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An den Ufern des Styx

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08.07.2012
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An den Ufern des Styx

Still lag das Stahlwerk im Licht des Mondes da, von den Sümpfen jenseits der Stadt wehte Verwesungsgeruch herüber. Jacob lauschte dem Donnergrollen der Artillerie. Er schaute sich ein letztes Mal um, dann schlüpfte er durch ein Loch des Maschendrahtzauns. Geduckt lief er über den Fabrikhof, Glasscherben knirschten unter den Sohlen seiner Stiefel. Die Ruine des Hochofens wuchs ihm schwarz entgegen.
Vor der Rampe des Zulieferungsbereichs wirbelten Fetzen aus Papier und Kunststoff über den Asphalt, die Tore der Eisenschmelzerei hingen schräg in ihren Laufschienen.
Also dann, dachte Jacob und holte tief Luft. Mit wenigen Sätzen gelangte er ins Innere der Werkhalle. Gut möglich, dass er hier einiges an brauchbarem Schrott finden würde; Metallteile, die sich für den Bau eines Ofens oder einer Werkbank eigneten. Gut möglich, dass heute Abend auch andere Sammler auf der Suche waren.
Der Wind heulte durch die entblößten Rippen der Dachkonstruktion. Dort, wo noch vor einem Jahr Stahlkocher den funkensprühenden Strom flüssigen Roheisens bändigten, herrschte nun ein Chaos geborstener Armaturen, rosteten Panzerplatten und Kühlwasserleitungen.
Jacob streifte seine Arbeitshandschuhe über. Im Schein des Mondes durchstöberte er den Inhalt der massiven Legierungspfannen. Zwischen Koksresten, Schutt und Schlacke fand er Bleche und Winkeleisen. Nach und nach füllte sich sein Rucksack. Er drehte gerade ein verbogenes Stahlrohr in den Händen, als ein Schrei durch die Nacht hallte, zu einem Kreischen anhob und abrupt verstummte.
Jacob erstarrte. Dann zuckte ein Gedanke durch seinen Kopf: Lauf!
Er ließ das Stahlrohr fallen, schleuderte den Rucksack zu Boden und rannte los. Das Herz pochte mit harten Schlägen bis in seine Kehle. In den Schläfen rauschte das Blut. Er lief durch das Werkhallentor, das Echo seiner Schritte jagte ihn aus der Fabrik.
Das Knallen der Stiefel in den Ohren rannte er, was die Lungen hergaben. Vor seinen Augen dehnte sich der Hof zu einer weiten grauen Fläche.
Etwas zischte über seinen Kopf hinweg. Sie schießen, dachte Jacob. Er stolperte, stürzte und schlug der Länge nach hin. Er stemmte sich hoch, ein dumpfer Schlag traf ihn zwischen den Schulterblättern und warf ihn nieder. Er spuckte Blut, dick und schwarz. Geschosse prasselten neben ihm zu Boden - Pfeile, Bolzen, Stahlkugeln. Jacob zog die Beine an, verbarg den Kopf unter den Armen.
»Nicht mehr schießen!«, rief eine raue Stimme. »Wir kriegen ihn lebend.«
Jacob kämpfte gegen den Schmerz, der sich durch den Rücken in seinen Körper bohrte. Er tastete nach der Klinge im Ärmel seiner Jacke. Schon hörte er hinter sich die Schritte.
»Dreht ihn um«, sagte die raue Stimme. Er wurde gepackt und herumgerissen. Vier Gestalten umringten ihn - Männer in Tarnhosen und zerlumpten Armeejacken, an ihren Gürteln baumelten Helme und Gasmasken. Sie hielten die Waffen gesenkt.
»Perkov gibt uns achtzig oder sogar hundert für den«, sagte einer der vier, offenbar der Anführer. Er war der Mann mit der rauen Stimme.
»Sieht aus wie ein Jude«, sagte ein anderer. »Ist verdammt jung.« Alle lachten, als hätte er einen Witz gemacht.
»Na los«, sagte der Anführer. »Wir nehmen ihn mit.«
Jacob riss die Klinge aus seiner Jacke und hielt sie sich an den Hals. »Einen Scheiß werdet ihr.« Seine Stimme klang heiser.
Die vier Männer blickten auf ihn herab.
Der Anführer sagte: »Okay. Dann mach mal.«
Jacob presste den Griff der Klinge, er spürte die schartige Schneide an seiner Kehle. Ein Schnitt, dachte er, und die Sache ist vorbei.
»Das wird wohl nichts«, sagte einer der Männer, und wieder lachten alle. In ihr Gelächter hinein krachte ein Schuss. Jacob sah, wie der Kopf des Anführers jäh zurückgerissen wurde. Einen Augenblick lang stand der Mann reglos da, das Kinn steil nach oben gereckt, so, als betrachtete er den Mond. Dann brach er zusammen.


Jacob erwachte auf einem improvisierten Krankenlager. Neben der mit Filzdecken gepolsterten Pritsche stand ein Tisch, auf dem Verbandsmaterial ausgebreitet lag. Jacob rieb sich die Schläfen und zuckte zusammen. Der Schmerz zwischen seinen Schulterblättern erinnerte ihn an die vergangene Nacht. Bruchstückhaft kehrten die Ereignisse auf dem Fabrikhof des Stahlwerks zurück. Da war ein Mann mit einem Loch in der Stirn, der zum Himmel hinauf starrte. Und da war das blasse Gesicht einer jungen Frau, ihr langes schwarzes Haar glänzte im Mondschein. Sie beugte sich zum ihm herab und sagte ... Doch vielleicht bildete er sich das nur ein.
Benommen schaute er sich in dem schäbigen Zimmer um. Im schwachen Licht, das durch die Ritzen der mit Brettern vernagelten Fenster drang, tanzte der Staub. Tapetenfetzen hingen von den Wänden, unter der Decke breitete sich der Schimmel aus.
Draußen knatterte ein Sturmgewehr, zwei oder drei Straßen entfernt. Dann herrschte wieder Stille.
Jacobs Gedanken kehrten zurück zu der Frau. Er sah, wie sie eine Haarsträhne, die vor ihrem Gesicht flatterte, hinter das Ohr strich, sah ihre Augen, ihren Mund. Hatte sie ihn gerettet?
Mit einem Knarren öffnete sich die Tür. Ein hünenhafter Mann in Soldatenkluft trat herein.
»Kannst du aufstehen?«, fragte er.
Jacob nickte.
»Zieh dir die Stiefel an.«
Der Mann stützte ihn beim Gehen, führte ihn durch einen düsteren Flur und öffnete eine Tür. Die Küche der Wohnung war ein großer kahler Raum. Neben dem Kochherd saß auf einem umgedrehten Blechzuber die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar. Sie trug einen zerschlissenen Armeemantel und Fallschirmjägerstiefel.
»Setz dich da hin«, sagte sie zu Jacob und deutete auf einen Schemel, der an einem Esstisch stand.
Jacob setzte sich und schaute sich in der Küche um. Erst jetzt bemerkte er den alten Mann, der in der gegenüberliegenden Ecke am Boden saß und rauchte. Er würdigte Jacob keines Blickes, starrte auf die morschen Lärchenholzdielen vor seinen Füßen und zog an seiner Zigarette. Sein Gesicht war bleich, seine Haare grau.
Die junge Frau räusperte sich. »Mein Name ist Emily.« Sie deutete mit einer Bewegung des Kinns auf den Alten. »Das da ist Sander und der Große heißt Einar.«
Jacob schaute von einem zum anderen und dann wieder zu Emily.
»Wir drei wohnen in diesem Haus«, sagte sie. »Und du heißt ...«
»Jacob.«
»Bist du Jude?«, fragte Einar. Er verschränkte die Arme vor der breiten Brust und sah mit hartem Blick auf Jacob herab.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Zeig uns deinen Schwanz«, sagte Einar.
Jacob erstarrte, dann schüttelte er wieder den Kopf.
Mit zwei mächtigen Schritten war Einar bei ihm. Er packte Jacob an der Kehle. »Zeig deinen Schwanz«, sagte er noch einmal.
Jacob würgte. »Okay. Ja. Ich bin Jude.«
Einar fluchte und ließ ihn los.
»Ich wusste es«, sagte er. »Verfickte Scheiße. Der kann nicht hierbleiben.«
»Und warum nicht?«, sagte Emily.
Jacob rieb sich den Hals und blickte scheu zu ihr hinüber. Sie war schlank, beinahe zierlich, aber in ihren dunklen Augen loderte das Feuer.
»Wenn sie uns mit einem Juden erwischen, sind wir tot«, sagte Einar und fuhr sich durch das blonde, verfilzte Haar.
»Wenn sie uns erwischen, sind wir so oder so tot«, erwiderte Emily.
Einar schüttelte den Kopf. Er stampfte durch die Küche, drehte sich um und sagte: »War ein Fehler, ihn herzubringen.«
Emily zuckte mit den Schultern. »Hätte ich ihn denen überlassen sollen? Sie wollten ihn an Perkov verkaufen.«
»Und wenn schon«, erwiderte Einar. »Ist das mein Problem? Du verschwendest Munition und gefährdest uns alle, nur um diesem nutzlosen ...«
»Deswegen sitzen wir doch in dieser Scheiße«, unterbrach ihn Emily. »Weil jeder nur an sich denkt.«
Einar schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch. »Ich sage, wir schmeißen ihn raus. Mein letztes Wort.«
»Wenn wir ihn jetzt mit seinen Verletzungen rausschmeißen, wird er es nicht schaffen«, gab Emily zurück.
»Ich gehe«, sagte Jacob. Emily und Einar sahen ihn an. »Danke, dass ihr mich vor denen gerettet habt.«
Einar hob die Hände. »Siehst du«, sagte er zu Emily. »Der kleine Wichser kommt allein zurecht.«
Emily schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen.
Schweigen breitete sich im Raum aus. Emily hatte Recht. Seit dem Ausbruch des Krieges war jeder Tag ein Überlebenskampf. Allein, ohne Hilfe würde es Jacob mit diesen Verletzungen nicht schaffen.
»Wie alt bist du?«, fragte der Alte in die Stille hinein. Er drückte seine Zigarette in einer beschädigten, von Rissen und Sprüngen übersäten Tasse aus.
»Hm?«
»Ich will wissen, wie alt du bist.«
»Siebzehn«, log Jacob.
Sander schaute ihn an, und sein Blick schien sich in Jacobs Stirn zu bohren. »Siehst nicht aus wie siebzehn.«
»Naja, ich ...«
»Hast du die Schule besucht?«
»Sicher.«
»Wolltest du studieren?«, fragte Sander weiter und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Ja.«
»Sieh an.« Sander klemmte die Zigarette in den gesprungenen Rand der Tasse und strich sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es schien, als wollte er die Müdigkeit aus seinem Gesicht wischen.
»Und welches Fachgebiet?«
»Ist doch völlig gleich, was der Kleine studieren wollte«, sagte Einar.
Sander beachtete ihn nicht. Er rieb sich die Wangen, dann schaute er Jacob an und hob die Augenbrauen.
»Also?«
»Maschinenbau«, sagte Jacob.
Sander streckte den Rücken, ein paar Wirbel knackten. Er wirkte jetzt deutlich jünger.
»Was hast du im Stahlwerk gesucht?«, fragte er und griff nach seiner Zigarette.
»Teile«, antwortete Jacob. »Schrott, aus dem ich was bauen kann.«
Sander erhob sich, rollte die Schultern, bog und streckte den Hals. Niemand sagte ein Wort.
Draußen, nicht sehr weit entfernt, knallten Schüsse. Eine Frau schrie. Es war ein einzelner, klagender Schrei. Dann kehrte die Stille zurück.
Sander führte die Zigarette an seine Lippen und inhalierte tief. Er betrachtete Jacob, blies blauen Rauch in die Küche und sagte: »Du bleibst bei uns.«


Drei Tage lang kümmerte sich Emily um Jacob. Dabei sprach sie kaum ein Wort. Sie desinfizierte seine Wunden, sie bandagierte seine Stirn. Die Spitze eines Bolzengeschosses steckte in Jacobs Rücken. Emily weigerte sich, es zu entfernen.
»Ist zu nah an deiner Wirbelsäule«, sagte sie. »Ich kenne mich damit nicht aus. Wir finden eine andere Lösung.«
Jacob nickte. Ihm war es gleich. Tag und Nacht gingen ineinander über. Er dämmerte dahin. Sein ganzer Körper schmerzte. Fieberschübe und wirre Träume plagten ihn.
Jeden Morgen erschien Emily mit einem Tablett an seinem Bett. »Etwas Tee und zwei Scheiben Brot«, sagte sie. »Mehr haben wir gerade nicht.«
Am vierten Tag öffnete sich die Tür und Emily führte einen Fremden herein.
»Dieser Mann ist Arzt«, sagte sie zu Jacob und reichte ihm ein halbgefülltes Glas. Der Geruch stach in der Nase.
»Wodka?«, fragte Jacob.
»So was in der Art.«
Jacob richtete sich auf, trank und sank zurück. Er schloss die Augen und kippte vornüber in die Dunkelheit. Seine Hände griffen matt ins Leere. Da gab es nichts, woran er sich festhalten konnte.


