unbedingt drinbehalten, aber ich würde sie vielleicht weniger deutlich als Traum kennzeichnen, sondern als Mischung aus allem: Traum, Halluzination, Vision. Was mir an dieser eindrucksvollen Szene aufgefallen ist, ist, dass J und E sich nie zum falschen Zeitpunkt umdrehen dürrfen. Zuerst dürfen sie diesen Wesen, die in dieser Nacht die Stadt regieren, keinesfalls den Rücken zukehren, müssen sich mit ihnen konfrontieren, dürfen keine Angst zeigen. Und dann dürfen sie sich, als sie von den Nacht- und Teufelswesen verschont werden und gehen können, sich nicht umdrehen und zurückschauen, sondern wie Lot und sein Weib (nur dass Jakob in der Rolle von Lots Weib zum Glück schlauer ist als diese und sich nicht umdreht, sondern Emily vertraut) sich angstlos und vertrauensvoll aus Sodom und Gomorrha hinausgehen. Das ist ja wie eine hmm Zusammenfassung, ein Fazit, ein Kern deiner Geschichte, dass diese beiden, der junge Mann und seine Liebe gehen dürfen und dieser Welt des Unheils den Rücken kehren. Insofern hat deine Dystopie auch etwas Freundliches und Vertrauendes in sich selbst und die Kraft der Zuneigung und Hoffnung.

Anfangs hatte ich diese Szene nicht als Traumszene geschrieben, sondern als eine Realszene. Mir wurde dann aber klar, dass ich mit solchem Dimensionssprung alle Leser vor den Kopf stoßen würde, die streng rational an die Story herangehen. Mir ging es ja um die Erosion normaler Wahrnehmung. Ich halte in derartigen Situation vieles für möglich. Auch Visionen, Halluzinationen usw.

Und schön, dass Dir das mit dem Umdrehen aufgefallen ist. Im Prozess der Individuation besteht eine der größten Schwierigkeiten darin, die eigenen Affekte zu erkennen und zu kontrollieren. Die meisten Menschen scheitern daran, sie folgen dem Impuls, die Augen zu schließen, wegzulaufen. In der Forderung, die Angst auszuhalten und nicht dem Impuls zu folgen, liegt ein Test des Charakters: Bist du, du selbst. Oder bist du deine Angst?

Und natürlich stimme ich Dir zu, dass hier auch die Hoffnung in dieser Geschichte liegt, dass es eben Charaktere wie Jacob und Emily gibt, die der Vernichtungswoge etwas Menschliches entgegensetzen. Ich frage mich, weshalb andere Leser das nicht sehen. Vielleicht habe ich es mit der Brutalität des Gesamtszenarios übertrieben, so dass die Menschlichkeit von Jacob und Emily als zu gering erscheint.

Lieber Achillus, noch eine schöne Zeit wünscht dir und allen anderen Novak aus Island.

Vielen Dank, Novak. Und ich wünsche Dir eine schöne Zeit in Island.

Lieber Gruß
Achillus

 

In einem Interview im SZ-Magazin vom Freitag macht Christopher Nolan ein paar interessante Statements:

Dünkirchen als historisches Ereignis ist eine Art Rorschach-Test: Jeder liest hinein, was er möchte.
[…]
Ein Film ist eine Erzählung, ein Narrativ. Und es ist prinzipiell unmöglich, ein Narrativ gegen Missverständnisse und extreme Interpretationen zu schützen.
[…]
Am Ende muss man die Geschichte erzählen, an die man selbst am meisten glaubt, mit allem Drama und aller Lust.
[…]
Das Schicksal macht keine Unterschiede – die Guten werden nicht belohnt und die Bösen nicht bestraft. Was Menschen im Krieg passiert, ist grausam, auch in seiner Zufälligkeit.

Das hat mich an deine Geschichte erinnert, Achillus, und hier besonders an extreme Interpretationen, die du bisher bekommen und meisterlich beantwortet hast.

 

Hallo Dion,

vielen Dank, dass Du nochmal reingeschaut hast. Diese Zitate passen wunderbar zu meiner Geschichte und auch zu den unterschiedlichen Lesarten.

Ich staune immer, wie verschieden Texte und Geschichten überhaupt auf- und wahrgenommen werden. Natürlich ist man befangen, wenn man so eine Geschichte selbst verfasst hat, aber wenn die Befangenheit so weit geht, dass ein Text den man qualitativ für gut befindet bei anderen nur Achselzucken auslöst, das ist schon frustrierend.

