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- 08.07.2012
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An den Ufern des Styx
Still lag das Stahlwerk im Licht des Mondes da, von den Sümpfen jenseits der Stadt wehte Verwesungsgeruch herüber. Jacob lauschte dem Donnergrollen der Artillerie. Er schaute sich ein letztes Mal um, dann schlüpfte er durch ein Loch des Maschendrahtzauns. Geduckt lief er über den Fabrikhof, Glasscherben knirschten unter den Sohlen seiner Stiefel. Die Ruine des Hochofens wuchs ihm schwarz entgegen.
Vor der Rampe des Zulieferungsbereichs wirbelten Fetzen aus Papier und Kunststoff über den Asphalt, die Tore der Eisenschmelzerei hingen schräg in ihren Laufschienen.
Also dann, dachte Jacob und holte tief Luft. Mit wenigen Sätzen gelangte er ins Innere der Werkhalle. Gut möglich, dass er hier einiges an brauchbarem Schrott finden würde; Metallteile, die sich für den Bau eines Ofens oder einer Werkbank eigneten. Gut möglich, dass heute Abend auch andere Sammler auf der Suche waren.
Der Wind heulte durch die entblößten Rippen der Dachkonstruktion. Dort, wo noch vor einem Jahr Stahlkocher den funkensprühenden Strom flüssigen Roheisens bändigten, herrschte nun ein Chaos geborstener Armaturen, rosteten Panzerplatten und Kühlwasserleitungen.
Jacob streifte seine Arbeitshandschuhe über. Im Schein des Mondes durchstöberte er den Inhalt der massiven Legierungspfannen. Zwischen Koksresten, Schutt und Schlacke fand er Bleche und Winkeleisen. Nach und nach füllte sich sein Rucksack. Er drehte gerade ein verbogenes Stahlrohr in den Händen, als ein Schrei durch die Nacht hallte, zu einem Kreischen anhob und abrupt verstummte.
Jacob erstarrte. Dann zuckte ein Gedanke durch seinen Kopf: Lauf!
Er ließ das Stahlrohr fallen, schleuderte den Rucksack zu Boden und rannte los. Das Herz pochte mit harten Schlägen bis in seine Kehle. In den Schläfen rauschte das Blut. Er lief durch das Werkhallentor, das Echo seiner Schritte jagte ihn aus der Fabrik.
Das Knallen der Stiefel in den Ohren rannte er, was die Lungen hergaben. Vor seinen Augen dehnte sich der Hof zu einer weiten grauen Fläche.
Etwas zischte über seinen Kopf hinweg. Sie schießen, dachte Jacob. Er stolperte, stürzte und schlug der Länge nach hin. Er stemmte sich hoch, ein dumpfer Schlag traf ihn zwischen den Schulterblättern und warf ihn nieder. Er spuckte Blut, dick und schwarz. Geschosse prasselten neben ihm zu Boden - Pfeile, Bolzen, Stahlkugeln. Jacob zog die Beine an, verbarg den Kopf unter den Armen.
»Nicht mehr schießen!«, rief eine raue Stimme. »Wir kriegen ihn lebend.«
Jacob kämpfte gegen den Schmerz, der sich durch den Rücken in seinen Körper bohrte. Er tastete nach der Klinge im Ärmel seiner Jacke. Schon hörte er hinter sich die Schritte.
»Dreht ihn um«, sagte die raue Stimme. Er wurde gepackt und herumgerissen. Vier Gestalten umringten ihn - Männer in Tarnhosen und zerlumpten Armeejacken, an ihren Gürteln baumelten Helme und Gasmasken. Sie hielten die Waffen gesenkt.
»Perkov gibt uns achtzig oder sogar hundert für den«, sagte einer der vier, offenbar der Anführer. Er war der Mann mit der rauen Stimme.
»Sieht aus wie ein Jude«, sagte ein anderer. »Ist verdammt jung.« Alle lachten, als hätte er einen Witz gemacht.
»Na los«, sagte der Anführer. »Wir nehmen ihn mit.«
Jacob riss die Klinge aus seiner Jacke und hielt sie sich an den Hals. »Einen Scheiß werdet ihr.« Seine Stimme klang heiser.
Die vier Männer blickten auf ihn herab.
Der Anführer sagte: »Okay. Dann mach mal.«
Jacob presste den Griff der Klinge, er spürte die schartige Schneide an seiner Kehle. Ein Schnitt, dachte er, und die Sache ist vorbei.
»Das wird wohl nichts«, sagte einer der Männer, und wieder lachten alle. In ihr Gelächter hinein krachte ein Schuss. Jacob sah, wie der Kopf des Anführers jäh zurückgerissen wurde. Einen Augenblick lang stand der Mann reglos da, das Kinn steil nach oben gereckt, so, als betrachtete er den Mond. Dann brach er zusammen.
Jacob erwachte auf einem improvisierten Krankenlager. Neben der mit Filzdecken gepolsterten Pritsche stand ein Tisch, auf dem Verbandsmaterial ausgebreitet lag. Jacob rieb sich die Schläfen und zuckte zusammen. Der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern erinnerte ihn an die vergangene Nacht. Bruchstückhaft kehrten die Ereignisse auf dem Fabrikhof des Stahlwerks zurück. Da war ein Mann mit einem Loch in der Stirn, der zum Himmel hinauf starrte. Und da war das blasse Gesicht einer jungen Frau, ihr langes schwarzes Haar glänzte im Mondschein. Sie beugte sich zum ihm herab und sagte ... Doch vielleicht bildete er sich das nur ein.
Benommen schaute er sich in dem schäbigen Zimmer um. Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der mit Brettern vernagelten Fenster drang, tanzte der Staub. Tapetenfetzen hingen von den Wänden, unter der Decke breitete sich der Schimmel aus.
Draußen knatterte ein Sturmgewehr, zwei oder drei Straßen entfernt. Dann herrschte wieder Stille.
Jacobs Gedanken kehrten zurück zu der Frau. Er sah, wie sie eine Haarsträhne, die vor ihrem Gesicht flatterte, hinter das Ohr strich, sah ihre Augen, ihren Mund. Hatte sie ihn gerettet?
Mit einem Knarren öffnete sich die Tür. Ein hünenhafter Mann in Soldatenkluft trat herein.
»Kannst du aufstehen?«, fragte er.
Jacob nickte.
»Zieh dir die Stiefel an.«
Der Mann stützte ihn beim Gehen, führte ihn durch einen düsteren Flur und öffnete eine Tür. Die Küche der Wohnung war ein großer kahler Raum. Neben dem Kochherd saß auf einem umgedrehten Blechzuber die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar. Sie trug einen zerschlissenen Armeemantel und Fallschirmjägerstiefel.
»Setz dich da hin«, sagte sie zu Jacob und deutete auf einen Schemel, der an einem Esstisch stand.
Jacob setzte sich und schaute sich in der Küche um. Erst jetzt bemerkte er den alten Mann, der in der gegenüberliegenden Ecke am Boden saß und rauchte. Er würdigte Jacob keines Blickes, starrte auf die morschen Lärchenholzdielen vor seinen Füßen und zog an seiner Zigarette. Sein Gesicht war bleich, seine Haare grau.
Die junge Frau räusperte sich. »Mein Name ist Emily.« Sie deutete mit einer Bewegung des Kinns auf den Alten. »Das da ist Sander und der Große heißt Einar.«
Jacob schaute von einem zum anderen und dann wieder zu Emily.
»Wir drei wohnen in diesem Haus«, sagte sie. »Und du heißt ...«
»Jacob.«
»Bist du Jude?«, fragte Einar. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust und sah mit hartem Blick auf Jacob herab.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Zeig uns deinen Schwanz«, sagte Einar.
Jacob erstarrte, dann schüttelte er wieder den Kopf.
Mit zwei mächtigen Schritten war Einar bei ihm. Er packte Jacob an der Kehle. »Zeig deinen Schwanz«, sagte er noch einmal.
Jacob würgte. »Okay. Ja. Ich bin Jude.«
Einar fluchte und ließ ihn los.
»Ich wusste es«, sagte er. »Verfickte Scheiße. Der kann nicht hierbleiben.«
»Und warum nicht?«, sagte Emily.
Jacob rieb sich den Hals und blickte scheu zu ihr hinüber. Sie war schlank, beinahe zierlich, aber in ihren dunklen Augen loderte das Feuer.
»Wenn sie uns mit einem Juden erwischen, sind wir tot«, sagte Einar und fuhr sich durch das blonde, verfilzte Haar.
»Wenn sie uns erwischen, sind wir so oder so tot«, erwiderte Emily.
Einar schüttelte den Kopf. Er stampfte durch die Küche, drehte sich um und sagte: »War ein Fehler, ihn herzubringen.«
Emily zuckte mit den Schultern. »Hätte ich ihn denen überlassen sollen? Sie wollten ihn an Perkov verkaufen.«
»Und wenn schon«, erwiderte Einar. »Ist das mein Problem? Du verschwendest Munition und gefährdest uns alle, nur um diesem nutzlosen ...«
»Deswegen sitzen wir doch in dieser Scheiße«, unterbrach ihn Emily. »Weil jeder nur an sich denkt.«
Einar schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch. »Ich sage, wir schmeißen ihn raus. Mein letztes Wort.«
»Wenn wir ihn jetzt mit seinen Verletzungen rausschmeißen, wird er es nicht schaffen«, gab Emily zurück.
»Ich gehe«, sagte Jacob. Emily und Einar sahen ihn an. »Danke, dass ihr mich vor denen gerettet habt.«
Einar hob die Hände. »Siehst du«, sagte er zu Emily. »Der kleine Wichser kommt allein zurecht.«
Emily schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
Schweigen breitete sich im Raum aus. Emily hatte Recht. Seit dem Ausbruch des Krieges war jeder Tag ein Überlebenskampf. Allein, ohne Hilfe würde es Jacob mit diesen Verletzungen nicht schaffen.
»Wie alt bist du?«, fragte der Alte in die Stille hinein. Er drückte seine Zigarette in einer beschädigten, von Rissen und Sprüngen übersäten Tasse aus.
»Hm?«
»Ich will wissen, wie alt du bist.«
»Siebzehn«, log Jacob.