Jacob schlug die Augen auf. Einar stand an seinem Bett und schaute auf ihn herunter. Jacob spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er schluckte.
»Keine Angst«, sagte Einar. »Wenn ich es wollte, wärst du schon tot.«
Jacobs Blick fiel auf das Bajonett, das Einar wie ein Messer im Gürtel trug. »Wo ist Emily?«, fragte er.
»Tja, das ist eine gute Frage.« Einar durchsuchte die Taschen seiner Armeejacke. Schließlich fand er eine Zigarette und Streichhölzer. Einen Moment lang schien er zu überlegen, ob er sich zu Jacob auf die Pritsche setzen sollte. Dann schnalzte er mit der Zunge und hockte sich auf den Boden. Den Rücken an die Wand gelehnt, spielte er mit der Zigarette zwischen seinen Fingern, zündete sie an und rauchte.
»Also, wo ist sie?«, fragte Jacob noch einmal.
»Sie ist fort«, sagte Einar. »Sie bezahlt deine Behandlung.«
Jacob kniff die Augen zusammen. Er verstand nicht, was Einar gesagt hatte.
»Was meinst du damit?«
Einar betrachtete den dünnen Rauchfaden, der von seiner Zigarette silbrig grau nach oben stieg.
»Meinst du, ein Arzt kommt einfach her und operiert dich kostenlos aus reiner Menschenliebe?«
Jacob bewegte die Schultern. Er spürte noch immer ein dumpfes Ziehen, aber der bohrende Schmerz war fort.
»Der Bolzen ...«, sagte er.
»... ist raus«, bestätigte Einar. »Bedanke dich bei Sander und Emily. Wenn es nach mir gegangen wäre ...«
»Ich weiß«, sagte Jacob. »Du hasst die Juden.«
Einar hob die Schultern. »Ich hasse euch nicht. Ihr seid mir völlig egal.«
»Sie haben früher schon einmal Jagd auf uns gemacht.«
»Scheiße«, sagte Einar. »Ich weiß, was damals im zweiten Weltkrieg passiert ist. Ich kenne die Story mit den Deutschen.«
»Also was ist nun mit Emily?«, fragte Jacob erneut.
Einars helle Augen richteten sich auf ihn. Es lag kein Hass in diesem Blick, kein Zorn. Da war nur große Müdigkeit, eine bis in die Knochen reichende Erschöpfung. »Sie fickt als Bezahlung für deine Behandlung, Kleiner.«
Jacob richtete sich auf. Wieder schlug sein Herz schneller.
»Wieso ...«, stieß er hervor. »Wieso tut sie das?«
Einar winkte ab. »Bilde dir bloß nichts ein«, sagte er. »Wir bekommen auch ein paar Konserven dafür, ein wenig Munition ...«
Jacob schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gewollt.«
Einar lachte. »Es ist Krieg, Kid. Hier bekommt niemand, was er will.«


Sander deutete auf die vernagelten Fenster. »Jeden Morgen kontrollieren wir, ob die Bretter fest sitzen. Und zwar im Keller, im ersten und im zweiten Stock.«
Jacob betrachtete ihn gedankenverloren.
»Wir haben im ganzen Haus Fallen aufgestellt«, fuhr Sander fort. »Damit fangen wir Ratten und Mäuse, manchmal einen Marder. Die Fallen müssen auch jeden Morgen überprüft werden.«
Sander bemerkte Jacobs Blick.
»Was hast du? Warum starrst du mich so an?«, fragte er.
»Ich ... Es ist ...«, sagte Jacob.
»Ja?«
»Ich erkenne dich kaum wieder. Du ...«
Sander lachte. »Das passiert vielen Menschen. Ich habe ein Allerweltsgesicht.«
»Nein, ich meine, du siehst völlig verändert aus. Viel jünger.«
Sander rieb sich das Kinn. »Der Bart ist ab«, sagt er. »Daran wird es liegen.«
Jacob wollte etwas sagen, doch Sander hob die Hand. Er fixierte Jacob mit einem seltsamen Blick. Dann lächelte er und sagte: »Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir unser Destilliergerät.«
Jacob folgte ihm durch das verfallene Treppenhaus.
»Ihr brennt Alkohol?«, fragte er nach einer Weile.
»Das würden wir gern«, erwiderte Sander. »Aber dafür fehlen uns die Baumaterialien.«
»Ein Gefäß aus Kupfer wäre ideal«, sagte Jacob.
Sander lachte. »Ich weiß. Einar geht deswegen einem Tipp nach. Wir haben von einer Villa in der Nähe des Flughafens gehört. Dort im Keller soll eine komplette Brennanlage stehen.«
Im vierten Stock öffnete Sander eine Tür, und sie traten in einen hellen, grüngetünchten Raum. An den Wänden dunkelten Stockflecken. Der Destillierapparat stand dicht bei einem der beiden ungesicherten Fenster.
»Vorsicht«, sagte Sander. »In diesem Raum arbeiten wir eigentlich nur nachts und immer ohne Beleuchtung. Wenn du tagsüber hier zu tun hast, solltest du die Fenster abhängen.« Er deutete auf Feldplanen, die zusammengerollt in einer Ecke des Zimmers lagen. »Das gilt auch für alle anderen Räume.«
»Heckenschützen«, sagte Jacob.
Sander nickte. »Ja, es werden immer mehr. Es ist kein Problem, an einem der offenen Fenster im Treppenhaus vorbeizugehen. Aber bleib nicht stehen.«
»Warum schießen die auf uns?«
»Sie wollen Angst verbreiten«, antwortete Sander. »So kontrollieren sie uns.«
»Wir kämpfen doch nicht.«
»Das könnten wir aber. Denk mal an die Partisanengruppen. Vor denen fürchten sie sich. Mit den Heckenschützen wollen sie verhindern, dass wir uns organisieren.«
Jacob sah sich schweigend in dem Raum um. »Warum nagelt ihr diese Fenster nicht auch zu?«, fragte er dann.
»Naja, früher haben wir das gemacht«, sagte Sander. »Aber wir brauchen etwas im Licht im Haus. Außerdem hat man von hier aus einen guten Blick auf die Kreuzung vor dem Haus.« Er zwinkerte Jacob zu. »Manchmal ist Wissen der beste Schutz vor deinen Feinden. Ich stehe nachts gern hier und beobachte.«
Das Destilliergerät war simpel konstruiert. Der untere Teil bestand aus einem Herd, der mit Holz oder Kohle befeuert werden konnte. Das auf dem Fensterbrett verankerte Abzugsrohr ragte etwa einen Meter aus dem Zimmer heraus. Auf der Herdplatte stand ein großer Kochtopf, durch dessen Deckel ein daumendickes, abwärts geneigtes Winkelrohr geführt war.
»Es gibt drei Öfen in diesem Haus«, sagte Sander. »Einer steht unten in der Küche, einer in Emilys Zimmer in der dritten Etage und das hier ist der dritte. Brennholz ist wertvoll, also ...« Er begann, Jacob die Befeuerungsmethode zu erklären.
»Heh, Sander«, unterbrach ihn Jacob. »Ich weiß, wie man einen Ofen heizt.«
Sander lachte. »Schon gut. Dann sag mir mal, was hier bei dieser Destille zu tun ist.«
»Man erhitzt das verschmutzte Wasser«, sagte Jacob. »Der Dampf kühlt ab und das kondensierte Wasser tropft in ein Gefäß, das unter das Rohr da gestellt wird.«
»Kluger Junge.« Sander lächelte. »Ja, wir verwenden eine Blechwanne, wenn Emily unten in der Küche nicht gerade drauf sitzt.«
»Wenn ihr Regenwasser nutzt, müsstet ihr es eigentlich nicht mehr destillieren«, sagte Jacob.
»Stimmt. Aber die Planen, mit denen wir es auffangen, sind stark verschmutzt.« Sander wies mit dem Zeigefinger nach oben. »Wir haben auf dem Dach auch ein paar Felddecken ausgelegt, um Feuchtigkeit aufzusaugen. Wir wringen das Zeug dann aus und reinigen das Wasser mit der Destille. Gut, lass uns runtergehen, ich will mir den Verband an deinem Rücken anschauen.«
In der dritten Etage glitt Jacobs Blick über die geschlossenen Wohnungstüren.
»Wann wird Emily zurück kommen?«, fragte er.
»Bald«, erwiderte Sander ohne sich umzudrehen. »Sie wird bald zurück sein.«


Später an diesem Vormittag hämmerte jemand gegen die Haustür. Sander und Jacob gingen nach unten.
»Ich bin's«, rief Einar von draußen. Sander öffnete.
Einar stampfte in die Küche und löste den Trageriemen seines Gewehrs. Er stellte das Gewehr in eine Ecke und warf seinen Rucksack auf den Küchentisch.
»Gute Neuigkeiten«, sagte er. »Ich habe die Brennerei gefunden. Ein bisschen Kleinkram wurde geplündert, doch die Brennblase ist noch da. Ich brauche aber jemanden, der beim Transport hilft.«
»Ist das Haus bewohnt?«, fragte Sander.
»Bis vor kurzem war es das«, sagte Einar. »Im ersten Stock liegen fünf Leichen. Zwei Erwachsene, drei Kinder.«
Jacob starrte Einar an.
»Was ist?«, sagte Einar und stützte die Fäuste in die Seiten. »Denkst du, ich lege fünf Menschen um, wegen einer Brennapparatur?«
Jacob schwieg.
Sander rieb sich das Kinn. »Mit purem Alkohol könnten wir unsere medizinischen Vorräte auffrischen.«
»Und er ist ein ideales Tauschmittel«, sagte Einar. Er öffnete den Rucksack und holte ein paar Konservendosen, Werkzeug und einige Scheite Brennholz hervor. »Da ist noch etwas anderes. Ich habe heute Nacht einen Sniper entdeckt. Stand gerade im gegenüberliegenden Haus, als er vom Dachboden aus auf ein paar Sammler geschossen hat.«
»Wo war das?«, fragte Sander.
»In der Nähe des Zentralbahnhofs. Dem Kerl würde ich gern einen Besuch abstatten.«
»Meinst du, der ist morgen wieder da?«
»Ja. Ich habe gewartet und gesehen, wie er das Haus verließ. Der hatte das Gewehr nicht dabei. Ich wette, er kommt zurück.«
Sander nickte. »Einen Versuch ist es wert.«