Aber da kommt eben einer von Nolans Gedanken ins Spiel: es ist prinzipiell unmöglich, ein Narrativ gegen Missverständnisse und extreme Interpretationen zu schützen.

Hm, das sollte ich mir über den Schreibtisch hängen.

Vielen Dank, Dion.

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus,

in dieser Geschichte entwirfst du ja eine für dich recht ungewöhnlich normale Dystopie ;)
Zumindest wirkt das so, bis du auf den Teufel zu sprechen kommst und die Prozession mit den nackten Leibern einstreust. Das ist so ein Lynchmäßiges Element, das dem Ganzen eine besondere Note verleiht. Man kann da eine Menge reininterpretieren, aber es funktioniert auch so, dass es schlicht eine Gruppe von Verrückten in einer verrückt gewordenen Welt ist. Oder eine Wahnvorstellung. Da dieses Thema aber im Titel verankert ist ... hm.
Ich fand die Geschichte bis zur Stelle mit der Prozession sehr gut. Sehr spannend und alles aus einem Guss. Dann aber komme ich mit dem Ende der Szene nicht klar. Das ist so abrupt, ich werde damit zu sehr allein gelassen. Hat das wirklich stattgefunden?
Auch dies

Die ist da vorn eingeschlagen. Lass uns schauen, ob Leute verletzt wurden.«
erscheint mir nicht logisch. Ist die Gefahr nicht zu groß?

Dann die Szene mit Perkov. Also ich find so einen erzwungenen Blowjob ja immer etwas seltsam. Gewisserweise liefert er sich ja seinem Opfer aus, Pistole an der Schläfe oder nicht.
Schließlich das einfache Ausschalten Perkovs. Wenn das so einfach ist, warum haben sie das nicht schon vorher getan? Das ist irgendwie ... unbefriedigend.
Ich mein, gut, sie gehen am Ende drauf und vielleicht ist das quasi die Rache von Perkovs Leuten, aber das geht nicht aus dem Text hervor, könnten auch sonstige Leute gewesen sein.
Warum die beiden überleben, obwohl sie im gleichen Gebäude, nur in einem anderen Zimmer sind, erschließt sich mir nicht und wirkt nicht rund auf mich.
Das Ende befriedigt mich auch nicht. Ist schon konsequent, ein ebenso unvermittelter Ausstieg wie der Einstieg in die Geschichte, aber mir fehlt da etwas. Das ist so überhastet. Womöglich habe ich irgendwelche Fäden nicht aufgegriffen, die du gestreut hast. So war die Geschichte immer noch äußerst spannend zu lesen, aber im Vergleich mit deinen anderen Texten deutlich schwächer.

grüßlichst
weltenläufer

 

Hey Weltenläufer,

vielen Dank für Deine Hinweise zum Text. Wie immer habe ich mich sehr gefreut, von Dir zu hören.

in dieser Geschichte entwirfst du ja eine für dich recht ungewöhnlich normale Dystopie ;)
Zumindest wirkt das so, bis du auf den Teufel zu sprechen kommst und die Prozession mit den nackten Leibern einstreust. Das ist so ein Lynchmäßiges Element, das dem Ganzen eine besondere Note verleiht.

Ich mag Lynch sehr, auch wenn ich mit einigen Filmen so meine Schwierigkeiten hatte. Aber der Vergleich passt ziemlich gut.

Man kann da eine Menge reininterpretieren, aber es funktioniert auch so, dass es schlicht eine Gruppe von Verrückten in einer verrückt gewordenen Welt ist. Oder eine Wahnvorstellung. Da dieses Thema aber im Titel verankert ist ... hm.

Jeder schaut auf derartige Szenen, wie es seinem Weltbild und Weltempfinden entspricht. Trotzdem ergibt das Ganze immer noch ein zusammenhängendes Ganzes, denke ich.

Dann die Szene mit Perkov. Also ich find so einen erzwungenen Blowjob ja immer etwas seltsam. Gewisserweise liefert er sich ja seinem Opfer aus, Pistole an der Schläfe oder nicht.
Schließlich das einfache Ausschalten Perkovs. Wenn das so einfach ist, warum haben sie das nicht schon vorher getan? Das ist irgendwie ... unbefriedigend.