Sander schaute ihn an, und sein Blick schien sich in Jacobs Stirn zu bohren. »Siehst nicht aus wie siebzehn.«
»Naja, ich ...«
»Hast du die Schule besucht?«
»Sicher.«
»Wolltest du studieren?«, fragte Sander weiter und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ja.«
»Sieh an.« Sander klemmte die Zigarette in den gesprungenen Rand der Tasse und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es schien, als wollte er die Müdigkeit aus seinem Gesicht wischen.
»Und welches Fachgebiet?«
»Ist doch völlig gleich, was der Kleine studieren wollte«, sagte Einar.
Sander beachtete ihn nicht. Er rieb sich die Wangen, dann schaute er Jacob an und hob die Augenbrauen.
»Also?«
»Maschinenbau«, sagte Jacob.
Sander streckte den Rücken, ein paar Wirbel knackten. Er wirkte jetzt deutlich jünger.
»Was hast du im Stahlwerk gesucht?«, fragte er und griff nach seiner Zigarette.
»Teile«, antwortete Jacob. »Schrott, aus dem ich was bauen kann.«
Sander erhob sich, rollte die Schultern, bog und streckte den Hals. Niemand sagte ein Wort.
Draußen, nicht sehr weit entfernt, knallten Schüsse. Eine Frau schrie. Es war ein einzelner, klagender Schrei. Dann kehrte die Stille zurück.
Sander führte die Zigarette an seine Lippen und inhalierte tief. Er betrachtete Jacob, blies blauen Rauch in die Küche und sagte: »Du bleibst bei uns.«
Drei Tage lang kümmerte sich Emily um Jacob. Dabei sprach sie kaum ein Wort. Sie desinfizierte seine Wunden, sie bandagierte seine Stirn. Die Spitze eines Bolzengeschosses steckte in Jacobs Rücken. Emily weigerte sich, es zu entfernen.
»Ist zu nah an deiner Wirbelsäule«, sagte sie. »Ich kenne mich damit nicht aus. Wir finden eine andere Lösung.«
Jacob nickte. Ihm war es gleich. Tag und Nacht gingen ineinander über. Er dämmerte dahin. Sein ganzer Körper schmerzte. Fieberschübe und wirre Träume plagten ihn.
Jeden Morgen erschien Emily mit einem Tablett an seinem Bett. »Etwas Tee und zwei Scheiben Brot«, sagte sie. »Mehr haben wir gerade nicht.«
Am vierten Tag öffnete sich die Tür und Emily führte einen Fremden herein.
»Dieser Mann ist Arzt«, sagte sie zu Jacob und reichte ihm ein halbgefülltes Glas. Der Geruch stach in der Nase.
»Wodka?«, fragte Jacob.
»So was in der Art.«
Jacob richtete sich auf, trank und sank zurück. Er schloss die Augen und kippte vornüber in die Dunkelheit. Seine Hände griffen matt ins Leere. Da gab es nichts, woran er sich festhalten konnte.
Jacob schlug die Augen auf. Einar stand an seinem Bett und schaute auf ihn herunter. Jacob spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er schluckte.
»Keine Angst«, sagte Einar. »Wenn ich es wollte, wärst du schon tot.«
Jacobs Blick fiel auf das Bajonett, das Einar wie ein Messer im Gürtel trug. »Wo ist Emily?«, fragte er.
»Tja, das ist eine gute Frage.« Einar durchsuchte die Taschen seiner Armeejacke. Schließlich fand er eine Zigarette und Streichhölzer. Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob er sich zu Jacob auf die Pritsche setzen sollte. Dann schnalzte er mit der Zunge und hockte sich auf den Boden. Den Rücken an die Wand gelehnt, spielte er mit der Zigarette zwischen seinen Fingern, zündete sie an und rauchte.
»Also, wo ist sie?«, fragte Jacob noch einmal.
»Sie ist fort«, sagte Einar. »Sie bezahlt deine Behandlung.«
Jacob kniff die Augen zusammen. Er verstand nicht, was Einar gesagt hatte.
»Was meinst du damit?«
Einar betrachtete den dünnen Rauchfaden, der von seiner Zigarette silbrig grau nach oben stieg.
»Meinst du, ein Arzt kommt einfach her und operiert dich kostenlos aus reiner Menschenliebe?«
Jacob bewegte die Schultern. Er spürte noch immer ein dumpfes Ziehen, aber der bohrende Schmerz war fort.
»Der Bolzen ...«, sagte er.
»... ist raus«, bestätigte Einar. »Bedanke dich bei Sander und Emily. Wenn es nach mir gegangen wäre ...«
»Ich weiß«, sagte Jacob. »Du hasst die Juden.«
Einar hob die Schultern. »Ich hasse euch nicht. Ihr seid mir völlig egal.«
»Sie haben früher schon einmal Jagd auf uns gemacht.«
»Scheiße«, sagte Einar. »Ich weiß, was damals im zweiten Weltkrieg passiert ist. Ich kenne die Story mit den Deutschen.«
»Also was ist nun mit Emily?«, fragte Jacob erneut.
Einars helle Augen richteten sich auf ihn. Es lag kein Hass in diesem Blick, kein Zorn. Da war nur große Müdigkeit, eine bis in die Knochen reichende Erschöpfung. »Sie fickt als Bezahlung für deine Behandlung, Kleiner.«
Jacob richtete sich auf. Wieder schlug sein Herz schneller.
»Wieso ...«, stieß er hervor. »Wieso tut sie das?«
Einar winkte ab. »Bilde dir bloß nichts ein«, sagte er. »Wir bekommen auch ein paar Konserven dafür, ein wenig Munition ...«
Jacob schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gewollt.«
Einar lachte. »Es ist Krieg, Kid. Hier bekommt niemand, was er will.«
Sander deutete auf die vernagelten Fenster. »Jeden Morgen kontrollieren wir, ob die Bretter fest sitzen. Und zwar im Keller, im ersten und im zweiten Stock.«
Jacob betrachtete ihn gedankenverloren.
»Wir haben im ganzen Haus Fallen aufgestellt«, fuhr Sander fort. »Damit fangen wir Ratten und Mäuse, manchmal einen Marder. Die Fallen müssen auch jeden Morgen überprüft werden.«
Sander bemerkte Jacobs Blick.
»Was hast du? Warum starrst du mich so an?«, fragte er.
»Ich ... Es ist ...«, sagte Jacob.
»Ja?«
»Ich erkenne dich kaum wieder. Du ...«
Sander lachte. »Das passiert vielen Menschen. Ich habe ein Allerweltsgesicht.«
»Nein, ich meine, du siehst völlig verändert aus. Viel jünger.«
Sander rieb sich das Kinn. »Der Bart ist ab«, sagt er. »Daran wird es liegen.«
Jacob wollte etwas sagen, doch Sander hob die Hand. Er fixierte Jacob mit einem seltsamen Blick. Dann lächelte er und sagte: »Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir unser Destilliergerät.«
Jacob folgte ihm durch das verfallene Treppenhaus.
»Ihr brennt Alkohol?«, fragte er nach einer Weile.
»Das würden wir gern«, erwiderte Sander. »Aber dafür fehlen uns die Baumaterialien.«
»Ein Gefäß aus Kupfer wäre ideal«, sagte Jacob.
Sander lachte. »Ich weiß. Einar geht deswegen einem Tipp nach. Wir haben von einer Villa in der Nähe des Flughafens gehört. Dort im Keller soll eine komplette Brennanlage stehen.«
Im vierten Stock öffnete Sander eine Tür, und sie traten in einen hellen, grüngetünchten Raum. An den Wänden dunkelten Stockflecken. Der Destillierapparat stand dicht bei einem der beiden ungesicherten Fenster.
»Vorsicht«, sagte Sander. »In diesem Raum arbeiten wir eigentlich nur nachts und immer ohne Beleuchtung. Wenn du tagsüber hier zu tun hast, solltest du die Fenster abhängen.« Er deutete auf Feldplanen, die zusammengerollt in einer Ecke des Zimmers lagen. »Das gilt auch für alle anderen Räume.«
»Heckenschützen«, sagte Jacob.
Sander nickte. »Ja, es werden immer mehr. Es ist kein Problem, an einem der offenen Fenster im Treppenhaus vorbeizugehen. Aber bleib nicht stehen.«
»Warum schießen die auf uns?«
»Sie wollen Angst verbreiten«, antwortete Sander. »So kontrollieren sie uns.«
»Wir kämpfen doch nicht.«
»Das könnten wir aber. Denk mal an die Partisanengruppen. Vor denen fürchten sie sich. Mit den Heckenschützen wollen sie verhindern, dass wir uns organisieren.«
Jacob sah sich schweigend in dem Raum um. »Warum nagelt ihr diese Fenster nicht auch zu?«, fragte er dann.
»Naja, früher haben wir das gemacht«, sagte Sander. »Aber wir brauchen etwas im Licht im Haus. Außerdem hat man von hier aus einen guten Blick auf die Kreuzung vor dem Haus.« Er zwinkerte Jacob zu. »Manchmal ist Wissen der beste Schutz vor deinen Feinden. Ich stehe nachts gern hier und beobachte.«
Das Destilliergerät war simpel konstruiert. Der untere Teil bestand aus einem Herd, der mit Holz oder Kohle befeuert werden konnte. Das auf dem Fensterbrett verankerte Abzugsrohr ragte etwa einen Meter aus dem Zimmer heraus. Auf der Herdplatte stand ein großer Kochtopf, durch dessen Deckel ein daumendickes, abwärts geneigtes Winkelrohr geführt war.
»Es gibt drei Öfen in diesem Haus«, sagte Sander. »Einer steht unten in der Küche, einer in Emilys Zimmer in der dritten Etage und das hier ist der dritte. Brennholz ist wertvoll, also ...« Er begann, Jacob die Befeuerungsmethode zu erklären.
»Heh, Sander«, unterbrach ihn Jacob. »Ich weiß, wie man einen Ofen heizt.«
Sander lachte. »Schon gut. Dann sag mir mal, was hier bei dieser Destille zu tun ist.«
»Man erhitzt das verschmutzte Wasser«, sagte Jacob. »Der Dampf kühlt ab und das kondensierte Wasser tropft in ein Gefäß, das unter das Rohr da gestellt wird.«
»Kluger Junge.« Sander lächelte. »Ja, wir verwenden eine Blechwanne, wenn Emily unten in der Küche nicht gerade drauf sitzt.«
»Wenn ihr Regenwasser nutzt, müsstet ihr es eigentlich nicht mehr destillieren«, sagte Jacob.