Das letzte Licht des Tages legte sich grau über die Stadt. Seit dem späten Nachmittag donnerten in der Ferne wieder dumpf die Geschütze. Jacob folgte Einar durch zerstörte Straßen. Sie stiegen über Berge aus Schutt, duckten sich hinter Mauern und sprangen zwischen ausgebrannten Fahrzeugwracks von Deckung zu Deckung.
Jacobs Herz hämmerte gegen seine Brust. Es war nicht nur die Angst, die Aufmerksamkeit eines Scharfschützen zu erregen. Es war der Gedanke, Emily nicht wiederzusehen, der ihn verrückt machte. Der Verabredung nach hätte sie im Laufe des Tages zurückkehren sollen. Doch sie war nicht gekommen, und das bedeutete ... Niemand wusste, was das bedeutete.
»Da sind wir«, sagte Einar und zeigte auf ein Haus, das hoch über den Platz vor dem Zentralbahnhof aufragte. »Wir suchen uns ein gemütliches Versteck im ersten Stock.«
»Und dann?«
»Dann warten wir.«
Das gemütliche Versteck - schwarzer Schimmel an den Wänden, ein Loch in der Decke, Rattendreck und Katzenpisse überall. Jacob hockte im Flur neben der zertrümmerten Wohnungstür und lauschte. In das Wummern der Artillerie hinein knallten Schüsse, hell und scharf, sehr nah. Dann wieder Stille, bis auf das Rauschen des Windzuges, der durch die verwüsteten Zimmer und Korridore strich.
Hinter der Tür der Nachbarwohnung lauerte Einar auf den Scharfschützen. »Schlaf nicht ein, Kid«, hatte er Jacob eingeschärft. »Mach keinen Mucks.«
Irgendwann, es waren Stunden vergangen, spürte Jacob seine Beine nicht mehr. Er legte sich in völliger Finsternis auf den Rücken und streckte die Knie ... und erwachte vom Geräusch schwerer Schritte im Hausflur.
Jacob wagte nicht, sich zu bewegen. Das Schaben der harten Sohlen auf den Absätzen des Treppenhauses schnürte ihm die Kehle zu. Im Klang dieser Schritte lag etwas Feindseliges. Jacob hörte darin all die Verachtung und den Hass, die seiner Familie und ihm in den letzten zwei Jahren entgegengeschlagen waren. Als Ungeziefer hatte man sie bezeichnet, und wie Ungeziefer wollte man sie zertreten.
Jacob hörte jedes Detail – das Ächzen der morschen Dielen, das Knarren des Stiefelleders, das Rascheln schwerer Feldkleidung. Die Schritte wurden lauter, kamen näher, so nahe ... Dann herrschte plötzlich Stille im Treppenhaus. Und jetzt roch Jacob den Fremden. Schweißgeruch und Tabakdunst breiteten sich aus. Kein Zweifel, er stand direkt vor seiner Tür.
Jacob presste die Kiefer zusammen, das Pochen seines Herzens dröhnte ihm im Schädel, so laut wie die Schläge einer Kirchturmuhr. Er starrte in die Finsternis, doch da war nichts. Und so lag er in diesem Flur, hilflos wie ein auf den Rücken gerollter Käfer, angsterfüllt, verzweifelt. Er sieht dich, ging es ihm durch den Kopf. Als er ein metallisches Klicken hörte, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Es war das Geräusch einer Pistole, deren Hahn gespannt wurde. Er zielt auf dich, und schießt dir ins Gesicht.
Jacob schloss die Augen und hörte ein Poltern. Ein Schlag, ein Schrei. Ein schwerer Körper ging zu Boden.
»Schauen wir uns den Kerl an, Kid«, hörte er Einars Stimme.
Als der Fremde die Augen öffnete, blickte er auf die Spitze eines Bajonetts.
»Ich ramm' dir die Klinge in die Fresse, wenn du mich verarschen willst«, sagte Einar.
Jacob hielt eine Kerze in der Hand. In ihrem gelben Licht tanzten die Schatten an den Wänden des Treppenhauses. Noch immer zitterte er am ganzen Leib.
»Hör auf, herumzuzappeln«, sagte Einar zu ihm, dann wandte er sich wieder dem Fremden zu. »Ich weiß, dass du zum Spaß auf Leute schießt.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, bitte. Ich wollte mich hier nur umschauen.« Jacob betrachtete ihn. Sah so ein Mann aus, der ihn töten wollte? Was sagte dieses Gesicht? Jacob konnte darin keine Verachtung erkennen, keinen Hass. Da war nichts als Angst. Es war die Angst eines gewöhnlichen Mannes.
»Du trägst Soldatenklamotten«, sagte Einar.
Der Fremde grinste schief. »Du auch, Bruder.«
Einar schwieg. Jacob kaute auf seiner Lippe. Der Fremde hatte Recht. Sahen sie nicht alle wie Soldaten aus?
»Und wenn er die Wahrheit sagt?« Jacobs Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren.
Einar lächelte und schüttelte den Kopf. Er bewegte die Spitze des Bajonetts vor den Augen des Mannes hin und her. »Ich habe dich gestern gesehen. Du bist hier aus dem Haus spaziert, nachdem du geschossen hast.«
»Nein«, sagte der Fremde in flehendem Ton. »Du irrst dich. Das war ich nicht. Bitte. Ihr müsst mir glauben.« Tränen liefen über sein schmutziges Gesicht.
»Und was wolltest du mit der Pistole?«, fragte Einar.
»Ich ... ich hatte etwas gehört«, sagte er. »Ich dachte ... Heh, ich wollte mich nur schützen.«
Jacob rückte dicht an Einar heran. »Ich glaube ihm«, sagte er. »Lassen wir ihn laufen.«
Einar atmete tief durch. »Okay«, sagte er zu dem Fremden. »Zieh deinen Mantel aus.«
Der Mann erbleichte.
»Was hast du vor?«, sagte Jacob. »Willst du ihn ausrauben? Er ist einer von uns.«
»Halt's Maul, Kid. Einer von uns? Sicher nicht.«
Der Mann schälte sich aus dem Armeemantel. Noch immer glitzerten Tränen in den groben Zügen seines Gesichts.
»So«, sagte Einar. »Jetzt zieh das Hemd aus und zeig' unserem jungen naiven Freund hier deine Schulter.«
Die Worte fielen schwer wie Blei, es war, als rauschten sie aus großer Höhe herab in das schmutzige Treppenhaus. Ein kalter Glanz trat in die Augen des Fremden. Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Ausziehen«, wiederholte Einar. Der Mann knöpfte das Hemd auf und streifte es über die Schulter.
Jacob betrachtete den dunklen Fleck über der Brust des Fremden.
»Das kommt vom Rückstoß eines Gewehrs«, sagte Einar. »Viele Schützen haben so etwas.«
Jacob öffnete den Mund, aber er sagte nichts. Unwillkürlich klammerte er sich an Einars Arm.
»Okay, machen wir die Sache kurz«, sagte Einar zu dem Fremden. »Ich lasse dich laufen, wenn du mir sagst, wo du das Gewehr versteckt hast.«
»Du lässt mich laufen«, wiederholte der Mann mit einem höhnischen Lächeln.
»Ja«, sagte Einar. »Ich poliere dir die Visage, und dann lass ich dich laufen. Damit du deinen Leuten sagen kannst, was wir mit euch Heckenschützen machen.«
»Vergiss es.«
»Dann frisst du jetzt die Klinge«, sagte Einar. Er holte mit dem Bajonett aus. »Schau weg, Kid.«
»Okay, warte.« Das Gesicht des Fremden war kalkweiß. »Dachboden. Eine lockere Bohle unter dem letzten Fenster.«
Einar nickte. »Wir gehen jetzt zusammen da hoch. Wenn das Gewehr nicht da ist, schneide ich dir die Eier ab.«
Der Fremde schluckte. Jacob zitterte so sehr, dass das Wachs der Kerze auf seine Hände tropfte.
Einar tippte auf das Hämatom des Fremden. »Das sage ich nicht nur so. Ich schneide dir den Sack ab. Mit diesem Bajonett. Alles klar?«
»Dachboden, letztes Fenster«, wiederholte der Mann. In seinen Augen stand Todesangst.
Einar nickte. Mit einer schnellen Bewegung presste er eine Hand auf den Mund des Fremden und rammte die Klinge durch die Kehle des Mannes. Das Blut spritzte in weitem Bogen durch das Treppenhaus. Jacob wich entsetzt zurück. Im flackernden Licht der Kerze starrte er auf die grausame Szene. Er sah, wie das Blut schwarz an den Wänden herablief. Sah, wie die Hände des Fremden in die Luft griffen. Sah Einar, der noch ein, zwei Mal zustieß und dann die Klinge am Mantel des Toten abwischte.
»Warum ...«, keuchte Jacob. »Du wolltest ihn gehenlassen.«
Einar durchsuchte die Taschen des Mannes. Er steckte das Bajonett in seinen Gürtel, ergriff den Rucksack des Scharfschützen und sagte: »Holen wir uns das Gewehr.«


Jacob lag auf dem Bett und stöhnte. Er presste die Hände auf das Gesicht, doch er konnte die Bilder der letzten Nacht nicht vertreiben. Wieder und wieder rollte die Szene im Treppenhaus vor seinen Augen ab.
»Wie geht's dir?«, hörte er Emilys Stimme und fuhr herum.
Emily stand in der Tür. Ihr Gesicht war blass, Schatten lagen unter ihren Augen.
Jacob sprang auf und machte einen Schritt auf sie zu.
»Du bist zurück«, sagte er.
»Ja«, erwiderte sie und lächelte müde. »Wollte mich nicht anschleichen. Deine Tür stand offen, also ...«
»Komm rein«, sagte Jacob. »Bitte.« Er setzte sich auf die Pritsche und wischte mit dem Hemdsärmel über sein Gesicht. Emily trat ins Zimmer und setzte sich zu ihm.
»Hast du geheult?«
Jacob schüttelte den Kopf.
Emily griff in die Tasche ihres Mantels und holte ein Päckchen Tabak hervor. Jacob beobachtete, wie sie das Päckchen öffnete, Zigarettenpapier und etwas Tabak entnahm. Ein Duft, der von ihrem Haar auszugehen schien, breitete sich aus.
»Ich wär' schon eher gekommen«, sagte sie. »Aber am Fluss gab es Kämpfe. Ich musste warten.«
»Hm.«
»Wo kommst du eigentlich her, Jacob? Hast du mit deiner Familie hier in der Stadt gelebt?«
Jacob nickte.
»Und wo sind deine Leute jetzt?«, fragte Emily weiter.
»Weiß nicht«, sagte Jacob. »Wir haben uns verloren.«
»Verloren?«
»Ja. Wir wurden getrennt.«
Emily verteilte ein wenig Tabak auf dem Zigarettenblättchen. Jacob betrachtete ihre schlanken Hände, verfolgte, wie Emily den Tabak knetete und rollte. »Ihr wart auf der Flucht?«
Jacob nickte. »Ja, mein Vater wollte raus aus der Stadt.«
»Was ist passiert?«
»Wir waren im Zug, meine Eltern, meine Schwester und ich.«
Emily befeuchtete ihre Lippen. Sie leckte über die Klebefläche des Blättchens, drehte die Zigarette zwischen ihren Fingern, strich sie glatt und zupfte den überstehenden Tabak heraus.
»Nachts gab es einen Bombenangriff. Der Zug entgleiste. Alles brannte. Irgendjemand hat mich aus dem Abteil gezogen.«
Emily hielt inne. »Und du weißt nicht, was mit deinen Leuten geschehen ist?«
Jacob schüttelte den Kopf. »Ich hab sie gesucht, aber ...«
Emily griff in ihre Tasche und holte eine Schachtel Streichhölzer hervor. Sie steckte die Zigarette an und rauchte. »Und dann?«, fragte sie.
»Ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte«, sagte Jacob. »Ein Mann nahm mich mit, zurück in die Stadt.«
Jacob schwieg einen Moment. Dann sagte er: »Erst habe ich ein paar Monate bei einem alten Ehepaar in unserer Nachbarschaft gelebt. Später habe ich mich allein durchgeschlagen.«
»Naja, jetzt bist du nicht mehr allein«, sagte Emily.
Jacob räusperte sich. »Danke, dass du mich im Stahlwerk gerettet hast«, sagte er.
Emily nickte. »Die sind gelaufen, wie die Hasen. Unser altes Sturmgewehr hat sie beeindruckt.« Sie lachte. »Nur dich herzuschleifen war kein Spaß. Du konntest dich kaum auf den Beinen halten.«
Jacob rieb sich die Stirn. »Da war ein Schrei, bevor ich weggerannt bin. Hast du ...«
Emily saugte an ihrer Lippe. »Ja«, sagte sie. »Einar war noch mal da, um sich ein bisschen umzusehen. Er hat die Leiche eines Mädchens gefunden. Ich denke, sie haben sie beim Sammeln überrascht.«
Eine Weile schwiegen sie.
Dann sagte Jacob: »Ihr habt den Arzt für mich gerufen und du ...«
»Mach dir keine Gedanken, ich war nicht wegen dir bei ihm«, sagte Emily.
»Nein?«
»Er hat uns in den letzten Monaten so oft geholfen, auch mit Vorräten und Munition ...«
»Aber warum hast du ...« Jacob rieb sich über die Lippen und schwieg.
»Heh, Jacob, sieh mich an.« Jacob hob den Blick und sah in Emilys Augen.
»Wir werden das hier überleben«, sagte sie. »Das ist alles, was zählt.«