Ich denke, der Aspekt des Ausgeliefertseins macht bei solchen verdrehten Typen wie Perkov sicher einen Teil des Reizes aus. Ich habe viel von und über Menschen in Extremsituationen gelesen und ich kann da viele Handlungen einfach nicht nachvollziehen. Es ist ein grundlegendes Problem des Schreibens, dass es unterstellt, Menschen hätten für alles, was sie tun beschreibbare Motive. In Wirklichkeit stimmt das aber nicht.

Was das Ausschalten Perkovs betrifft, verstehe ich Deine Frage nicht. Wieso nimmst Du an, dass das einfach war? Dass der mit seinen Leuten vor dem Haus aufgetaucht ist, war doch in dieser Situation reiner Zufall. Und das Gewehr und die Blendgranate haben Einar und Sander erst kurz vorher aufgetrieben.

Ich finde es genau umgekehrt: Dass Einar einem Sniper das Gewehr abnimmt, mit dem dann diese Rettungsaktion gelingt, zeigt, wie ungewöhnlich eigentlich das Zusammentreffen der Ereignisse ist.

Ich mein, gut, sie gehen am Ende drauf und vielleicht ist das quasi die Rache von Perkovs Leuten, aber das geht nicht aus dem Text hervor, könnten auch sonstige Leute gewesen sein.
Warum die beiden überleben, obwohl sie im gleichen Gebäude, nur in einem anderen Zimmer sind, erschließt sich mir nicht und wirkt nicht rund auf mich.

Jacob und Emily sind nur noch deshalb am Leben, weil Sander alle Angreifer/ Plünderer getötet/ vertrieben hat.

Das Ende befriedigt mich auch nicht. Ist schon konsequent, ein ebenso unvermittelter Ausstieg wie der Einstieg in die Geschichte, aber mir fehlt da etwas. Das ist so überhastet. Womöglich habe ich irgendwelche Fäden nicht aufgegriffen, die du gestreut hast. So war die Geschichte immer noch äußerst spannend zu lesen, aber im Vergleich mit deinen anderen Texten deutlich schwächer.

In der Tat. Für mein Empfinden hast Du eine Menge Kleinigkeiten übersehen. Ich denke aber, dass das nicht allein auf unaufmerksames Lesen zurückzuführen ist. Offenbar ist es mir nicht gelungen, die Balance zwischen dem subtilen Streuen von Informationen, eindeutiger Beschreibung bzw. Inszenierung und dem Steuern der Aufmerksamkeit des Lesers zu bewerkstelligen.

Deinem abschließenden Urteil kann ich mich nicht anschließen. Aber natürlich bin ich befangen.

Vielen Dank für Deinen Kommentar, Weltenläufer!

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Maria,

sorry für die späte Antwort. Bin jetzt aus den Ferien zurück und kann mich in Ruhe Deinem Kommentar widmen. Vielen Dank dafür.

Er wird ohnmächtig und taucht dann irgendwo anders auf. Das ist ein echt klassischer Spannungsaufbau, den man immer noch in vielen Filmen benutzt und der einen billigen Effekt hat, damit sich der Autor oder Regisseur es sich einfach machen können. Aus einer tollen Szene einfach so zu einer anderen zu wechseln finde ich nur billig. Als nächstes kommen die Erinnerungsfetzen und dann taucht natürlich eine Frau auf, absolut klassisch und so oft verwendet, dass es ein Klischee übertrifft.

Diese Kritik kann ich absolut nicht nachvollziehen. Jacob wird im Stahlwerk nicht ohnmächtig. Emily sagt ja später, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er war eben verletzt. Dann der Sprung in eine andere Szene: Das ist ja nun einmal kaum zu vermeiden. Wenn ich jedes Detail der Ereignisse aufschreiben sollte, naja, das wäre schlichtweg unmöglich. Und dass eine Szene eben mit dem Erwachen beginnt, also was daran billig sein soll, verstehe ich nicht.

Und dass das Auftauchen einer Frau in diesem Zusammenhang ein Klischee sein soll, das sehe ich ganz anders. Übrigens – wenn es klassisch ist, dann ist es eben gerade kein Klischee. Etwas Klassisches kann nicht abgenutzt, überholt sein. Es ist etwas, das die Zeiten überdauert. Ein Klischee zeichnet sich aber dadurch aus, dass es veraltet ist.

Die Unterhaltung zwischen Einar und dem Schützen wirkt irgendwie aufgesetzt. Klar, aus Einars Sicht habe ich keine Beschwerden von mir zu geben, seine Sätze sind okay, aber das, was der Schütze sagt, das klingt fast so, als würde er die Gefahr für ihn nicht wirklich einschätzen können, sondern als würde er sich schon förmlich darüber lustig machen.