»Stimmt. Aber die Planen, mit denen wir es auffangen, sind stark verschmutzt.« Sander wies mit dem Zeigefinger nach oben. »Wir haben auf dem Dach auch ein paar Felddecken ausgelegt, um Feuchtigkeit aufzusaugen. Wir wringen das Zeug dann aus und reinigen das Wasser mit der Destille. Gut, lass uns runtergehen, ich will mir den Verband an deinem Rücken anschauen.«
In der dritten Etage glitt Jacobs Blick über die geschlossenen Wohnungstüren.
»Wann wird Emily zurück kommen?«, fragte er.
»Bald«, erwiderte Sander ohne sich umzudrehen. »Sie wird bald zurück sein.«
Später an diesem Vormittag hämmerte jemand gegen die Haustür. Sander und Jacob gingen nach unten.
»Ich bin's«, rief Einar von draußen. Sander öffnete.
Einar stampfte in die Küche und löste den Trageriemen seines Gewehrs. Er stellte das Gewehr in eine Ecke und warf seinen Rucksack auf den Küchentisch.
»Gute Neuigkeiten«, sagte er. »Ich habe die Brennerei gefunden. Ein bisschen Kleinkram wurde geplündert, doch die Brennblase ist noch da. Ich brauche aber jemanden, der beim Transport hilft.«
»Ist das Haus bewohnt?«, fragte Sander.
»Bis vor kurzem war es das«, sagte Einar. »Im ersten Stock liegen fünf Leichen. Zwei Erwachsene, drei Kinder.«
Jacob starrte Einar an.
»Was ist?«, sagte Einar und stützte die Fäuste in die Seiten. »Denkst du, ich lege fünf Menschen um, wegen einer Brennapparatur?«
Jacob schwieg.
Sander rieb sich das Kinn. »Mit purem Alkohol könnten wir unsere medizinischen Vorräte auffrischen.«
»Und er ist ein ideales Tauschmittel«, sagte Einar. Er öffnete den Rucksack und holte ein paar Konservendosen, Werkzeug und einige Scheite Brennholz hervor. »Da ist noch etwas anderes. Ich habe heute Nacht einen Sniper entdeckt. Stand gerade im gegenüberliegenden Haus, als er vom Dachboden aus auf ein paar Sammler geschossen hat.«
»Wo war das?«, fragte Sander.
»In der Nähe des Zentralbahnhofs. Dem Kerl würde ich gern einen Besuch abstatten.«
»Meinst du, der ist morgen wieder da?«
»Ja. Ich habe gewartet und gesehen, wie er das Haus verließ. Der hatte das Gewehr nicht dabei. Ich wette, er kommt zurück.«
Sander nickte. »Einen Versuch ist es wert.«
Das letzte Licht des Tages legte sich grau über die Stadt. Seit dem späten Nachmittag donnerten in der Ferne wieder dumpf die Geschütze. Jacob folgte Einar durch zerstörte Straßen. Sie stiegen über Berge aus Schutt, duckten sich hinter Mauern und sprangen zwischen ausgebrannten Fahrzeugwracks von Deckung zu Deckung.
Jacobs Herz hämmerte gegen seine Brust. Es war nicht nur die Angst, die Aufmerksamkeit eines Scharfschützen zu erregen. Es war der Gedanke, Emily nicht wiederzusehen, der ihn verrückt machte. Der Verabredung nach hätte sie im Laufe des Tages zurückkehren sollen. Doch sie war nicht gekommen, und das bedeutete ... Niemand wusste, was das bedeutete.
»Da sind wir«, sagte Einar und zeigte auf ein Haus, das hoch über den Platz vor dem Zentralbahnhof aufragte. »Wir suchen uns ein gemütliches Versteck im ersten Stock.«
»Und dann?«
»Dann warten wir.«
Das gemütliche Versteck - schwarzer Schimmel an den Wänden, ein Loch in der Decke, Rattendreck und Katzenpisse überall. Jacob hockte im Flur neben der zertrümmerten Wohnungstür und lauschte. In das Wummern der Artillerie hinein knallten Schüsse, hell und scharf, sehr nah. Dann wieder Stille, bis auf das Rauschen des Windzuges, der durch die verwüsteten Zimmer und Korridore strich.
Hinter der Tür der Nachbarwohnung lauerte Einar auf den Scharfschützen. »Schlaf nicht ein, Kid«, hatte er Jacob eingeschärft. »Mach keinen Mucks.«
Irgendwann, es waren Stunden vergangen, spürte Jacob seine Beine nicht mehr. Er legte sich in völliger Finsternis auf den Rücken und streckte die Knie ... und erwachte vom Geräusch schwerer Schritte im Hausflur.
Jacob wagte nicht, sich zu bewegen. Das Schaben der harten Sohlen auf den Absätzen des Treppenhauses schnürte ihm die Kehle zu. Im Klang dieser Schritte lag etwas Feindseliges. Jacob hörte darin all die Verachtung und den Hass, die seiner Familie und ihm in den letzten zwei Jahren entgegengeschlagen waren. Als Ungeziefer hatte man sie bezeichnet, und wie Ungeziefer wollte man sie zertreten.
Jacob hörte jedes Detail – das Ächzen der morschen Dielen, das Knarren des Stiefelleders, das Rascheln schwerer Feldkleidung. Die Schritte wurden lauter, kamen näher, so nahe ... Dann herrschte plötzlich Stille im Treppenhaus. Und jetzt roch Jacob den Fremden. Schweißgeruch und Tabakdunst breiteten sich aus. Kein Zweifel, er stand direkt vor seiner Tür.
Jacob presste die Kiefer zusammen, das Pochen seines Herzens dröhnte ihm im Schädel, so laut wie die Schläge einer Kirchturmuhr. Er starrte in die Finsternis, doch da war nichts. Und so lag er in diesem Flur, hilflos wie ein auf den Rücken gerollter Käfer, angsterfüllt, verzweifelt. Er sieht dich, ging es ihm durch den Kopf. Als er ein metallisches Klicken hörte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Es war das Geräusch einer Pistole, deren Hahn gespannt wurde. Er zielt auf dich, und schießt dir ins Gesicht.
Jacob schloss die Augen und hörte ein Poltern. Ein Schlag, ein Schrei. Ein schwerer Körper ging zu Boden.
»Schauen wir uns den Kerl an, Kid«, hörte er Einars Stimme.
Als der Fremde die Augen öffnete, blickte er auf die Spitze eines Bajonetts.
»Ich ramm' dir die Klinge in die Fresse, wenn du mich verarschen willst«, sagte Einar.
Jacob hielt eine Kerze in der Hand. In ihrem gelben Licht tanzten die Schatten an den Wänden des Treppenhauses. Noch immer zitterte er am ganzen Leib.
»Hör auf, herumzuzappeln«, sagte Einar zu ihm, dann wandte er sich wieder dem Fremden zu. »Ich weiß, dass du zum Spaß auf Leute schießt.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, bitte. Ich wollte mich hier nur umschauen.« Jacob betrachtete ihn. Sah so ein Mann aus, der ihn töten wollte? Was sagte dieses Gesicht? Jacob konnte darin keine Verachtung erkennen, keinen Hass. Da war nichts als Angst. Es war die Angst eines gewöhnlichen Mannes.
»Du trägst Soldatenklamotten«, sagte Einar.
Der Fremde grinste schief. »Du auch, Bruder.«
Einar schwieg. Jacob kaute auf seiner Lippe. Der Fremde hatte Recht. Sahen sie nicht alle wie Soldaten aus?
»Und wenn er die Wahrheit sagt?« Jacobs Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren.
Einar lächelte und schüttelte den Kopf. Er bewegte die Spitze des Bajonetts vor den Augen des Mannes hin und her. »Ich habe dich gestern gesehen. Du bist hier aus dem Haus spaziert, nachdem du geschossen hast.«
»Nein«, sagte der Fremde in flehendem Ton. »Du irrst dich. Das war ich nicht. Bitte. Ihr müsst mir glauben.« Tränen liefen über sein schmutziges Gesicht.
»Und was wolltest du mit der Pistole?«, fragte Einar.
»Ich ... ich hatte etwas gehört«, sagte er. »Ich dachte ... Heh, ich wollte mich nur schützen.«
Jacob rückte dicht an Einar heran. »Ich glaube ihm«, sagte er. »Lassen wir ihn laufen.«
Einar atmete tief durch. »Okay«, sagte er zu dem Fremden. »Zieh deinen Mantel aus.«
Der Mann erbleichte.
»Was hast du vor?«, sagte Jacob. »Willst du ihn ausrauben? Er ist einer von uns.«
»Halt's Maul, Kid. Einer von uns? Sicher nicht.«
Der Mann schälte sich aus dem Armeemantel. Noch immer glitzerten Tränen in den groben Zügen seines Gesichts.
»So«, sagte Einar. »Jetzt zieh das Hemd aus und zeig' unserem jungen naiven Freund hier deine Schulter.«
Die Worte fielen schwer wie Blei, es war, als rauschten sie aus großer Höhe herab in das schmutzige Treppenhaus. Ein kalter Glanz trat in die Augen des Fremden. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ausziehen«, wiederholte Einar. Der Mann knöpfte das Hemd auf und streifte es über die Schulter.
Jacob betrachtete den dunklen Fleck über der Brust des Fremden.
»Das kommt vom Rückstoß eines Gewehrs«, sagte Einar. »Viele Schützen haben so etwas.«
Jacob öffnete den Mund, aber er sagte nichts. Unwillkürlich klammerte er sich an Einars Arm.
»Okay, machen wir die Sache kurz«, sagte Einar zu dem Fremden. »Ich lasse dich laufen, wenn du mir sagst, wo du das Gewehr versteckt hast.«
»Du lässt mich laufen«, wiederholte der Mann mit einem höhnischen Lächeln.
»Ja«, sagte Einar. »Ich poliere dir die Visage, und dann lass ich dich laufen. Damit du deinen Leuten sagen kannst, was wir mit euch Heckenschützen machen.«
»Vergiss es.«
»Dann frisst du jetzt die Klinge«, sagte Einar. Er holte mit dem Bajonett aus. »Schau weg, Kid.«
»Okay, warte.« Das Gesicht des Fremden war kalkweiß. »Dachboden. Eine lockere Bohle unter dem letzten Fenster.«
Einar nickte. »Wir gehen jetzt zusammen da hoch. Wenn das Gewehr nicht da ist, schneide ich dir die Eier ab.«
Der Fremde schluckte. Jacob zitterte so sehr, dass das Wachs der Kerze auf seine Hände tropfte.