Sander entzündete die Petroleumlampe und stellte sie auf den Küchentisch.
»Ich habe mit Ivar gesprochen«, sagte er. »Die Partisanen geben uns zweihundert für das Scharfschützengewehr und noch ein paar Lebensmittel dazu. Wir sollen es ihnen in vier Tagen bringen.«
Einar rieb sich das Kinn. »Lass es uns behalten«, sagte er. »Unser altes Gewehr und die Pistole, die ich dem Sniper abgenommen habe. Das ist nicht viel. Wir haben zu wenig Waffen.«
»Vergiss nicht die Feueraxt«, sagte Sander lächelnd. »So weit ich mich erinnere, hast du damit zwei Plünderer erschlagen.«
Einar winkte ab. »Ich meine es ernst, Sander. Das Scharfschützengewehr könnte nützlich sein.«
Sander hob die Schultern. »Sehe ich auch so, aber wir haben nur zwei Patronen dafür. Du weißt, wie schwer die aufzutreiben sind.«
Einar schwieg.
»Was nutzt uns ein Gewehr ohne Munition?«
Einar nickte.
»Heute Nacht gehe ich raus«, fuhr Sander fort. »Jacob übernimmt den ersten Teil der Wache, Einar den zweiten. Emily schläft sich aus.«
Einar lachte auf. »Der soll allein Wache schieben?«
»Das schafft er schon. Erklär ihm alles. Gib ihm die Pistole.«
Einar schnalzte mit der Zunge. »Kannst du mit einer Waffe umgehen, Kid?«
Jacob schüttelte den Kopf.
»Zeig es ihm«, sagte Emily und schaute Jacob mit ihren dunklen Augen an. »Ich glaube, er lernt sehr schnell.«
Jacob spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg.
»Ich wollte heute die Brennblase holen«, beharrte Einar. »Wer weiß, wie lange die da noch im Keller liegt.«
»Ihr holt sie morgen.«
»Aber ...«
»Einar.« In Sanders Stimme lag keine Schärfe, doch ihre Kraft duldete keinen Widerspruch. »Du warst jetzt drei Nächte lang draußen. Zeig Jacob, wie man die Pistole abfeuert, und ruh dich aus.«
Einar hob die Schultern. »Ich hoffe, er schießt sich nicht ins Knie.«
Gegen Mitternacht beschloss Jacob, Tee zu kochen. Emily hatte ein paar Vorräte mitgebracht, vor allem Konserven und ein wenig Schokolade. Auch etwas Schwarzer Tee war dabei.
Er legte die Pistole auf den Küchentisch und entzündete den kleinen Benzinkocher, den er statt des Kochherds benutzen sollte, goss Wasser in den Topf und lauschte. Wacheschieben bedeutete genau dies: Lauschen. Zu sehen gab es nichts. In den ersten zwei Stunden war Jacob in den unteren Etagen von Raum zu Raum gegangen, doch das machte nicht viel Sinn.
Einar hatte ihm erklärt, wie Plünderer vorgingen, wenn sie ein bewohntes Haus überfielen. Meist hebelten sie im Erdgeschoss ein vernageltes Fenster auf. Sie kamen selten durch die Tür.
»Also setz dich irgendwo ins Treppenhaus, Kid. Sperr die Löffel auf. Wenn sie kommen, kommen sie durch die Fenster im Parterre!«
Wie in jeder Nacht rollte der Donner der Artilleriegeschütze. Im Topf siedete das Wasser, und Jacob brühte Tee auf. Er setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und betrachtete die Pistole, deren Metallverschluss im Licht der Petroleumlampe glänzte.
»Du führst die Waffe geladen, gespannt und gesichert, Kleiner. Wenn du schießen willst, darf du nicht vergessen, den Sicherungshebel zu drücken.«
Einar hatte ihm auch die schwere Feueraxt gezeigt, die in einer Wohnung des zweiten Stocks bereit lag, um Eindringlinge zurückzuschlagen. Doch Jacob bezweifelte, dass er dazu in der Lage war, mit dieser unhandlichen Waffe zu kämpfen.
Wie mochte es sich anfühlen, Einar zu sein? Wie er durch diese Welt zu gehen? Als Krieger. Als Mörder. Jacob dachte daran, dass auch Emily einen Mann getötet hatte. Aber das hatte sie getan, um ihn zu retten. Ob auch Sander getötet hatte?
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. Ein Geräusch im Treppenhaus riss ihn aus den Gedanken. Er sprang auf, griff die Pistole und schlich zur Küchentür hinaus. Er lauschte. Irgendwo im Hausflur knarrten die Dielen. Jacob entsicherte die Pistole und wartete. Minuten vergingen. Er atmete durch. Er spähte durch die offenstehende Wohnungstür, trat in das Treppenhaus und schaute sich um. Nichts.
Er kehrte in die Küche zurück, ergriff die Petroleumlampe und ging im Erdgeschoss von Wohnung zu Wohnung. Nichts.
Obwohl der Ausbruch des Krieges viele Monate zurücklag, wurde ihm erst jetzt bewusst, dass die Welt seiner Kindheit verloren war. Irgendwie, er hätte es nicht genau erklären können, hatte er an der Vorstellung festgehalten, dies alles - der Krieg, die Zerstörung, die Schreie und die Leichen auf den Straßen - dies alles wäre eines Tages fort. Fort und vergessen, als wäre nichts davon geschehen. Mila, seiner Schwester, wäre wieder da und auch seine Eltern. Sie würden wieder in ihrem Haus leben. Doch das stimmte nicht.
Er setzte sich an den Esstisch, sicherte die Waffe und nippte an seinem Tee. Er fühlte den Luftzug, der durch die Küche strich und dann hörte er ein Seufzen, wie er es noch nie zuvor gehört hatte. Jacob wagte nicht, sich zu rühren.
Die Flamme im Brenner der Lampe züngelte über dem Docht. Jacob hob den Glaszylinder und blies sie aus. Er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erhob er sich und schlich aus der Wohnung. Im diffusen Rest des Mondlichts, das in den oberen Etagen durch die Fenster fiel, stieg er die Treppe hinauf bis in den dritten Stock. Eine Wohnungstür stand offen. Jacob trat in den Korridor, und da war es wieder. Aus einem der Zimmer drang ein Seufzen, ein Aufstöhnen, ein erstickter Schrei.
Jacob schluckte. In seinem Kopf war Leere, in seinen Füßen Blei. Lautlos näherte er sich dem Zimmer. Die Waffe lag schwer in seinen Händen. Er drückte den Pistolenlauf gegen die Tür, ein schwacher Lichtschein fiel in den Flur.
Jacob öffnete die Tür noch ein wenig mehr, nur einen Spaltbreit ... Beinahe wäre die Pistole aus seinen Händen geglitten. Im sanften Schimmer einer Kerze bog sich Emilys nackter Körper unter Einars Händen. Der Riese saß auf einem Stuhl, der Tür den mächtigen Rücken zugewandt. Emily ritt auf seinen Schenkeln, sie schlang die Arme um seinen Nacken, küsste seine Brust, leckte seinen Hals.
Jacob ließ die Waffe sinken. Atemlos stand er da und starrte auf Emily, die in den Armen des Hünen zart und zerbrechlich wirkte. Doch sie ritt Einar wie einen Bullen. Ihre Finger krallten sich in seine Schultern. Ihre Hüften kreisten wild, ihre Brüste wippten auf und ab. Einar ächzte, er walkte und knetete Emilys weißen Leib. Sein Atem ging in schweren Stößen. Der Stuhl unter ihm knarrte.
Jacob betrachtete Emilys Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund halb geöffnet. Ihre Lippen formten Worte, die er nicht verstand. Was auch immer sie jetzt fühlte, Jacob wünschte ... Emily schlug die Augen auf, und ihre Blicke begegneten sich.
Es war, als hätte ihn erneut ein Bolzen getroffen. Emilys Blick brannte sich in seinen Schädel, durch seine Brust, seine Eingeweide. Er wich zurück, eilte durch den Flur, das Treppenhaus hinab und hockte sich mit klopfendem Herzen im Erdgeschoss neben die Haustür.