Ich wollte hier zum Ende des Dialogs darstellen, dass sich der Schütze nicht einschüchtern lassen will. Letztlich gelingt es Einar aber doch, dem Sniper angst zu machen.

Natürlich schreibt der Autor das, was er möchte, ist ja Ding, aber selten habe ich in einer Geschichte einen Porno gesucht, wie in diesem hier. Sex spielt hier eine große Rolle. In der Apokalypse sicherlich eine gute Währung, was ich auch verstehen, obwohl ich es nicht verstehen möchte. Hach, Männer und ihre Schwänze eben. Bei deiner Geschichte ist es aber so, dass mich diese Szenen nicht abturnen oder so (das kannst du gut beschreiben), sondern eher, dass ich so was nicht mehr suche. Als sie ihren Körper als Bezahlung hingab, fand ich das schrecklich und es hat mich verletzt, das liebe Mädchen so zu sehen, aber gleichzeitig beschrieb dieser Akt die Welt sehr gut. So ist es eben. Doch dann fickt sie mit Einar, dann versucht man sie zum Sex zu zwingen und nun wird sie erneut flachgelegt und das ist mir in einer Kurzgeschichte zu viel, da überlädst du den Text und ich kann nicht anders, als in Emily wirklich eine Nutte zu sehen, die fast mit jeder Figur hier schläft und Petkov beinahe auch getan hätte.

Naja, der „Sex“ mit Perkov wäre ja erzwungen gewesen. Sie deshalb als Nutte zu betrachten ist schon ziemlich unfair. So eine Art bürgerlicher Moral (eine Frau darf ihren Leib nicht verkaufen/ nicht zu ihrem Vorteil einsetzen) – das kann man sich aus der Bequemlichkeit und Sicherheit unserer Zeit natürlich gut leisten. Aber wenn die Verhältnisse so sind, wie dort beschrieben, dann zählen andere Dinge.

Und Stichwort Porno: Bitte schau Dir mal einen Porno an, dann verstehst Du vielleicht den Unterschied zu diesem Text und musst ihn nicht durch die Verwendung des Begriffs diskreditieren. In einem Porno zählen weder Story noch Charakter. Meist gibt es so etwas wie einen Plot oder eine Figurenpsychologie gar nicht. Also: Nur Laien glauben, dass überall wo explizit Sex gezeigt oder beschrieben wird, auch Pornografie vorliegen muss.

Trotzdem kannst Du recht haben: Vielleicht ist zuviel Sex drin. Möglich. Ich weiß es nicht. Im Moment gefällt es mir so.

Es ist halt so, dass du nicht viel Wert auf die Gefühle deiner Figuren gibst, dass du uns nicht richtig an dem Gefühlsleben deiner Figuren teilhaben lässt, sondern du uns mit der harten Sprache durch die Geschichte jagst und ich bin so eine, die gerne Teil daran hat, das Facettenreichtum der Gefühle mitempfindet, doch das lässt du selten zu. Man merkt schon, was Jakob fühlt, aber ich möchte mehr als nur merken und diese harte Sprache ist einfach für meinen Geschmack zu kalt.

Jacobs Gefühlsregungen werden an mehreren Stellen gezeigt oder angedeutet. In der Sniper-Szene sieht man seine Angst, in der Villa-Szene sein Entsetzen über die Ausmaße der Verrohung, die die Gesellschaft erreicht hat. Man sieht, dass Jacob sich nach Emily sehnt, sie begehrt, er aber auch nach Freundschaft sucht. Man sieht Verwirrung und Irritation, als er den Sex zwischen Emily und Einar mitbekommt, und die Fragen, die er sich danach stellt, z.B. ob man ein Krieger wie Einar sein muss, um hier zu überleben. Mag sein, dass Dir das nicht reicht, aber zu sagen, mir wären die Gefühle meiner Figuren nicht wichtig ist sicher nicht richtig.

Den Hinweis zur Härte der Sprache nehme ich gern an. Da hast Du bestimmt recht. Vielleicht wirkt das Ganze deshalb auch emotionslos auf Dich. Ich werde weiter daran arbeiten.

Maria, vielen Dank für Deine Hinweis zum Text. Auch wenn ich viele Dinge ganz anders sehe, helfen Deine Gedanken dabei, meinen Blick auf den Text zu schärfen.

Beste Grüße
Achillus

 

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