Einar tippte auf das Hämatom des Fremden. »Das sage ich nicht nur so. Ich schneide dir den Sack ab. Mit diesem Bajonett. Alles klar?«
»Dachboden, letztes Fenster«, wiederholte der Mann. In seinen Augen stand Todesangst.
Einar nickte. Mit einer schnellen Bewegung presste er eine Hand auf den Mund des Fremden und rammte die Klinge durch die Kehle des Mannes. Das Blut spritzte in weitem Bogen durch das Treppenhaus. Jacob wich entsetzt zurück. Im flackernden Licht der Kerze starrte er auf die grausame Szene. Er sah, wie das Blut schwarz an den Wänden herablief. Sah, wie die Hände des Fremden in die Luft griffen. Sah Einar, der noch ein, zwei Mal zustieß und dann die Klinge am Mantel des Toten abwischte.
»Warum ...«, keuchte Jacob. »Du wolltest ihn gehenlassen.«
Einar durchsuchte die Taschen des Mannes. Er steckte das Bajonett in seinen Gürtel, ergriff den Rucksack des Scharfschützen und sagte: »Holen wir uns das Gewehr.«
Jacob lag auf dem Bett und stöhnte. Er presste die Hände auf das Gesicht, doch er konnte die Bilder der letzten Nacht nicht vertreiben. Wieder und wieder rollte die Szene im Treppenhaus vor seinen Augen ab.
»Wie geht's dir?«, hörte er Emilys Stimme und fuhr herum.
Emily stand in der Tür. Ihr Gesicht war blass, Schatten lagen unter ihren Augen.
Jacob sprang auf und machte einen Schritt auf sie zu.
»Du bist zurück«, sagte er.
»Ja«, erwiderte sie und lächelte müde. »Wollte mich nicht anschleichen. Deine Tür stand offen, also ...«
»Komm rein«, sagte Jacob. »Bitte.« Er setzte sich auf die Pritsche und wischte mit dem Hemdsärmel über sein Gesicht. Emily trat ins Zimmer und setzte sich zu ihm.
»Hast du geheult?«
Jacob schüttelte den Kopf.
Emily griff in die Tasche ihres Mantels und holte ein Päckchen Tabak hervor. Jacob beobachtete, wie sie das Päckchen öffnete, Zigarettenpapier und etwas Tabak entnahm. Ein Duft, der von ihrem Haar auszugehen schien, breitete sich aus.
»Ich wär' schon eher gekommen«, sagte sie. »Aber am Fluss gab es Kämpfe. Ich musste warten.«
»Hm.«
»Wo kommst du eigentlich her, Jacob? Hast du mit deiner Familie hier in der Stadt gelebt?«
Jacob nickte.
»Und wo sind deine Leute jetzt?«, fragte Emily weiter.
»Weiß nicht«, sagte Jacob. »Wir haben uns verloren.«
»Verloren?«
»Ja. Wir wurden getrennt.«
Emily verteilte ein wenig Tabak auf dem Zigarettenblättchen. Jacob betrachtete ihre schlanken Hände, verfolgte, wie Emily den Tabak knetete und rollte. »Ihr wart auf der Flucht?«
Jacob nickte. »Ja, mein Vater wollte raus aus der Stadt.«
»Was ist passiert?«
»Wir waren im Zug, meine Eltern, meine Schwester und ich.«
Emily befeuchtete ihre Lippen. Sie leckte über die Klebefläche des Blättchens, drehte die Zigarette zwischen ihren Fingern, strich sie glatt und zupfte den überstehenden Tabak heraus.
»Nachts gab es einen Bombenangriff. Der Zug entgleiste. Alles brannte. Irgendjemand hat mich aus dem Abteil gezogen.«
Emily hielt inne. »Und du weißt nicht, was mit deinen Leuten geschehen ist?«
Jacob schüttelte den Kopf. »Ich hab sie gesucht, aber ...«
Emily griff in ihre Tasche und holte eine Schachtel Streichhölzer hervor. Sie steckte die Zigarette an und rauchte. »Und dann?«, fragte sie.
»Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte«, sagte Jacob. »Ein Mann nahm mich mit, zurück in die Stadt.«
Jacob schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Erst habe ich ein paar Monate bei einem alten Ehepaar in unserer Nachbarschaft gelebt. Später habe ich mich allein durchgeschlagen.«
»Naja, jetzt bist du nicht mehr allein«, sagte Emily.
Jacob räusperte sich. »Danke, dass du mich im Stahlwerk gerettet hast«, sagte er.
Emily nickte. »Die sind gelaufen, wie die Hasen. Unser altes Sturmgewehr hat sie beeindruckt.« Sie lachte. »Nur dich herzuschleifen war kein Spaß. Du konntest dich kaum auf den Beinen halten.«
Jacob rieb sich die Stirn. »Da war ein Schrei, bevor ich weggerannt bin. Hast du ...«
Emily saugte an ihrer Lippe. »Ja«, sagte sie. »Einar war noch mal da, um sich ein bisschen umzusehen. Er hat die Leiche eines Mädchens gefunden. Ich denke, sie haben sie beim Sammeln überrascht.«
Eine Weile schwiegen sie.
Dann sagte Jacob: »Ihr habt den Arzt für mich gerufen und du ...«
»Mach dir keine Gedanken, ich war nicht wegen dir bei ihm«, sagte Emily.
»Nein?«
»Er hat uns in den letzten Monaten so oft geholfen, auch mit Vorräten und Munition ...«
»Aber warum hast du ...« Jacob rieb sich über die Lippen und schwieg.
»Heh, Jacob, sieh mich an.« Jacob hob den Blick und sah in Emilys Augen.
»Wir werden das hier überleben«, sagte sie. »Das ist alles, was zählt.«
Sander entzündete die Petroleumlampe und stellte sie auf den Küchentisch.
»Ich habe mit Ivar gesprochen«, sagte er. »Die Partisanen geben uns zweihundert für das Scharfschützengewehr und noch ein paar Lebensmittel dazu. Wir sollen es ihnen in vier Tagen bringen.«
Einar rieb sich das Kinn. »Lass es uns behalten«, sagte er. »Unser altes Gewehr und die Pistole, die ich dem Sniper abgenommen habe. Das ist nicht viel. Wir haben zu wenig Waffen.«
»Vergiss nicht die Feueraxt«, sagte Sander lächelnd. »So weit ich mich erinnere, hast du damit zwei Plünderer erschlagen.«
Einar winkte ab. »Ich meine es ernst, Sander. Das Scharfschützengewehr könnte nützlich sein.«
Sander hob die Schultern. »Sehe ich auch so, aber wir haben nur zwei Patronen dafür. Du weißt, wie schwer die aufzutreiben sind.«
Einar schwieg.
»Was nutzt uns ein Gewehr ohne Munition?«
Einar nickte.
»Heute Nacht gehe ich raus«, fuhr Sander fort. »Jacob übernimmt den ersten Teil der Wache, Einar den zweiten. Emily schläft sich aus.«
Einar lachte auf. »Der soll allein Wache schieben?«
»Das schafft er schon. Erklär ihm alles. Gib ihm die Pistole.«
Einar schnalzte mit der Zunge. »Kannst du mit einer Waffe umgehen, Kid?«
Jacob schüttelte den Kopf.
»Zeig es ihm«, sagte Emily und schaute Jacob mit ihren dunklen Augen an. »Ich glaube, er lernt sehr schnell.«
Jacob spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
»Ich wollte heute die Brennblase holen«, beharrte Einar. »Wer weiß, wie lange die da noch im Keller liegt.«
»Ihr holt sie morgen.«
»Aber ...«
»Einar.« In Sanders Stimme lag keine Schärfe, doch ihre Kraft duldete keinen Widerspruch. »Du warst jetzt drei Nächte lang draußen. Zeig Jacob, wie man die Pistole abfeuert, und ruh dich aus.«
Einar hob die Schultern. »Ich hoffe, er schießt sich nicht ins Knie.«
Gegen Mitternacht beschloss Jacob, Tee zu kochen. Emily hatte ein paar Vorräte mitgebracht, vor allem Konserven und ein wenig Schokolade. Auch etwas Schwarzer Tee war dabei.
Er legte die Pistole auf den Küchentisch und entzündete den kleinen Benzinkocher, den er statt des Kochherds benutzen sollte, goss Wasser in den Topf und lauschte. Wacheschieben bedeutete genau dies: Lauschen. Zu sehen gab es nichts. In den ersten zwei Stunden war Jacob in den unteren Etagen von Raum zu Raum gegangen, doch das machte nicht viel Sinn.
Einar hatte ihm erklärt, wie Plünderer vorgingen, wenn sie ein bewohntes Haus überfielen. Meist hebelten sie im Erdgeschoss ein vernageltes Fenster auf. Sie kamen selten durch die Tür.
»Also setz dich irgendwo ins Treppenhaus, Kid. Sperr die Löffel auf. Wenn sie kommen, kommen sie durch die Fenster im Parterre!«
Wie in jeder Nacht rollte der Donner der Artilleriegeschütze. Im Topf siedete das Wasser, und Jacob brühte Tee auf. Er setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und betrachtete die Pistole, deren Metallverschluss im Licht der Petroleumlampe glänzte.
»Du führst die Waffe geladen, gespannt und gesichert, Kleiner. Wenn du schießen willst, darf du nicht vergessen, den Sicherungshebel zu drücken.«
Einar hatte ihm auch die schwere Feueraxt gezeigt, die in einer Wohnung des zweiten Stocks bereit lag, um Eindringlinge zurückzuschlagen. Doch Jacob bezweifelte, dass er dazu in der Lage war, mit dieser unhandlichen Waffe zu kämpfen.
Wie mochte es sich anfühlen, Einar zu sein? Wie er durch diese Welt zu gehen? Als Krieger. Als Mörder. Jacob dachte daran, dass auch Emily einen Mann getötet hatte. Aber das hatte sie getan, um ihn zu retten. Ob auch Sander getötet hatte?
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. Ein Geräusch im Treppenhaus riss ihn aus den Gedanken. Er sprang auf, griff die Pistole und schlich zur Küchentür hinaus. Er lauschte. Irgendwo im Hausflur knarrten die Dielen. Jacob entsicherte die Pistole und wartete. Minuten vergingen. Er atmete durch. Er spähte durch die offenstehende Wohnungstür, trat in das Treppenhaus und schaute sich um. Nichts.