Einar zog sich das Tuch vor das Gesicht und öffnete die Tür. Jacob taumelte zurück. Der Verwesungsgestank betäubte ihn.
»Schnell rein, schnell raus«, sagte Einar. »Ich habe die Brennblase schon demontiert. Wir schnappen uns das Ding und sind weg.«
Jacob presste den Ärmel seiner Jacke vor Mund und Nase und stolperte hinter Einar durch den Flur der Villa.
»Hier entlang«, sagte Einar und stieß die Kellertür auf. »Zünde die Kerze an. Kleb' sie auf das Geländer, damit wir was sehen beim Schleppen.«
Die Kupferbrennblase mochte zwei Zentner wiegen, und obwohl Einar über Bärenkräfte verfügte, war es eine erbärmliche Schinderei, den Kessel die Kellertreppe hinauf zu tragen.
»Lass uns das Ding kurz hier absetzen«, sagte Einar, als sie den Treppenabsatz erreichten. »Ja, so ist es gut.«
Jacob rieb sich die Schultern. »Ist verdammt schwer, das Teil.«
Einar nickte. »Und verdammt wertvoll für uns.«
»Was ist mit den Leuten hier passiert?«
»Sie wurden umgebracht«, sagte Einar. »Und jetzt verfaulen sie, wie all die anderen Toten in dieser Stadt. Los, lass uns weitermachen. Der Gestank bringt mich um.«
»Ich will sie sehen«, sagte Jacob.
Einar schüttelte den Kopf. »Nein, Kid. Das willst du nicht. Los, machen wir, dass wir hier rauskommen.«
Jacob bewegte sich nicht. »Erst will ich sie sehen.«
»Meine Fresse«, sagte Einar und kratzte sich am Nacken. »Vor zwei Tagen, da hast du dir die Hosen bepisst, und heute willst du die volle Horrorshow?«
Jacob nickte.
»Okay«, sagte Einar. »Aber erst schleppen wir das Ding rauf.«
»Nein«, sagte Jacob. »Ich weiß, wie du deine Versprechen hältst.«
Einar betrachtete ihn einen Moment lang. »Also gut«, sagte er schließlich. »Wie du willst.«
Jacob folgte Einar in den ersten Stock, in der Hand hielt er die brennende Kerze.
»Was du jetzt siehst, Kleiner, wirst du dein Leben lang nicht vergessen. Du wirst es nicht verstehen, deshalb erkläre ich es dir. Hier entlang.« Einar deutete auf einen großen Raum, den Salon des Hauses.
»Siehst du all die Bilder an den Wänden, Kid, die Vorhänge an den Fenstern?«
Jacob kämpfte gegen den Würgereiz, der Gestank war unerträglich.
»Die Leute hier sind seit Tagen tot, aber es wurde nicht viel gestohlen«, sagte Einar. »Und gleich wirst du wissen, warum.«
Im zuckenden Schein der Kerze trat Jacob hinter Einar in den Salon.
In der Nähe der Fenster, zehn oder zwölf Schritte entfernt, lagen fünf enthauptete Leichen. Wahrscheinlich hatten die Mörder ihnen die Köpfe auf den Bauch gelegt, denn zwei der Schädel ruhten eingesunken im weichen Gewebe unter den blanken Rippenbögen. Die drei anderen Köpfe lagen neben den Toten.
Jacob trat etwas näher und betrachtete die Leichen. »Sie bewegen sich!«, stieß er hervor.
Einar schüttelte Kopf. »Sieh' genau hin.«
Das Pulsieren der unbekleideten Leiber rührte von Tausenden dicker Maden her. Sie wimmelten und brodelten im toten Fleisch.
Jacob spürte, wie sich die Haare in seinem Nacken aufrichteten, Schweiß trat ihm auf die Stirn.
»Das Ehepaar hatte zwei Töchter und einen Sohn«, sagte Einar. »Geh näher ran.«
Jacob machte noch einen Schritt, hob die Kerze und betrachtete einen der abgetrennten Köpfe. Er gehörte einem der Mädchen, Jacob erkannte das blonde, zu Zöpfen gebundene Haar. Das Gesicht wirkte schrecklich entstellt. Es sah aus, als streckte die Tote ihm mit einem furchtbaren Grinsen die Zunge entgegen. Doch, Moment ...
Jacob stieß einen Schrei aus. Er fuhr herum und prallte gegen Einar, den Hünen. Er ließ die Kerze fallen, klammerte sich an Einar fest und schrie. Finsternis umfing sie.
»Sie haben die Frau, die Mädchen und den Jungen vergewaltigt«, sagte Einar in die Dunkelheit hinein, und Jacob schrie. Tränen flossen heiß an seinen Wangen herab.
»Sie haben dem Mann und dem Jungen die Schwänze abgeschnitten und den Mädchen in den Mund gestopft.« Einars tieftönende Stimme erfüllte den Raum. Jacob presste sich an ihn und hörte, wie sie im Inneren des Riesen widerhallte. Er wimmerte, biss sich auf die Lippen.
»So bestrafen sie alle, die den Partisanen helfen«, sagte Einar. »So zeigen sie uns, dass man uns das Maul stopfen wird, wenn wir mit den falschen Leuten reden. Und deshalb meiden Plünderer das Haus. Vorerst.«
Nachdem sie den Brennkessel auf den Handkarren gewuchtet hatten, nahm Einar das Tuch vom Gesicht und steckte sich eine Zigarette an. »War 'ne bescheuerte Idee von dir, Kid.«
Jacob schwieg, und als Einar den Karren anzog, half er, indem er den Brennkessel in Balance hielt.
»Das ist die Welt, in der wir leben«, sagte Einar. »Deshalb musst du lernen, wie man kämpft, wie man schießt, wie man eine Handgranate wirft.«
Einar blieb stehen. Jacob sah ihn aus geröteten Augen an.
»Das war der Zorn des Ares, Kleiner. Er ist der verfickteste, blutrünstigste Gott im ganzen Olymp. Der Gott des Massakers, des Schlachtens und Metzelns.«
Einar zog an seiner Zigarette. »Und das hier«, er machte mit den Armen eine Geste, die die ganze Stadt einschloss, »das hier ist sein verdammter Spielplatz.«


Jacob trat in die Küche. »Kann ich mich zu dir setzen?«, fragte er.
»Sicher«, sagte Emily.
Sie hockte mit übereinandergeschlagenen Beinen am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und rauchte. Das Licht der Petroleumlampe zeichnete einen harten Schatten auf die linke Seite ihres Gesichts.
»Lass mich mal ziehen«, sagte Jacob.
Emily strich etwas Asche am Rand der Blechbüchse ab, die neben ihr am Boden stand. Sie streckte den Arm aus und hielt Jacob die Zigarette hin. »Nimm sie, ich dreh mir eine neue.«
Jacob nahm die Zigarette und stand einen Moment lang unschlüssig in dem kahlen Raum.
»Was ist?«, sagte Emily und lachte. »Weißt du nicht, ob du dich aufs Sofa oder in den Sessel setzen sollst?«
Jacob rückte den Küchenschemel unter dem Tisch vor und setzte sich. Er zog an der Zigarette und paffte den Rauch hinauf zur Decke.
»Warum haben wir eigentlich nur so wenige Möbel?«, fragte er.
»Das meiste Holz brauchten wir für die Sicherung der Fenster«, antwortete Emily. Sie zog ihr Tabakpäckchen aus der Manteltasche und begann, sich eine Zigarette zu drehen. »Wir haben auch eine ganze Menge verfeuert.«
»Wenn der Winter kommt, brauchen wir einen guten Ofen«, sagte Jacob und rauchte. »Dieser Kochherd da taugt nicht viel.«
»Mir wird übel, wenn ich daran denke, den Winter in dieser Stadt zu verbringen«, sagte Emily.
»Du könntest die Stadt verlassen. Viele Leute sagen, weiter oben an der Grenze ist nicht so schlimm.«
Emily schüttelte den Kopf. »Ich bleibe mit Sander und Einar zusammen.«
»Hm.«
»Und du? Warum haust du nicht ab?«
Jacob strich mit der Handfläche über den Tisch.
»Meine Eltern«, sagte er. »Mila, meine Schwester. Wenn sie zurückkommen ...«
Emily betrachtete ihn lange.
»Naja«, sagte sie schließlich und zeigte auf den eisernen Herd. »Also den haben wir aus einem Nachbarhaus rüber geschleppt.«
Jacob sah auf. »Mit ein bisschen Schrott könnte ich einen besseren bauen.«
Emily nickte. »Ich habe gesehen, dass du im Keller mit dem Gestell für den Brennkessel angefangen hast.«
»Wäre toll, wenn ich es schweißen könnte, aber es wird auch so gehen.«
»Du kannst schweißen?«
»Hat mir mein Onkel beigebracht.«
»Schweißer scheint mir kein typischer jüdischer Beruf zu sein.« Emily lachte wieder und Jacob betrachtete ihre schönen Zähne.
»Er war Lehrer«, sagte Jacob. »Schweißen war nur so ein Hobby.«
Einen Augenblick lang wirkte es, als wollte Emily eine Frage stellen, doch dann steckte sie ihre Zigarette an und schwieg.
»Mit der Brennanlage könnte ich in zwei, drei Tagen fertig sein«, sagte Jacob, erhob sich und machte ein paar Schritte durch den Raum. Er öffnete die Feuerklappe des Kochherds und warf die Zigarettenkippe hinein.
»Wollen wir ein bisschen einheizen?«, fragte er.
Emily schaute ihn an und überlegte, als hätte er sie vor ein schwieriges Problem gestellt.
»Klar«, sagte sie dann, nahm einen Zug von ihrer Zigarette und blies langsam den Rauch aus. »Mach mal.«
Als das Feuer im Herd knackte, drehte Jacob den Docht der Petroleumlampe ein wenig herunter. Rötliches Licht erfüllte den Raum.
»Jetzt können wir auf der Herdplatte auch Tee kochen.«
»Du vergisst aber nicht, dass ich hier Wache schiebe, ja?«, sagte Emily. Sie drückte die Zigarette in der Blechbüchse aus.
Als der Tee fertig war, reichte ihr Jacob eine dampfende Tasse und hockte sich neben sie.
»Ich hab das von letzter Nacht gehört«, sagte Emily und blickte Jacob an.
»Hm.«
»Sagst du mir, warum du die Toten sehen wolltest?«
Jacob hob die Schultern und öffnete den Mund. Aber dann schwieg er.
»In allen Straßen liegen Leichen«, sagte Emily. »Also, warum diese?«
»Ich hab mir die Toten nie genau angeschaut«, sagte Jacob.
»Aber gestern wolltest du es?«
»Ja, wurde Zeit.«
»Es wurde Zeit? Warum?«
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. »Ich bin kein Kind mehr«, sagte er schließlich. »Ich bin ein Mann.«
Emily lächelte. Sie trank. »Willst du über die vorletzte Nacht sprechen, als du Einar und mich gesehen hast?«
Jacob nagte an seiner Lippe und schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Wie habt ihr euch kennengelernt, also, ihr drei?«
Emily betrachtete ihn einen Moment lang schweigend. Sie räusperte sich und sagte: »Sander und Einar kannten sich schon, als ich ihnen über den Weg gelaufen bin. Ich suchte Schutz und die beiden suchten ... Wir passten gut zusammen.«
»Ich verstehe nicht, wieso Einar Sanders Befehlen gehorcht.«
Emily lachte. »Ja, das ist schräg.«
»Erklär es mir.«
Es wurde warm in der Küche. Emily stellte die Tasse auf den Boden. Sie wand sich aus ihrem Mantel und raffte ihr Haar im Nacken zusammen. Jacob beobachtete sie.
»Einar ist von diesen griechischen Mythen besessen«, sagte Emily.
»Habe ich gemerkt.«
»Ja, und da gibt es zwei Helden, die sind genau nach seinem Geschmack. Ajax und Achill.« Sie zog ein Tuch aus der Seitentasche ihrer Tarnhose und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz.
»Unter den Sterblichen gab es keinen Krieger wie diese beiden.« Emily lächelte. »Blutrünstig waren die, die übelsten Schlächter unter dem Himmel. Killer mit sengendem Blick und schwarzen Lippen.«
Irgendwo vor dem Haus peitschten drei, vier Schüsse durch die Nacht.
Jacob und Emily lauschten.
Im Ofen knisterte das Feuer. Jacob betrachtete Emilys Gesicht. Er folgte der feinen Linie, die von ihrem Kinn abwärts führte.
»Aber da gab es noch einen anderen«, fuhr Emily fort. »Odysseus hieß der.«
»Ich kenne Odysseus«, sagte Jacob und verzog das Gesicht. Er lachte.
»Naja, der Typ war ja auch ein Krieger«, sagte Emily. »Aber er war vollkommen anders als Ajax und Achill.«
»Ja?«
Emily ergriff ihre Tasse und führte sie zum Mund. Jacob beobachtete, wie sie die Lippen befeuchtete und trank.
»Der Typ«, sagte Emily, »war schlau. Mehr als schau. Vielleicht war er sogar weise, keine Ahnung. Er besiegte seine Feinde mit List.«
»Und was hat das mit Einar und Sander zu tun?«
Emily hob die Schultern. »Einar hält sich für Achill und Sander ...«
»Er hält Sander für Odysseus?« Jacob schüttelte den Kopf und lachte.
»Einar sagte mal zu mir, Ajax und Achill hätten auf Odysseus hören sollen. Sie starben, weil sie zu stolz waren, dem Klügeren zu folgen.«
»Naja«, sagte Jacob. »Es scheint ja zu funktionieren.«
Emily lachte. »Du glaubst nicht, was zwischen den beiden manchmal los ist. Aber am Ende wird immer gemacht, was Sander sagt.«
»Und du? Was denkst du?«
»Hm?«
»Hältst du Sander auch für Odysseus?«
Das Lächeln verschwand aus Emilys Gesicht. Sie stellte die Teetasse ab und richtete sich auf.
»Keine Ahnung ...« Sie strich eine Haarsträhne zurück und presste die Lippen zusammen. »Hör mal. Es ist spät. Geh schlafen, damit du nachher fit bist, wenn ich dich wecke.«
»Was ist los?«, fragte Jacob.
»Nichts. Da gibt's nur nichts zu sagen. Sander ist Sander.«
»Versteh ich nicht.«
Emily fuhr sich durch das Haar und hob die Hände. »Okay, es reicht jetzt«, presste sie hervor. »Geh schlafen, Kleiner. Zeit fürs Bettchen.«
Jacobs Züge wurden hart.
»Ist es, weil du ihn auch fickst?«
Emily starrte ihn böse an.
»Wovon redest du?«
»Sander. Fickst du ihn auch?«
»Sander? Der würde mich umbringen.«
Jacob wusste nicht, was er sagen sollte.
»Hör zu, Jacob. Hau jetzt ab. Ich brauche Ruhe und du auch.«
Jacob erhob sich. Er stellte seine Tasse auf den Tisch. Einen Moment lang stand er da und schaute Emily an. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.


Einar schleuderte den leeren Blechteller auf den Tisch und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Phantastisch«, sagte er. »Ich liebe Dosenfleisch und danke Gott für jeden Tag, an dem ich keine Ratte fressen muss.« Er hob die Arme und rülpste.
Emily verdrehte die Augen und schob das Geschirr zusammen. »Sind die Herren fertig? Darf ich abräumen?«
Das Donnern der ersten Geschütze begann.
Sander strich sich über den Bauch. »Lass mal«, sagte er. »Ich mach heute Küchendienst.«
Jacob schaute zu Emily hinüber. Sie hockte sich auf den Blechzuber und starrte auf die Spitzen ihrer Stiefel.
»Einar und ich übernehmen heute die Wache«, sagte Sander. »Emily und Jacob, ihr geht raus.«
»Wie lief es gestern Nacht?«, fragte Emily. »Habt ihr Beute gemacht?«
»Nur ein bisschen Munition und ein paar Blendgranaten«, sagte Sander.
»Aber wir haben einen Tipp bekommen, wo wir Zucker und Hefe abstauben können«, sagte Einar.
Sander nickte. »Das ist eure Aufgabe heute Nacht. Ihr habt noch zwei Stunden zum Ausruhen. Haut euch aufs Ohr. Nachher erkläre ich euch alles.«
»Das schaffe ich auch allein«, sagte Emily. »Jacob sollte weiter an der Brennanlage arbeiten.«
Sander schüttelte den Kopf. »Nein, ihr geht zu zweit.«
Emily erhob sich. »Fein«, sagte sie und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche.


Emily schaute durch das Glas ihres Gewehrs. Eine Strähne ihres Haars tanzte wie eine Schlange im Wind.
Sie setzte die Waffe ab. »Ich sehe nichts«, sagte sie, »aber irgendetwas stimmt nicht.«
Jacob schaute sich um. Sie hockten im Schutz einer Hauswand, die Straße vor ihnen schien menschenleer. Es war eine sternenklare Nacht, das Schwert des Orion leuchtete inmitten der Schwärze des Alls.
»Riechst du das?«, sagte Emily. »Was ist das?«
Jacob wollte etwas sagen, da zerriss eine Explosion die Luft. Der Boden unter ihren Füßen bebte. Ohrenbetäubendem Donnern folgte eine eine gewaltige Druckwelle. Sie jagte in einer Staubwolke heran, die Häuser erzitterten.
Emily hustete. Sie deutete mit der Hand die Straße entlang und rief Jacob zu: »Die ist da vorn eingeschlagen. Lass uns schauen, ob Leute verletzt wurden.«
Sie rannten los, sprangen über Schutt und aufgerissenen Asphalt, bogen um eine Häuserecke. Rauch biss in ihre Kehlen. Emily stoppte abrupt, Jacob prallte gegen sie und sah ... Jacob begriff nicht, was er da sah.
»Beweg dich nicht«, sagte Emily. Sie ließ die Waffe sinken.
Die Hitze verschlug Jacob den Atem. Er stand starr, blinzelte, hob die Hand über die Augen. Im flackernden Schein der brennenden Häuser bewegte sich die seltsamste Prozession, die er je gesehen hatte. Zwischen qualmenden Trümmern gingen Dutzende nackter Männer und Frauen. Ihre Körper waren mit weißer Asche bestäubt, ihre Lippen schwarz gefärbt. Rußflocken wirbelten durch die Luft.
An der Spitze des Zuges schritt eine hochgewachsene Frau. Sie trug ein Sturmgewehr in den Händen, bunte Tücher und Reiherfedern schmückten ihr langes Haar, eine Kette aus Patronenhülsen schwang zwischen den Brüsten. Ihr folgte eine gehörnte Gestalt, Mann oder Frau war ungewiss. Ein kolossales Cape umhüllte sie. Nur die Büffelhörner waren deutlich zu erkennen.
»Fuck«, sagte Emily. »Das sind Sanders Leute.«
Jacobs Lippen öffneten sich. Er schaute zu Emily und dann wieder zu dem Menschenzug, wo sich die Anführerin jetzt ihnen zuwandte und einen Arm hob. Die Prozession stoppte.
»Scheiße«, sagte Emily. »Wir sind erledigt.«
Die Anführerin drehte sich zu der Gestalt mit den Büffelhörnern um und neigte ihren Kopf. Es wirkte, als ob sie miteinander sprachen, doch die Lippen der Frau bewegten sich nicht.
»Lass uns abhauen«, sagte Jacob. Sein Blick glitt über die Menschenmenge. Einige der Männer und Frauen trugen Gewehre. Äxte und Speere zitterten in der Luft.
»Keine Chance«, sagte Emily tonlos. »Drehen wir uns um, sind wir tot.«
Der Blick der Anführerin richtete sich wieder auf sie. Sie streckte ihnen den Arm entgegen.
»Komm«, sagte Emily.
»Bist du verrückt?«
»Es geht nicht anders.«
Jacob folgte Emily. Er stemmte sich gegen die Hitze, gegen die Angst in seinem Herzen. Sie traten vor die Führerin des Zuges. Die Frau schaute schweigend auf sie herab. In ihrem weißen, aschebestäubten Gesicht regte sich nichts. Hart blickten ihre schwarz umrandeten Augen, weit hob und senkte sich ihre nackte Brust.
Sie bleckte die Zähne und schwenkte das Gewehr. Emily wich zurück, Jacob stockte der Atem.
»Heute Nacht gehören die Straßen uns«, sagte die Frau. Sie sprach mit der Stimme eines Mannes.
Ganz in der Nähe brach der Dachstuhl eines Hauses zusammen. Funkenregen ging auf die Straße nieder.
»Verlasst diesen Ort. Hier gibt es nur den Tod für euch.«
Noch einmal entblößte sie ihr Gebiss, dann hob sie das Kinn.
»Komm«, sagte Emily und packte Jacob am Arm.
Sie wandten sich um und liefen los. Jacob spürte den Blick der Frau im Rücken.
»Nicht umdrehen«, sagte Emily. »Drehst du dich um, sind wir tot.«
Etwas knarrte, und Jacob fuhr hoch.
Emily stand in der Tür. Sie hielt die Petroleumlampe in der Hand.
»Mach dich bereit«, sagte sie. »Wir müssen los.«


Emily hatte kaum ein Wort mit ihm gesprochen. Schweigend waren sie in die Nacht aufgebrochen, schweigend erreichten sie das verfallene Haus am Hafen, wo ein Schwarzmarkthändler seine Geschäfte trieb. Jetzt, auf dem Rückweg, hielt es Jacob nicht mehr aus.
Er packte Emily am Handgelenk. »Ich will nicht, dass wir uns streiten«, sagte er.
Emily schaute ihn an. »Okay«, sagte sie. »Und jetzt lass mich los. Wir müssen weiter.«
Ein wenig später waren im morgendlichen Dunst bereits die Konturen ihres Hauses auszumachen. Das Licht der aufgehenden Sonne warf einen orangefarbenen Schimmer über die zerstörte Stadt.
»Du hast mich nach Sander gefragt«, sagte Emily. »Er ist der Teufel.«
Sie blieb stehen. »Und wir brauchen ihn.«
Jacob schaute sie an. Sie hielt das Gewehr vor der Brust und suchte mit dem Blick die Straße ab.
»Guck nach vorn«, sagte sie und ging weiter. »Hier könnte jederzeit ...«
Ein Schlag traf Jacob seitlich am Kopf. Seine Knie knickten ein, er stürzte. Einen Moment lang verdunkelte sich Welt. Er hörte, wie Emily schrie. Ein Stiefeltritt warf ihn auf den Rücken. Als er aufblickte, starrte er in den Lauf einer Schrotflinte.
»Wenn wir mit der Fotze fertig sind, bist du dran, Jungchen«, sagte der Mann hinter der Flinte und setzte Jacob den Stiefel auf die Brust.
Jacob dröhnte der Schädel, Blut lief heiß über seine Wange.
»Fick dich, Perkov«, hörte er Emilys heisere Stimme und drehte den Kopf.
Es waren vier oder fünf Männer. Sie hatten Emily Mantel und Hemd heruntergerissen und zielten mit ihren Waffen auf sie.
»Du weißt, wer ich bin?«, sagte einer der Männer. Er trug einen schäbigen Ledermantel, eine breite Narbe lief quer über sein Kinn.
Perkov lachte, und seine Männer lachten mit ihm. Er löste das Schloss seines Koppels und öffnete den Mantel.
Jacob schaute die Straße hinab. Dort, keine dreihundert Meter entfernt, warteten Einar und Sander auf sie.
Der Schlag einer flachen Hand klatschte. Jacob blickte zu Emily. Sie stand wankend zwischen den Männern, mit blutenden Armen schützte sie ihre nackte Brust. Dunkel sickerte ein Rinnsal aus einer Wunde über ihrer Stirn.
Perkov richtete die Pistole auf Emily. »Komm her«, sagte er, während er seine Feldhose aufknöpfte. Einer der Männer trat ihr in die Beine, packte sie bei den Haaren und stieß sie vor Perkov auf die Knie. »Mach den Mund auf, Nutte.«
Emily spuckte auf den Boden, doch der Mann hinter ihr riss ihren Kopf zurück. Sie starrte Perkov in die Augen und presste die Lippen zusammen.
Jacob wollte sich abwenden, doch die Mündung des Flintenlaufs bohrte sich in seine Wange. »Nicht doch, Süßer. Du verpasst was.«
In einem der Fenster am Ende der Straße, dort wo im vierten Stock ihres Hauses die Wasserdestille stand, blinkte eine Reflektion.
Perkov strich mit dem Lauf der Pistole über Emilys Wange. »Mund auf«, sagte er.
Emily schloss die Augen.
Ein ungeheurer Knall peitschte durch die Straße. Als hätte etwas von der Größe einer Faust sein Gesicht durchschlagen, platzte Perkovs Kopf. Das Echo des Schusses hallte von den Häuserwänden wider. Die Pistole in der Hand schwankte Perkovs Körper vor und zurück, und noch ehe er auf den Boden schlug, krachte ein zweiter Schuss. Ein Blitz zuckte und alles versank in gleißender Helle.
Schüsse, Schreie, dann Einars Gebrüll. Jacob sah die Gestalt des Riesen, mit einer Axt hieb er auf seine betäubten Gegner ein.
»Emily!«, rief Jacob. Er rollte sich herum und kroch über die Straße.
»Hier, Jacob. Ich bin okay.«
Sie saß benommen auf dem schmutzigen Asphalt - das Haar verklebt, Gesicht, Brust und Schultern schwarz von Perkovs Blut. Jacob legte die Arme um sie, zog sie an sich heran. Einen Moment lang saßen sie so da, hörten die Schreie, hörten wie Einars Axt Knochen und Schädel zertrümmerte - Achill schlachtete seine Feinde. Dann Stille.
Einar trat zu ihnen.
»Gehen wir heim«, sagte er.