Er kehrte in die Küche zurück, ergriff die Petroleumlampe und ging im Erdgeschoss von Wohnung zu Wohnung. Nichts.
Obwohl der Ausbruch des Krieges viele Monate zurücklag, wurde ihm erst jetzt bewusst, dass die Welt seiner Kindheit verloren war. Irgendwie, er hätte es nicht genau erklären können, hatte er an der Vorstellung festgehalten, dies alles - der Krieg, die Zerstörung, die Schreie und die Leichen auf den Straßen - dies alles wäre eines Tages fort. Fort und vergessen, als wäre nichts davon geschehen. Mila, seiner Schwester, wäre wieder da und auch seine Eltern. Sie würden wieder in ihrem Haus leben. Doch das stimmte nicht.
Er setzte sich an den Esstisch, sicherte die Waffe und nippte an seinem Tee. Er fühlte den Luftzug, der durch die Küche strich und dann hörte er ein Seufzen, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Jacob wagte nicht, sich zu rühren.
Die Flamme im Brenner der Lampe züngelte über dem Docht. Jacob hob den Glaszylinder und blies sie aus. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erhob er sich und schlich aus der Wohnung. Im diffusen Rest des Mondlichts, das in den oberen Etagen durch die Fenster fiel, stieg er die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. Eine Wohnungstür stand offen. Jacob trat in den Korridor, und da war es wieder. Aus einem der Zimmer drang ein Seufzen, ein Aufstöhnen, ein erstickter Schrei.
Jacob schluckte. In seinem Kopf war Leere, in seinen Füßen Blei. Lautlos näherte er sich dem Zimmer. Die Waffe lag schwer in seinen Händen. Er drückte den Pistolenlauf gegen die Tür, ein schwacher Lichtschein fiel in den Flur.
Jacob öffnete die Tür noch ein wenig mehr, nur einen Spaltbreit ... Beinahe wäre die Pistole aus seinen Händen geglitten. Im sanften Schimmer einer Kerze bog sich Emilys nackter Körper unter Einars Händen. Der Riese saß auf einem Stuhl, der Tür den mächtigen Rücken zugewandt. Emily ritt auf seinen Schenkeln, sie schlang die Arme um seinen Nacken, küsste seine Brust, leckte seinen Hals.
Jacob ließ die Waffe sinken. Atemlos stand er da und starrte auf Emily, die in den Armen des Hünen zart und zerbrechlich wirkte. Doch sie ritt Einar wie einen Bullen. Ihre Finger krallten sich in seine Schultern. Ihre Hüften kreisten wild, ihre Brüste wippten auf und ab. Einar ächzte, er walkte und knetete Emilys weißen Leib. Sein Atem ging in schweren Stößen. Der Stuhl unter ihm knarrte.
Jacob betrachtete Emilys Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund halb geöffnet. Ihre Lippen formten Worte, die er nicht verstand. Was auch immer sie jetzt fühlte, Jacob wünschte ... Emily schlug die Augen auf, und ihre Blicke begegneten sich.
Es war, als hätte ihn erneut ein Bolzen getroffen. Emilys Blick brannte sich in seinen Schädel, durch seine Brust, seine Eingeweide. Er wich zurück, eilte durch den Flur, das Treppenhaus hinab und hockte sich mit klopfendem Herzen im Erdgeschoss neben die Haustür.
Einar zog sich das Tuch vor das Gesicht und öffnete die Tür. Jacob taumelte zurück. Der Verwesungsgestank betäubte ihn.
»Schnell rein, schnell raus«, sagte Einar. »Ich habe die Brennblase schon demontiert. Wir schnappen uns das Ding und sind weg.«
Jacob presste den Ärmel seiner Jacke vor Mund und Nase und stolperte hinter Einar durch den Flur der Villa.
»Hier entlang«, sagte Einar und stieß die Kellertür auf. »Zünde die Kerze an. Kleb' sie auf das Geländer, damit wir was sehen beim Schleppen.«
Die Kupferbrennblase mochte zwei Zentner wiegen, und obwohl Einar über Bärenkräfte verfügte, war es eine erbärmliche Schinderei, den Kessel die Kellertreppe hinauf zu tragen.
»Lass uns das Ding kurz hier absetzen«, sagte Einar, als sie den Treppenabsatz erreichten. »Ja, so ist es gut.«
Jacob rieb sich die Schultern. »Ist verdammt schwer, das Teil.«
Einar nickte. »Und verdammt wertvoll für uns.«
»Was ist mit den Leuten hier passiert?«
»Sie wurden umgebracht«, sagte Einar. »Und jetzt verfaulen sie, wie all die anderen Toten in dieser Stadt. Los, lass uns weitermachen. Der Gestank bringt mich um.«
»Ich will sie sehen«, sagte Jacob.
Einar schüttelte den Kopf. »Nein, Kid. Das willst du nicht. Los, machen wir, dass wir hier rauskommen.«
Jacob bewegte sich nicht. »Erst will ich sie sehen.«
»Meine Fresse«, sagte Einar und kratzte sich am Nacken. »Vor zwei Tagen, da hast du dir die Hosen bepisst, und heute willst du die volle Horrorshow?«
Jacob nickte.
»Okay«, sagte Einar. »Aber erst schleppen wir das Ding rauf.«
»Nein«, sagte Jacob. »Ich weiß, wie du deine Versprechen hältst.«
Einar betrachtete ihn einen Moment lang. »Also gut«, sagte er schließlich. »Wie du willst.«
Jacob folgte Einar in den ersten Stock, in der Hand hielt er die brennende Kerze.
»Was du jetzt siehst, Kleiner, wirst du dein Leben lang nicht vergessen. Du wirst es nicht verstehen, deshalb erkläre ich es dir. Hier entlang.« Einar deutete auf einen großen Raum, den Salon des Hauses.
»Siehst du all die Bilder an den Wänden, Kid, die Vorhänge an den Fenstern?«
Jacob kämpfte gegen den Würgereiz, der Gestank war unerträglich.
»Die Leute hier sind seit Tagen tot, aber es wurde nicht viel gestohlen«, sagte Einar. »Und gleich wirst du wissen, warum.«
Im zuckenden Schein der Kerze trat Jacob hinter Einar in den Salon.
In der Nähe der Fenster, zehn oder zwölf Schritte entfernt, lagen fünf enthauptete Leichen. Wahrscheinlich hatten die Mörder ihnen die Köpfe auf den Bauch gelegt, denn zwei der Schädel ruhten eingesunken im weichen Gewebe unter den blanken Rippenbögen. Die drei anderen Köpfe lagen neben den Toten.
Jacob trat etwas näher und betrachtete die Leichen. »Sie bewegen sich!«, stieß er hervor.
Einar schüttelte Kopf. »Sieh' genau hin.«
Das Pulsieren der unbekleideten Leiber rührte von Tausenden dicker Maden her. Sie wimmelten und brodelten im toten Fleisch.
Jacob spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten, Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Das Ehepaar hatte zwei Töchter und einen Sohn«, sagte Einar. »Geh näher ran.«
Jacob machte noch einen Schritt, hob die Kerze und betrachtete einen der abgetrennten Köpfe. Er gehörte einem der Mädchen, Jacob erkannte das blonde, zu Zöpfen gebundene Haar. Das Gesicht wirkte schrecklich entstellt. Es sah aus, als streckte die Tote ihm mit einem furchtbaren Grinsen die Zunge entgegen. Doch, Moment ...
Jacob stieß einen Schrei aus. Er fuhr herum und prallte gegen Einar, den Hünen. Er ließ die Kerze fallen, klammerte sich an Einar fest und schrie. Finsternis umfing sie.
»Sie haben die Frau, die Mädchen und den Jungen vergewaltigt«, sagte Einar in die Dunkelheit hinein, und Jacob schrie. Tränen flossen heiß an seinen Wangen herab.
»Sie haben dem Mann und dem Jungen die Schwänze abgeschnitten und den Mädchen in den Mund gestopft.« Einars tieftönende Stimme erfüllte den Raum. Jacob presste sich an ihn und hörte, wie sie im Inneren des Riesen widerhallte. Er wimmerte, biss sich auf die Lippen.
»So bestrafen sie alle, die den Partisanen helfen«, sagte Einar. »So zeigen sie uns, dass man uns das Maul stopfen wird, wenn wir mit den falschen Leuten reden. Und deshalb meiden Plünderer das Haus. Vorerst.«
Nachdem sie den Brennkessel auf den Handkarren gewuchtet hatten, nahm Einar das Tuch vom Gesicht und steckte sich eine Zigarette an. »War 'ne bescheuerte Idee von dir, Kid.«
Jacob schwieg, und als Einar den Karren anzog, half er, indem er den Brennkessel in Balance hielt.
»Das ist die Welt, in der wir leben«, sagte Einar. »Deshalb musst du lernen, wie man kämpft, wie man schießt, wie man eine Handgranate wirft.«
Einar blieb stehen. Jacob sah ihn aus geröteten Augen an.
»Das war der Zorn des Ares, Kleiner. Er ist der verfickteste, blutrünstigste Gott im ganzen Olymp. Der Gott des Massakers, des Schlachtens und Metzelns.«
Einar zog an seiner Zigarette. »Und das hier«, er machte mit den Armen eine Geste, die die ganze Stadt einschloss, »das hier ist sein verdammter Spielplatz.«
Jacob trat in die Küche. »Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte er.
»Sicher«, sagte Emily.
Sie hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und rauchte. Das Licht der Petroleumlampe zeichnete einen harten Schatten auf die linke Seite ihres Gesichts.
»Lass mich mal ziehen«, sagte Jacob.
Emily strich etwas Asche am Rand der Blechbüchse ab, die neben ihr am Boden stand. Sie streckte den Arm aus und hielt Jacob die Zigarette hin. »Nimm sie, ich dreh mir eine neue.«
Jacob nahm die Zigarette und stand einen Moment lang unschlüssig in dem kahlen Raum.
»Was ist?«, sagte Emily und lachte. »Weißt du nicht, ob du dich aufs Sofa oder in den Sessel setzen sollst?«
Jacob rückte den Küchenschemel unter dem Tisch vor und setzte sich. Er zog an der Zigarette und paffte den Rauch hinauf zur Decke.
»Warum haben wir eigentlich nur so wenige Möbel?«, fragte er.