Emily nannte ihn Moonshine, aber dieser Alkohol war nicht mit dem üblichen Fusel zu vergleichen, der in der Stadt als Tauschmittel diente. Jacob hatte die Destille im Keller fertiggestellt und nach Sanders Anweisungen in mehreren Durchgängen etwas Hochprozentiges gebrannt.
Seit der Dämmerung saßen sie zusammen in der Küche und feierten, obwohl es nicht viel zu feiern gab. Emily hielt Sander immer wieder ihre Tasse hin und er goss nach. Einar und Jacob tranken aus Teebechern, Sander aus einem gesprungenen Whiskeyglas. Im Kochherd knisterte ein Feuer. In dieser Nacht würde niemand das Haus verlassen.
»Ich habe den Partisanen heute das Gewehr gebracht«, sagte Sander. »Lief alles, wie verabredet.«
Einar nickte. »Ein Jammer«, sagte er.
Jacob dachte an Perkov und an Sanders Schuss.
»Wo hast du das gelernt«, fragte er. »Ich meine, so zu schießen.«
Sander winkte ab. »Hab doch schon gesagt, es war viel Glück dabei.«
Einar lachte auf. »Ja, genau. Wie beim zweiten Schuss.«
Lange vor Mitternacht waren sie alle betrunken.
Sander saß neben der Tür am Boden, den Rücken gegen die Wand gelehnt und schlief. Emily konnte sich kaum noch auf dem Blechzuber halten. Jacob hockte neben Emily und versuchte Einar zu folgen, der vom Tisch aus auf ihn einredete.
»Er fließt unter der Erde«, sagte Einar. »Sein Wasser ist schwarz.«
»Unter der Erde?«
»An seinem Ufer stehen die Menschen und warten.«
Jacob trank. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber es machte ihm nichts mehr aus. Emily hatte sich an ihn gelehnt. Ihr Atem strich über seinen Hals.
»Worauf warten diese Menschen?«, fragte Jacob.
»Sie warten auf Charon, den Fährmann«, sagte Einar.
Jacobs Blick fiel auf Sander. Im Schein der Petroleumlampe wirkte es, als bewegten sich seine Augen unter den geschlossenen Lidern.
»Er bringt die Menschen in die Unterwelt«, sagte Einar.
»Versteh ich nicht«, sagte Jacob.
Einar schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Emily schreckte hoch.
»Die Sache ist die«, sagte Einar. »Die Menschen sind tot, aber sie wissen es nicht. Sie verstehen nicht ... dass ...«
Er hatte Mühe zu sprechen, nahm einen Schluck aus seinem Becher und atmete geräuschvoll aus. Dann sagte er: »Die Überfahrt ist nur der letzte Akt, verstehst du? Aber sie glauben es nicht.« Er sank auf den Tisch. »Sie wissen nicht, dass sie tot sind«, wiederholte er und schlief ein.
Einars letzter Satz hallte in Jacobs Kopf nach.
»Komm«, sagte Emily, erhob sich und zog ihn hinter sich her. Sie griff nach einer ungeöffneten Flasche Moonshine, die auf dem Tisch stand. »Die nehmen wir mit.«
Jacob ließ sich von Emily nach oben in ihr Zimmer führen.
»Zieh dich aus«, sagte sie und entzündete zwei Kerzen, die auf einem Tisch neben dem Bett standen.
Jacob rührte sich nicht. Er fühlte sich schlagartig nüchtern und blickte im Raum umher.
»Mach schon«, sagte Emily lächelnd. Sie öffnete die Feuerklappe des Ofens und legte ein paar Scheite Brennholz in die Glut. Sogleich begann es, im Ofen zu knacken.
Jacob entkleidete sich, warf Hemd und Hosen auf den Boden.
»Zieh alles aus«, sagte Emily. Sie löste den Verschluss des Moonshine und setzte die Flasche an die Lippen. Sie trank einen Schluck, und als Jacob nackt vor ihr stand, stellte sie die Flasche auf den Tisch.
»Setz dich auf den Stuhl dort.«
Jacob dachte an die Nacht, in der er Emily und Einar beobachtet hatte. Emily öffnete ihr Hemd und löste das Koppelschloss ihrer Feldhose. Im Gegenlicht der Kerzen umgab sie eine schimmernde Aura.
Jacob machte ein paar Schritte durch den Raum und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer stand.
»Schau mich an, Jacob«, sagte Emily und streifte das Hemd über ihre Schultern.
Jacob blickte in ihre Augen. »Du bist ... sehr schön«, sagte er.
»Schau meinen Körper an«, sagte Emily. Sie ließ all ihre Kleider auf den Boden fallen und stand still da. Ihre helle Haut schimmerte im rötlichen Schein der Kerzen. »Möchtest du, dass ich zu dir komme?«
Jacob nickte.
Emily trat vor ihn, so dicht, dass er den Duft ihres Körpers wahrnahm. Er schaute zu ihr hinauf, versuchte in ihren Augen zu lesen. Sie legte die Hände auf seine Schultern, und die Berührung durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag.
Emily streichelte Jacobs Arme, seine Brust. Sie schmiegte sich an ihn, küsste seine Wange, seine Lippen, seinen Hals.
Dann hockte sie sich vor ihn, strich mit den Händen über seinen Bauch, seine Schenkel. Sie hielt inne, blickte zu ihm herauf und sagte nichts. Jacob schluckte, er spürte das Beben seines Körpers, spürte seine schweißnassen Hände.
Er blickte in Emilys Augen, versank in ihrem Glanz, ihrer dunklen Tiefe.
Emily umfasste seine Hüfte und zog ihn ein wenig zu sich heran. Jacob fühlte den Hauch ihres Atems.
Emilys Blick strich langsam über seinen Hals, abwärts über seine Brust und immer weiter hinab. Dann betrachtete Emily sein Glied, das sich prall und zitternd vor ihrem Gesicht in die Höhe reckte. Sie betrachtete es lange und ohne ein Wort zu sagen.
Jacob saß da, seine Brust hob und senkte sich schnell. Er schluckte mit trockenen Mund, die Zunge lag schwer am Gaumen. An den Armen rollten Schweißperlen hinab.
Emily schaute wieder zu Jacob herauf. Ihre Hände strichen innen über seine Schenkel.
»Hat ein Mädchen schon mal deinen Schwanz in den Mund genommen?«, fragte sie, und ihr Blick sank tief in ihn hinein.
Jacob schüttelte den Kopf.
»Aber du hast schon mit einem Mädchen geschlafen?«
»Ja«, sagte Jacob tonlos.
Emily befeuchtete ihre Lippen.
»Möchtest du, dass ich ihn streichle?«
Jacob nickte. Er spürte die Wärme von Emilys Händen und rutschte auf dem Stuhl hin und her.
»Gefällt dir das?«, fragte Emily.
Jacob nickte. Emily schaute in seine Augen, und dann wanderte ihr Blick wieder abwärts.
»Du hast einen schönen Schwanz, Jacob«, sagte sie. Ihre Züge wirkten jetzt völlig entspannt. Sie öffnete ein wenig die Lippen und griff etwas fester zu. Ihre Finger betasteten Jacobs Penis, streichelten und drückten ihn.
»Er fühlt sich gut an«, sagte sie. »Glatt, heiß und hart.«
Ein Schauer jagte Jacobs Rücken empor.
»Möchtest du, dass ich deine Eier streichle?« Emilys Blick traf ihn mit einer Heftigkeit, die ihn beinahe vom Stuhl rutschen ließ.
»Ich möchte sie gern in die Hand nehmen«, sagte sie. »Aber ich weiß nicht, ob dir das gefällt.«
Jacob nickte und er spürte, wie Emily mit einer Hand hinab strich und seine Hoden umfasste. Er spürte die Hitze ihrer Handfläche, spürte, wie Emily ein wenig fester drückte, sanft an seinen Hoden zog, sie streichelte und knetete. Mit der anderen Hand massierte sie seinen Penis, presste ihn und strich mit dem Daumen die Unterseite entlang.
Jacob hielt es kaum noch aus. In einer schnellen, ungeschickten Bewegung beugte er sich vor und griff nach Emilys Brüsten.
Emily hob den Kopf und schaute ihn an. Ohne den Griff ihrer Hände zu lösen, richtete sie sich ein wenig auf und streckte den Rücken.
»Mach nicht so schnell«, sagte sie. »Langsamer ist es schöner.«
Schwer lagen ihre Brüste in Jacobs Händen. Er streichelte und drückte sie, beobachtete, wie sich die Brustwarzen immer mehr aufrichteten, hart und dunkel wurden.
Emily schaute zu ihm auf. Ihre Hände begannen wieder, sein Glied zu streicheln und seine Hoden zu massieren. Der erste Samen tropfte herab, rann über Emilys Finger.
»Kannst du noch ein bisschen warten?«, sagte Emily.
»Ich ... weiß nicht.« Jacob rang nach Atem. Jetzt spürte er wieder, wie betrunken er war. Der Puls pochte in seinem Hals, in den Ohren rauschte es.
»Warte noch ein bisschen«, sagte Emily, ohne die Hände ruhen zu lassen.
Ihre Lippen näherten sich Jacobs zuckenden Glied. Jacob spürte ihre Hitze, fühlte, wie sie ihn berührten, ihn küssten.
Emily öffnete den Mund, Jacob lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Nein«, hörte er Emilys Stimme. »Schau mir zu.«
Jacob stöhnte. »Ich kann nicht. Ich ... ich will doch mit dir schlafen ... warte ...«
Er legte die Hände auf ihre Schultern, versuchte, Emily von sich wegzuschieben. Er wich auf dem Stuhl zurück, doch er konnte sich ihrem Griff nicht entwinden.
»Wir werden miteinander schlafen«, sagte Emily. »Wir haben noch die ganze Nacht.«
Sie zog an Jacobs Hoden, ein wenig fester diesmal, sie presste sein Glied, nahm es tief in den Mund.
»Nein ... ich ... warte ...«, stöhnte Jacob.
Doch Emily war unbezwingbar. Sie streichelte ihn, saugte und leckte bis es aus ihm herausschoss. Sein Samen ergoss sich in Emilys Mund, und sie knetete seine Hoden, drückte und rieb sein Glied, als wollte sie auch den letzten Tropfen aus seinem Körper pressen.
Vor Jacobs Augen drehte sich der Raum. Emily streichelte seine Schenkel, seine Brust. Sie erhob sich, ging hinüber zum Tisch und trank ein Schluck Moonshine.
»Leg dich aufs Bett«, sagte sie. »Ruh dich einen Moment aus. Wir sind noch lange nicht fertig.«


Jacob erwachte von einem Schmerz in der Stirn, so heftig und glühend, dass er sich benommen aus dem Bett wälzte und die Schläfen rieb. Emily lag schlafend unter der Fleecedecke. Neben der Pritsche auf dem Boden stand die geleerte Flasche Moonshine.
Jacob wankte zum Fenster und hob die Feldplane. Es war heller Tag.
Während er sich ankleidete, dachte er an die vergangene Nacht. Er sah Emily, die sich über ihn beugte, ihn auf das Bett drückte und ... Verdammt, wo waren Sander und Einar?
Jacob trat aus der Wohnung und spürte den Luftzug, der durch das Treppenhaus strich. Langsam ging er nach unten.
Den ersten Toten fand er im zweiten Stock. Er lehnte mit gebrochenem Genick am Geländer.
Im Erdgeschoss lag ein Mann mit zertrümmerten Schädel. In der Hand hielt er eine alte Armeepistole. Unzählige Fliegen schwirrten hier durch den Hausflur. Hirnmasse und geronnenes Blut klebten an den Wänden.
In der Küche fand Jacob Einar. Sie hatten ihn getötet, wo er gestern Nacht eingeschlafen war. Die Klinge seines Bajonetts steckte zwischen seinen Schulterblättern.
Der dritte Fremde lag auf der Schwelle der Haustür. Es wirkte, als wäre er im Lauf erschlagen worden.
Jacob stieg über ihn hinweg und trat vor das Haus. Über die Straße wehten staubige Böen. Sander lag mit zerfetztem Hemd auf dem rissigen Asphalt, er hielt noch immer die Feueraxt in der Hand.