»Das meiste Holz brauchten wir für die Sicherung der Fenster«, antwortete Emily. Sie zog ihr Tabakpäckchen aus der Manteltasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Wir haben auch eine ganze Menge verfeuert.«
»Wenn der Winter kommt, brauchen wir einen guten Ofen«, sagte Jacob und rauchte. »Dieser Kochherd da taugt nicht viel.«
»Mir wird übel, wenn ich daran denke, den Winter in dieser Stadt zu verbringen«, sagte Emily.
»Du könntest die Stadt verlassen. Viele Leute sagen, weiter oben an der Grenze ist nicht so schlimm.«
Emily schüttelte den Kopf. »Ich bleibe mit Sander und Einar zusammen.«
»Hm.«
»Und du? Warum haust du nicht ab?«
Jacob strich mit der Handfläche über den Tisch.
»Meine Eltern«, sagte er. »Mila, meine Schwester. Wenn sie zurückkommen ...«
Emily betrachtete ihn lange.
»Naja«, sagte sie schließlich und zeigte auf den eisernen Herd. »Also den haben wir aus einem Nachbarhaus rüber geschleppt.«
Jacob sah auf. »Mit ein bisschen Schrott könnte ich einen besseren bauen.«
Emily nickte. »Ich habe gesehen, dass du im Keller mit dem Gestell für den Brennkessel angefangen hast.«
»Wäre toll, wenn ich es schweißen könnte, aber es wird auch so gehen.«
»Du kannst schweißen?«
»Hat mir mein Onkel beigebracht.«
»Schweißer scheint mir kein typischer jüdischer Beruf zu sein.« Emily lachte wieder und Jacob betrachtete ihre schönen Zähne.
»Er war Lehrer«, sagte Jacob. »Schweißen war nur so ein Hobby.«
Einen Augenblick lang wirkte es, als wollte Emily eine Frage stellen, doch dann steckte sie ihre Zigarette an und schwieg.
»Mit der Brennanlage könnte ich in zwei, drei Tagen fertig sein«, sagte Jacob, erhob sich und machte ein paar Schritte durch den Raum. Er öffnete die Feuerklappe des Kochherds und warf die Zigarettenkippe hinein.
»Wollen wir ein bisschen einheizen?«, fragte er.
Emily schaute ihn an und überlegte, als hätte er sie vor ein schwieriges Problem gestellt.
»Klar«, sagte sie dann, nahm einen Zug von ihrer Zigarette und blies langsam den Rauch aus. »Mach mal.«
Als das Feuer im Herd knackte, drehte Jacob den Docht der Petroleumlampe ein wenig herunter. Rötliches Licht erfüllte den Raum.
»Jetzt können wir auf der Herdplatte auch Tee kochen.«
»Du vergisst aber nicht, dass ich hier Wache schiebe, ja?«, sagte Emily. Sie drückte die Zigarette in der Blechbüchse aus.
Als der Tee fertig war, reichte ihr Jacob eine dampfende Tasse und hockte sich neben sie.
»Ich hab das von letzter Nacht gehört«, sagte Emily und blickte Jacob an.
»Hm.«
»Sagst du mir, warum du die Toten sehen wolltest?«
Jacob hob die Schultern und öffnete den Mund. Aber dann schwieg er.
»In allen Straßen liegen Leichen«, sagte Emily. »Also, warum diese?«
»Ich hab mir die Toten nie genau angeschaut«, sagte Jacob.
»Aber gestern wolltest du es?«
»Ja, wurde Zeit.«
»Es wurde Zeit? Warum?«
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. »Ich bin kein Kind mehr«, sagte er schließlich. »Ich bin ein Mann.«
Emily lächelte. Sie trank. »Willst du über die vorletzte Nacht sprechen, als du Einar und mich gesehen hast?«
Jacob nagte an seiner Lippe und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Wie habt ihr euch kennengelernt, also, ihr drei?«
Emily betrachtete ihn einen Moment lang schweigend. Sie räusperte sich und sagte: »Sander und Einar kannten sich schon, als ich ihnen über den Weg gelaufen bin. Ich suchte Schutz und die beiden suchten ... Wir passten gut zusammen.«
»Ich verstehe nicht, wieso Einar Sanders Befehlen gehorcht.«
Emily lachte. »Ja, das ist schräg.«
»Erklär es mir.«
Es wurde warm in der Küche. Emily stellte die Tasse auf den Boden. Sie wand sich aus ihrem Mantel und raffte ihr Haar im Nacken zusammen. Jacob beobachtete sie.
»Einar ist von diesen griechischen Mythen besessen«, sagte Emily.
»Habe ich gemerkt.«
»Ja, und da gibt es zwei Helden, die sind genau nach seinem Geschmack. Ajax und Achill.« Sie zog ein Tuch aus der Seitentasche ihrer Tarnhose und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz.
»Unter den Sterblichen gab es keinen Krieger wie diese beiden.« Emily lächelte. »Blutrünstig waren die, die übelsten Schlächter unter dem Himmel. Killer mit sengendem Blick und schwarzen Lippen.«
Irgendwo vor dem Haus peitschten drei, vier Schüsse durch die Nacht.
Jacob und Emily lauschten.
Im Ofen knisterte das Feuer. Jacob betrachtete Emilys Gesicht. Er folgte der feinen Linie, die von ihrem Kinn abwärts führte.
»Aber da gab es noch einen anderen«, fuhr Emily fort. »Odysseus hieß der.«
»Ich kenne Odysseus«, sagte Jacob und verzog das Gesicht. Er lachte.
»Naja, der Typ war ja auch ein Krieger«, sagte Emily. »Aber er war vollkommen anders als Ajax und Achill.«
»Ja?«
Emily ergriff ihre Tasse und führte sie zum Mund. Jacob beobachtete, wie sie die Lippen befeuchtete und trank.
»Der Typ«, sagte Emily, »war schlau. Mehr als schau. Vielleicht war er sogar weise, keine Ahnung. Er besiegte seine Feinde mit List.«
»Und was hat das mit Einar und Sander zu tun?«
Emily hob die Schultern. »Einar hält sich für Achill und Sander ...«
»Er hält Sander für Odysseus?« Jacob schüttelte den Kopf und lachte.
»Einar sagte mal zu mir, Ajax und Achill hätten auf Odysseus hören sollen. Sie starben, weil sie zu stolz waren, dem Klügeren zu folgen.«
»Naja«, sagte Jacob. »Es scheint ja zu funktionieren.«
Emily lachte. »Du glaubst nicht, was zwischen den beiden manchmal los ist. Aber am Ende wird immer gemacht, was Sander sagt.«
»Und du? Was denkst du?«
»Hm?«
»Hältst du Sander auch für Odysseus?«
Das Lächeln verschwand aus Emilys Gesicht. Sie stellte die Teetasse ab und richtete sich auf.
»Keine Ahnung ...« Sie strich eine Haarsträhne zurück und presste die Lippen zusammen. »Hör mal. Es ist spät. Geh schlafen, damit du nachher fit bist, wenn ich dich wecke.«
»Was ist los?«, fragte Jacob.
»Nichts. Da gibt's nur nichts zu sagen. Sander ist Sander.«
»Versteh ich nicht.«
Emily fuhr sich durch das Haar und hob die Hände. »Okay, es reicht jetzt«, presste sie hervor. »Geh schlafen, Kleiner. Zeit fürs Bettchen.«
Jacobs Züge wurden hart.
»Ist es, weil du ihn auch fickst?«
Emily starrte ihn böse an.
»Wovon redest du?«
»Sander. Fickst du ihn auch?«
»Sander? Der würde mich umbringen.«
Jacob wusste nicht, was er sagen sollte.
»Hör zu, Jacob. Hau jetzt ab. Ich brauche Ruhe und du auch.«
Jacob erhob sich. Er stellte seine Tasse auf den Tisch. Einen Moment lang stand er da und schaute Emily an. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.
Einar schleuderte den leeren Blechteller auf den Tisch und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Phantastisch«, sagte er. »Ich liebe Dosenfleisch und danke Gott für jeden Tag, an dem ich keine Ratte fressen muss.« Er hob die Arme und rülpste.
Emily verdrehte die Augen und schob das Geschirr zusammen. »Sind die Herren fertig? Darf ich abräumen?«
Das Donnern der ersten Geschütze begann.
Sander strich sich über den Bauch. »Lass mal«, sagte er. »Ich mach heute Küchendienst.«
Jacob schaute zu Emily hinüber. Sie hockte sich auf den Blechzuber und starrte auf die Spitzen ihrer Stiefel.
»Einar und ich übernehmen heute die Wache«, sagte Sander. »Emily und Jacob, ihr geht raus.«
»Wie lief es gestern Nacht?«, fragte Emily. »Habt ihr Beute gemacht?«
»Nur ein bisschen Munition und ein paar Blendgranaten«, sagte Sander.
»Aber wir haben einen Tipp bekommen, wo wir Zucker und Hefe abstauben können«, sagte Einar.
Sander nickte. »Das ist eure Aufgabe heute Nacht. Ihr habt noch zwei Stunden zum Ausruhen. Haut euch aufs Ohr. Nachher erkläre ich euch alles.«
»Das schaffe ich auch allein«, sagte Emily. »Jacob sollte weiter an der Brennanlage arbeiten.«
Sander schüttelte den Kopf. »Nein, ihr geht zu zweit.«
Emily erhob sich. »Fein«, sagte sie und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.
Emily schaute durch das Glas ihres Gewehrs. Eine Strähne ihres Haars tanzte wie eine Schlange im Wind.
Sie setzte die Waffe ab. »Ich sehe nichts«, sagte sie, »aber irgendetwas stimmt nicht.«
Jacob schaute sich um. Sie hockten im Schutz einer Hauswand, die Straße vor ihnen schien menschenleer. Es war eine sternenklare Nacht, das Schwert des Orion leuchtete inmitten der Schwärze des Alls.
»Riechst du das?«, sagte Emily. »Was ist das?«
Jacob wollte etwas sagen, da zerriss eine Explosion die Luft. Der Boden unter ihren Füßen bebte. Ohrenbetäubendem Donnern folgte eine eine gewaltige Druckwelle. Sie jagte in einer Staubwolke heran, die Häuser erzitterten.
Emily hustete. Sie deutete mit der Hand die Straße entlang und rief Jacob zu: »Die ist da vorn eingeschlagen. Lass uns schauen, ob Leute verletzt wurden.«
Sie rannten los, sprangen über Schutt und aufgerissenen Asphalt, bogen um eine Häuserecke. Rauch biss in ihre Kehlen. Emily stoppte abrupt, Jacob prallte gegen sie und sah ... Jacob begriff nicht, was er da sah.
»Beweg dich nicht«, sagte Emily. Sie ließ die Waffe sinken.
Die Hitze verschlug Jacob den Atem. Er stand starr, blinzelte, hob die Hand über die Augen. Im flackernden Schein der brennenden Häuser bewegte sich die seltsamste Prozession, die er je gesehen hatte. Zwischen qualmenden Trümmern gingen Dutzende nackter Männer und Frauen. Ihre Körper waren mit weißer Asche bestäubt, ihre Lippen schwarz gefärbt. Rußflocken wirbelten durch die Luft.
An der Spitze des Zuges schritt eine hochgewachsene Frau. Sie trug ein Sturmgewehr in den Händen, bunte Tücher und Reiherfedern schmückten ihr langes Haar, eine Kette aus Patronenhülsen schwang zwischen den Brüsten. Ihr folgte eine gehörnte Gestalt, Mann oder Frau war ungewiss. Ein kolossales Cape umhüllte sie. Nur die Büffelhörner waren deutlich zu erkennen.
»Fuck«, sagte Emily. »Das sind Sanders Leute.«
Jacobs Lippen öffneten sich. Er schaute zu Emily und dann wieder zu dem Menschenzug, wo sich die Anführerin jetzt ihnen zuwandte und einen Arm hob. Die Prozession stoppte.
»Scheiße«, sagte Emily. »Wir sind erledigt.«
Die Anführerin drehte sich zu der Gestalt mit den Büffelhörnern um und neigte ihren Kopf. Es wirkte, als ob sie miteinander sprachen, doch die Lippen der Frau bewegten sich nicht.
»Lass uns abhauen«, sagte Jacob. Sein Blick glitt über die Menschenmenge. Einige der Männer und Frauen trugen Gewehre. Äxte und Speere zitterten in der Luft.
»Keine Chance«, sagte Emily tonlos. »Drehen wir uns um, sind wir tot.«
Der Blick der Anführerin richtete sich wieder auf sie. Sie streckte ihnen den Arm entgegen.
»Komm«, sagte Emily.
»Bist du verrückt?«
»Es geht nicht anders.«
Jacob folgte Emily. Er stemmte sich gegen die Hitze, gegen die Angst in seinem Herzen. Sie traten vor die Führerin des Zuges. Die Frau schaute schweigend auf sie herab. In ihrem weißen, aschebestäubten Gesicht regte sich nichts. Hart blickten ihre schwarz umrandeten Augen, weit hob und senkte sich ihre nackte Brust.
Sie bleckte die Zähne und schwenkte das Gewehr. Emily wich zurück, Jacob stockte der Atem.
»Heute Nacht gehören die Straßen uns«, sagte die Frau. Sie sprach mit der Stimme eines Mannes.
Ganz in der Nähe brach der Dachstuhl eines Hauses zusammen. Funkenregen ging auf die Straße nieder.
»Verlasst diesen Ort. Hier gibt es nur den Tod für euch.«
Noch einmal entblößte sie ihr Gebiss, dann hob sie das Kinn.
»Komm«, sagte Emily und packte Jacob am Arm.
Sie wandten sich um und liefen los. Jacob spürte den Blick der Frau im Rücken.
»Nicht umdrehen«, sagte Emily. »Drehst du dich um, sind wir tot.«
Etwas knarrte, und Jacob fuhr hoch.
Emily stand in der Tür. Sie hielt die Petroleumlampe in der Hand.
»Mach dich bereit«, sagte sie. »Wir müssen los.«
Emily hatte kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Schweigend waren sie in die Nacht aufgebrochen, schweigend erreichten sie das verfallene Haus am Hafen, wo ein Schwarzmarkthändler seine Geschäfte trieb. Jetzt, auf dem Rückweg, hielt es Jacob nicht mehr aus.
Er packte Emily am Handgelenk. »Ich will nicht, dass wir uns streiten«, sagte er.
Emily schaute ihn an. »Okay«, sagte sie. »Und jetzt lass mich los. Wir müssen weiter.«
Ein wenig später waren im morgendlichen Dunst bereits die Konturen ihres Hauses auszumachen. Das Licht der aufgehenden Sonne warf einen orangefarbenen Schimmer über die zerstörte Stadt.
»Du hast mich nach Sander gefragt«, sagte Emily. »Er ist der Teufel.«
Sie blieb stehen. »Und wir brauchen ihn.«
Jacob schaute sie an. Sie hielt das Gewehr vor der Brust und suchte mit dem Blick die Straße ab.
»Guck nach vorn«, sagte sie und ging weiter. »Hier könnte jederzeit ...«
Ein Schlag traf Jacob seitlich am Kopf. Seine Knie knickten ein, er stürzte. Einen Moment lang verdunkelte sich Welt. Er hörte, wie Emily schrie. Ein Stiefeltritt warf ihn auf den Rücken. Als er aufblickte, starrte er in den Lauf einer Schrotflinte.
»Wenn wir mit der Fotze fertig sind, bist du dran, Jungchen«, sagte der Mann hinter der Flinte und setzte Jacob den Stiefel auf die Brust.
Jacob dröhnte der Schädel, Blut lief heiß über seine Wange.
»Fick dich, Perkov«, hörte er Emilys heisere Stimme und drehte den Kopf.
Es waren vier oder fünf Männer. Sie hatten Emily Mantel und Hemd heruntergerissen und zielten mit ihren Waffen auf sie.
»Du weißt, wer ich bin?«, sagte einer der Männer. Er trug einen schäbigen Ledermantel, eine breite Narbe lief quer über sein Kinn.
Perkov lachte, und seine Männer lachten mit ihm. Er löste das Schloss seines Koppels und öffnete den Mantel.
Jacob schaute die Straße hinab. Dort, keine dreihundert Meter entfernt, warteten Einar und Sander auf sie.
Der Schlag einer flachen Hand klatschte. Jacob blickte zu Emily. Sie stand wankend zwischen den Männern, mit blutenden Armen schützte sie ihre nackte Brust. Dunkel sickerte ein Rinnsal aus einer Wunde über ihrer Stirn.
Perkov richtete die Pistole auf Emily. »Komm her«, sagte er, während er seine Feldhose aufknöpfte. Einer der Männer trat ihr in die Beine, packte sie bei den Haaren und stieß sie vor Perkov auf die Knie. »Mach den Mund auf, Nutte.«
Emily spuckte auf den Boden, doch der Mann hinter ihr riss ihren Kopf zurück. Sie starrte Perkov in die Augen und presste die Lippen zusammen.
Jacob wollte sich abwenden, doch die Mündung des Flintenlaufs bohrte sich in seine Wange. »Nicht doch, Süßer. Du verpasst was.«
In einem der Fenster am Ende der Straße, dort wo im vierten Stock ihres Hauses die Wasserdestille stand, blinkte eine Reflektion.
Perkov strich mit dem Lauf der Pistole über Emilys Wange. »Mund auf«, sagte er.
Emily schloss die Augen.
Ein ungeheurer Knall peitschte durch die Straße. Als hätte etwas von der Größe einer Faust sein Gesicht durchschlagen, platzte Perkovs Kopf. Das Echo des Schusses hallte von den Häuserwänden wider. Die Pistole in der Hand schwankte Perkovs Körper vor und zurück, und noch ehe er auf den Boden schlug, krachte ein zweiter Schuss. Ein Blitz zuckte und alles versank in gleißender Helle.
Schüsse, Schreie, dann Einars Gebrüll. Jacob sah die Gestalt des Riesen, mit einer Axt hieb er auf seine betäubten Gegner ein.
»Emily!«, rief Jacob. Er rollte sich herum und kroch über die Straße.
»Hier, Jacob. Ich bin okay.«
Sie saß benommen auf dem schmutzigen Asphalt - das Haar verklebt, Gesicht, Brust und Schultern schwarz von Perkovs Blut. Jacob legte die Arme um sie, zog sie an sich heran. Einen Moment lang saßen sie so da, hörten die Schreie, hörten wie Einars Axt Knochen und Schädel zertrümmerte - Achill schlachtete seine Feinde. Dann Stille.
Einar trat zu ihnen.
»Gehen wir heim«, sagte er.
Emily nannte ihn Moonshine, aber dieser Alkohol war nicht mit dem üblichen Fusel zu vergleichen, der in der Stadt als Tauschmittel diente. Jacob hatte die Destille im Keller fertiggestellt und nach Sanders Anweisungen in mehreren Durchgängen etwas Hochprozentiges gebrannt.
Seit der Dämmerung saßen sie zusammen in der Küche und feierten, obwohl es nicht viel zu feiern gab. Emily hielt Sander immer wieder ihre Tasse hin und er goss nach. Einar und Jacob tranken aus Teebechern, Sander aus einem gesprungenen Whiskeyglas. Im Kochherd knisterte ein Feuer. In dieser Nacht würde niemand das Haus verlassen.
»Ich habe den Partisanen heute das Gewehr gebracht«, sagte Sander. »Lief alles, wie verabredet.«
Einar nickte. »Ein Jammer«, sagte er.
Jacob dachte an Perkov und an Sanders Schuss.
»Wo hast du das gelernt«, fragte er. »Ich meine, so zu schießen.«
Sander winkte ab. »Hab doch schon gesagt, es war viel Glück dabei.«
Einar lachte auf. »Ja, genau. Wie beim zweiten Schuss.«
Lange vor Mitternacht waren sie alle betrunken.
Sander saß neben der Tür am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und schlief. Emily konnte sich kaum noch auf dem Blechzuber halten. Jacob hockte neben Emily und versuchte Einar zu folgen, der vom Tisch aus auf ihn einredete.
»Er fließt unter der Erde«, sagte Einar. »Sein Wasser ist schwarz.«
»Unter der Erde?«
»An seinem Ufer stehen die Menschen und warten.«
Jacob trank. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber es machte ihm nichts mehr aus. Emily hatte sich an ihn gelehnt. Ihr Atem strich über seinen Hals.
»Worauf warten diese Menschen?«, fragte Jacob.
»Sie warten auf Charon, den Fährmann«, sagte Einar.
Jacobs Blick fiel auf Sander. Im Schein der Petroleumlampe wirkte es, als bewegten sich seine Augen unter den geschlossenen Lidern.
»Er bringt die Menschen in die Unterwelt«, sagte Einar.
»Versteh ich nicht«, sagte Jacob.
Einar schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Emily schreckte hoch.
»Die Sache ist die«, sagte Einar. »Die Menschen sind tot, aber sie wissen es nicht. Sie verstehen nicht ... dass ...«
Er hatte Mühe zu sprechen, nahm einen Schluck aus seinem Becher und atmete geräuschvoll aus. Dann sagte er: »Die Überfahrt ist nur der letzte Akt, verstehst du? Aber sie glauben es nicht.« Er sank auf den Tisch. »Sie wissen nicht, dass sie tot sind«, wiederholte er und schlief ein.
Einars letzter Satz hallte in Jacobs Kopf nach.
»Komm«, sagte Emily, erhob sich und zog ihn hinter sich her. Sie griff nach einer ungeöffneten Flasche Moonshine, die auf dem Tisch stand. »Die nehmen wir mit.«
Jacob ließ sich von Emily nach oben in ihr Zimmer führen.
»Zieh dich aus«, sagte sie und entzündete zwei Kerzen, die auf einem Tisch neben dem Bett standen.
Jacob rührte sich nicht. Er fühlte sich schlagartig nüchtern und blickte im Raum umher.
»Mach schon«, sagte Emily lächelnd. Sie öffnete die Feuerklappe des Ofens und legte ein paar Scheite Brennholz in die Glut. Sogleich begann es, im Ofen zu knacken.
Jacob entkleidete sich, warf Hemd und Hosen auf den Boden.
»Zieh alles aus«, sagte Emily. Sie löste den Verschluss des Moonshine und setzte die Flasche an die Lippen. Sie trank einen Schluck, und als Jacob nackt vor ihr stand, stellte sie die Flasche auf den Tisch.
»Setz dich auf den Stuhl dort.«
Jacob dachte an die Nacht, in der er Emily und Einar beobachtet hatte. Emily öffnete ihr Hemd und löste das Koppelschloss ihrer Feldhose. Im Gegenlicht der Kerzen umgab sie eine schimmernde Aura.
Jacob machte ein paar Schritte durch den Raum und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand.
»Schau mich an, Jacob«, sagte Emily und streifte das Hemd über ihre Schultern.
Jacob blickte in ihre Augen. »Du bist ... sehr schön«, sagte er.
»Schau meinen Körper an«, sagte Emily. Sie ließ all ihre Kleider auf den Boden fallen und stand still da. Ihre helle Haut schimmerte im rötlichen Schein der Kerzen. »Möchtest du, dass ich zu dir komme?«
Jacob nickte.
Emily trat vor ihn, so dicht, dass er den Duft ihres Körpers wahrnahm. Er schaute zu ihr hinauf, versuchte in ihren Augen zu lesen. Sie legte die Hände auf seine Schultern, und die Berührung durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag.
Emily streichelte Jacobs Arme, seine Brust. Sie schmiegte sich an ihn, küsste seine Wange, seine Lippen, seinen Hals.
Dann hockte sie sich vor ihn, strich mit den Händen über seinen Bauch, seine Schenkel. Sie hielt inne, blickte zu ihm herauf und sagte nichts. Jacob schluckte, er spürte das Beben seines Körpers, spürte seine schweißnassen Hände.
Er blickte in Emilys Augen, versank in ihrem Glanz, ihrer dunklen Tiefe.
Emily umfasste seine Hüfte und zog ihn ein wenig zu sich heran. Jacob fühlte den Hauch ihres Atems.
Emilys Blick strich langsam über seinen Hals, abwärts über seine Brust und immer weiter hinab. Dann betrachtete Emily sein Glied, das sich prall und zitternd vor ihrem Gesicht in die Höhe reckte. Sie betrachtete es lange und ohne ein Wort zu sagen.
Jacob saß da, seine Brust hob und senkte sich schnell. Er schluckte mit trockenen Mund, die Zunge lag schwer am Gaumen. An den Armen rollten Schweißperlen hinab.
Emily schaute wieder zu Jacob herauf. Ihre Hände strichen innen über seine Schenkel.
»Hat ein Mädchen schon mal deinen Schwanz in den Mund genommen?«, fragte sie, und ihr Blick sank tief in ihn hinein.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Aber du hast schon mit einem Mädchen geschlafen?«
»Ja«, sagte Jacob tonlos.
Emily befeuchtete ihre Lippen.
»Möchtest du, dass ich ihn streichle?«
Jacob nickte. Er spürte die Wärme von Emilys Händen und rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Gefällt dir das?«, fragte Emily.
Jacob nickte. Emily schaute in seine Augen, und dann wanderte ihr Blick wieder abwärts.
»Du hast einen schönen Schwanz, Jacob«, sagte sie. Ihre Züge wirkten jetzt völlig entspannt. Sie öffnete ein wenig die Lippen und griff etwas fester zu. Ihre Finger betasteten Jacobs Penis, streichelten und drückten ihn.
»Er fühlt sich gut an«, sagte sie. »Glatt, heiß und hart.«
Ein Schauer jagte Jacobs Rücken empor.
»Möchtest du, dass ich deine Eier streichle?« Emilys Blick traf ihn mit einer Heftigkeit, die ihn beinahe vom Stuhl rutschen ließ.
»Ich möchte sie gern in die Hand nehmen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, ob dir das gefällt.«
Jacob nickte und er spürte, wie Emily mit einer Hand hinab strich und seine Hoden umfasste. Er spürte die Hitze ihrer Handfläche, spürte, wie Emily ein wenig fester drückte, sanft an seinen Hoden zog, sie streichelte und knetete. Mit der anderen Hand massierte sie seinen Penis, presste ihn und strich mit dem Daumen die Unterseite entlang.
Jacob hielt es kaum noch aus. In einer schnellen, ungeschickten Bewegung beugte er sich vor und griff nach Emilys Brüsten.
Emily hob den Kopf und schaute ihn an. Ohne den Griff ihrer Hände zu lösen, richtete sie sich ein wenig auf und streckte den Rücken.
»Mach nicht so schnell«, sagte sie. »Langsamer ist es schöner.«
Schwer lagen ihre Brüste in Jacobs Händen. Er streichelte und drückte sie, beobachtete, wie sich die Brustwarzen immer mehr aufrichteten, hart und dunkel wurden.
Emily schaute zu ihm auf. Ihre Hände begannen wieder, sein Glied zu streicheln und seine Hoden zu massieren. Der erste Samen tropfte herab, rann über Emilys Finger.
»Kannst du noch ein bisschen warten?«, sagte Emily.
»Ich ... weiß nicht.« Jacob rang nach Atem. Jetzt spürte er wieder, wie betrunken er war. Der Puls pochte in seinem Hals, in den Ohren rauschte es.
»Warte noch ein bisschen«, sagte Emily, ohne die Hände ruhen zu lassen.
Ihre Lippen näherten sich Jacobs zuckenden Glied. Jacob spürte ihre Hitze, fühlte, wie sie ihn berührten, ihn küssten.
Emily öffnete den Mund, Jacob lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Nein«, hörte er Emilys Stimme. »Schau mir zu.«
Jacob stöhnte. »Ich kann nicht. Ich ... ich will doch mit dir schlafen ... warte ...«
Er legte die Hände auf ihre Schultern, versuchte, Emily von sich wegzuschieben. Er wich auf dem Stuhl zurück, doch er konnte sich ihrem Griff nicht entwinden.
»Wir werden miteinander schlafen«, sagte Emily. »Wir haben noch die ganze Nacht.«
Sie zog an Jacobs Hoden, ein wenig fester diesmal, sie presste sein Glied, nahm es tief in den Mund.
»Nein ... ich ... warte ...«, stöhnte Jacob.
Doch Emily war unbezwingbar. Sie streichelte ihn, saugte und leckte bis es aus ihm herausschoss. Sein Samen ergoss sich in Emilys Mund, und sie knetete seine Hoden, drückte und rieb sein Glied, als wollte sie auch den letzten Tropfen aus seinem Körper pressen.
Vor Jacobs Augen drehte sich der Raum. Emily streichelte seine Schenkel, seine Brust. Sie erhob sich, ging hinüber zum Tisch und trank ein Schluck Moonshine.
»Leg dich aufs Bett«, sagte sie. »Ruh dich einen Moment aus. Wir sind noch lange nicht fertig.«
Jacob erwachte von einem Schmerz in der Stirn, so heftig und glühend, dass er sich benommen aus dem Bett wälzte und die Schläfen rieb. Emily lag schlafend unter der Fleecedecke. Neben der Pritsche auf dem Boden stand die geleerte Flasche Moonshine.
Jacob wankte zum Fenster und hob die Feldplane. Es war heller Tag.
Während er sich ankleidete, dachte er an die vergangene Nacht. Er sah Emily, die sich über ihn beugte, ihn auf das Bett drückte und ... Verdammt, wo waren Sander und Einar?
Jacob trat aus der Wohnung und spürte den Luftzug, der durch das Treppenhaus strich. Langsam ging er nach unten.
Den ersten Toten fand er im zweiten Stock. Er lehnte mit gebrochenem Genick am Geländer.
Im Erdgeschoss lag ein Mann mit zertrümmerten Schädel. In der Hand hielt er eine alte Armeepistole. Unzählige Fliegen schwirrten hier durch den Hausflur. Hirnmasse und geronnenes Blut klebten an den Wänden.
In der Küche fand Jacob Einar. Sie hatten ihn getötet, wo er gestern Nacht eingeschlafen war. Die Klinge seines Bajonetts steckte zwischen seinen Schulterblättern.
Der dritte Fremde lag auf der Schwelle der Haustür. Es wirkte, als wäre er im Lauf erschlagen worden.
Jacob stieg über ihn hinweg und trat vor das Haus. Über die Straße wehten staubige Böen. Sander lag mit zerfetztem Hemd auf dem rissigen Asphalt, er hielt noch immer die Feueraxt in der Hand.
Jacob zog die Tür hinter sich ins Schloss. Emily schaute ihn an.
»Warum machst du das?«, sagte sie. »Wir kommen nicht mehr zurück.«
Jacob nickte. Er zog die Riemen seines Rucksacks fest, schulterte das Gewehr und ergriff Emilys Hand.
Schweigend liefen sie durch die Nacht. In der Ferne rollte der Donner der Geschütze.