Jacob zog die Tür hinter sich ins Schloss. Emily schaute ihn an.
»Warum machst du das?«, sagte sie. »Wir kommen nicht mehr zurück.«
Jacob nickte. Er zog die Riemen seines Rucksacks fest, schulterte das Gewehr und ergriff Emilys Hand.
Schweigend liefen sie durch die Nacht. In der Ferne rollte der Donner der Geschütze.

 

Hallo Achillus,

Habe die Kurzgeschichte gelesen und eigentlich nicht wirklich etwas auszusetzen. Layout ist super, Lesen geht gut von der Hand. Die Thematik ist interessant, die Dialoge gut bis sehr gut.

Mein einziger Kritikpunkt (ein relativ kleiner) ist, dass die Figur des Jacobs stellenweise, angesichts der Gesamtumstände, doch ein klein wenig zu naiv geraten ist.

Grüße
Henrik

 

Hallo Achillus,

ein paar Kleinigkeiten:

Er wurde gepackt und herum gerissen.
herumgerissen

Emily nickte. »Die sind gelaufen, wie die Hasen. Unser altes Sturmgewehr hat sie beeindruckt.« (KEIN ZEILENWECHSEL)
Sie lachte. »Nur dich herzuschleifen war kein Spaß. Du konntest dich kaum auf den Beinen halten.«

»Mach dir keine Gedanken, ich war nicht wegen dir beim (???)«, sagte Emily.

Puh, das muss ich erst mal sacken lassen und am besten ein zweites Mal lesen. Hat mich stark beeindruckt … :thumbsup:

Bis dann.

Beste Grüße,
GoMusic

 

Hallo Henrik,

danke für Deinen Kommentar. Den von Dir genannten Kritikpunkt, Jacob sei ein wenig zu naiv geraten, verstehe ich. Manchmal entwickelt eine Figur beim Schreiben ein Eigenleben und so war es auch hier. In einigen Passagen wirkt Jacob noch sehr kindlich, dann ist da aber auch wieder eine gewisse Reife. Vielleicht ist das Teenager-typisch, ich weiß es nicht.

Eine andere Frage ist nun, ob der Krieg ihn stärker brutalisiert und deformiert haben müsste. Ich denke, das hängt von der Eigenwelt ab, in die er sich geistig zurückgezogen hat, und darüber wird im Text nur wenig gesagt. Vielen Dank für Deinen Hinweis.

Gruß Achillus


Hey GoMusic,

danke für Deine Korrekturen, habe sie gleich umgesetzt, und danke auch für den kurzen Kommentar. Habe mich über Deine Rückmeldung gefreut und freue mich natürlich, wenn Du es auf Dich nimmst, das lange Teil noch mal zu lesen.

Gruß Achillus

 

Hi Achillus,

ich grüble noch immer und bin nicht ganz sicher, was ich mit der Teufelssache anfangen kann. Irgendwie hätte mir die Geschichte womöglich besser gefallen, wenn die gehörnte Gestalt etc. nicht vorgekommen wäre.
Das beschäftigt mich noch einige Zeit. Wenn ich da zu einem Ergebnis komme, melde ich mich nochmal.

Was anderes:

Ich habe hier mal Redebegleitsätze oder besser gesagt die stummen Bewegungen von Emily und Jacob vor der wörtlichen Rede aus 20 nacheinanderfolgenden Zeilen extrahiert.

Jacob nickte.
Emily befeuchtete ihre Lippen.
Emily hielt inne.
Jacob schüttelte den Kopf.
Jacob schwieg einen Moment.
Jacob räusperte sich.
Emily nickte.
Jacob rieb sich die Stirn.
Emily saugte an ihrer Lippe.
9 x finde ich für 20 Zeilen zu viel.
Außerdem ist der Aufbau immer gleich, was auf mich ermüdend wirkt.


An diesen Stellen finde ich die Zeilenwechsel überflüssig. Woanders machst du das nicht.

Emily verteilte ein wenig Tabak auf dem Zigarettenblättchen. Jacob betrachtete ihre schlanken Hände, verfolgte, wie Emily den Tabak knetete und rollte. (KEIN ZEILENWECHSEL)
»Ihr wart auf der Flucht?«
Jacob nahm einen Schluck von seinem Tee. (KEIN ZEILENWECHSEL)
»Ich bin kein Kind mehr«, sagte er schließlich. »Ich bin ein Mann.«
Emily lächelte. Sie trank. (KEIN ZEILENWECHSEL)
»Willst du über die vorletzte Nacht sprechen, als du Einar und mich gesehen hast?«
Jacob nagte an seiner Lippe und schüttelte den Kopf. (KEIN ZEILENWECHSEL)
Dann sagte er: »Wie habt ihr euch kennengelernt, also, ihr drei?«

Schönen Abend noch.

Beste Grüße,
GoMusic

 

Hallo Achillus,

hab mich durchgequält, aber nur weil es so düster war.
Sehr souverän geschrieben, keine Frage!

Der Romantik-Tag, ernsthaft?

Über zwei Wörter bin ich gestolpert, das waren die Lärchenholzdielen und das Hämatom. Interessant, dass deine Erzählstimme dir das ins Ohr geflüstert hat. In DER Situation wäre es mir sch...egal, ob das Eichen-, Kiefer- oder sonstwas für Holzdielen sind. Und beim Hämatom fühle ich mich wie beim Doktor. Reden Nichtmediziner so?

Ach ja, ein Tippfehler ist mir aufgefallen:
"Jacobs Blick fiel auf das Bajonett, das Einar wir ein Messer im Gürtel trug."

Ansonsten kann ich nix Geistreiches beitragen. Werde auf jeden Fall noch mal bei dir reinlesen.

LG, Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

An diesen Stellen finde ich die Zeilenwechsel überflüssig. Woanders machst du das nicht.

Hey GoMusic,

ich staune, dass es zu einem Text von 60.000 Zeichen nicht mehr zu sagen gibt, aber gut, reden wir über Zeilenumbrüche ;)

Okay, im Ernst. Danke für den Hinweis. Werde ich nachher korrigieren. Und die Dialogbegleitsätze schaue ich mir auch noch mal an. Da hast Du sicher recht.

ich grüble noch immer und bin nicht ganz sicher, was ich mit der Teufelssache anfangen kann. Irgendwie hätte mir die Geschichte womöglich besser gefallen, wenn die gehörnte Gestalt etc. nicht vorgekommen wäre.

Ich hoffe, das irritiert (Dich) nicht zu sehr, denn es ging mir beim Schreiben nicht um eine Art Rätselgeschichte. Die apokalyptischen Visionen und mysteriösen Einzelereignisse sollen nur unterstreichen, dass sich die Gesellschaft in einem Auflösungsprozess befindet. Klar kann man da interpretieren, aber es gibt kein Richtig und Falsch, jedenfalls wurde das von mir so nicht angelegt.

Dass gehörnte Gestalten Assoziationen auslösen, liegt auf der Hand, aber der Text relativiert diese Gestalt ja auch durch andere merkwürdige Figuren, die nicht in das Teufel-Schema passen. Der Text verweist stellenweise auf mythische Erzählungen, die sich mit den aktuellen Ereignissen zu mischen scheinen, aber es gibt da keine konkrete Auflösung, falls Du danach gesucht hast.

Vielen Dank, GoMusic, dass Du nochmal reingeschaut hast.

Hey Anne, vielen Dank für Dein Feedback.

Ja, die ganze Geschichte ist ein wenig düsterer und brutaler geraten, als ich es ursprünglich beabsichtigt hatte. Das hat sich beim Schreiben entwickelt, fühlte sich da richtig an. Aber mir ist schon klar, dass man das nur in gewissen Dosen aushält. Ich erinnere mich daran, dass mich 1984 von Orwell total runtergezogen hat und mich gefragt habe, warum ich mir das antue. Hier mag es Dir ähnlich gegangen sein.

Der Romantik-Tag, ernsthaft?

Das ist ein bisschen schräg. Wenn man die Tags liest, denkt man automatisch – oder geht es nur mir so? – dass die in der Reihenfolge ihrer Relevanz dastehen, aber leider kann man das nicht ändern (oder hab ich was übersehen?) Es bleibt bei der alphabetischen Reihenfolge. Den Romantik-Tag hatte ich ganz ans Ende gesetzt. Am Anfang sollte Spannung stehen, dann Erotik.

Es ist kein wirklich erotischer Text und auch kein romantischer. Aber es kommen erotische Szenen drin vor und da läuft eben auch eine kleine Liebesgeschichte, bzw. da verliebt sich jemand. Ich werde die Tags vielleicht wieder rausnehmen, wenn das noch andere Leute irritiert.

Über zwei Wörter bin ich gestolpert, das waren die Lärchenholzdielen und das Hämatom. Interessant, dass deine Erzählstimme dir das ins Ohr geflüstert hat. In DER Situation wäre es mir sch...egal, ob das Eichen-, Kiefer- oder sonstwas für Holzdielen sind. Und beim Hämatom fühle ich mich wie beim Doktor. Reden Nichtmediziner so?

Für mich gehört Lärche zum billigsten Bauholz, müsste man Offshore fragen, ob das stimmt. Wollte damit nur sagen, dass es kein Eichenparkett ist. Und Hämatom ist für mich ein normales Wort, aber da mag ich mich irren.

Ansonsten kann ich nix Geistreiches beitragen. Werde auf jeden Fall noch mal bei dir reinlesen.

Tja, dann danke trotzdem. Auch für den Hinweis zum Tippfehler. Habe ich korrigiert.

Gruß Achillus

 
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Lieber Achillus,

hier sind es heute über 30 Grad und ich bleibe im kühlen Raum und lese Wortkrieger-Geschichten.

Deine Geschichte habe ich gelesen, weil du sie geschrieben hast und du zu denjenigen gehörst, deren professionelle Art des Schreibens mich immer wieder beeindruckt, so auch hier. Aber natürlich ist das nicht mein Lesestoff, nicht das, was ich lesen möchte. Ich bemerke beim Lesen, wie ich darauf warte, dass etwas passiert, das mir etwas sagt, mir den Zugang zu den Personen öffnet. Aber das liegt wohl an mir und meiner Distanziertheit solchen Texten gegenüber: Meine Distanz wird größer statt geringer. Die sehr detailreiche Stelle mit den Toten überfliege ich, das will ich alles gar nicht lesen und wissen. Und ich frage mich, warum Jacob sich das antut und finde auch dafür keine Erklärung.

Grundsätzlich habe ich das Problem mit deinem Text, dass ich ihn nicht einordnen kann, weder zeitlich noch geografisch. Alles ereignet sich in einer typischen Kriegssituation. Es gibt unterschiedliche Gruppen, Partisanen, Widerstandskämpfer, Heckenschützen, deren Motive sich mir nicht erschließen, deren Handlungen ich nicht in einen Gesamtzusammenhang bringen kann.
Viele Szenen erinnern mich an Berichte aus dem Zweiten Weltkrieg (Kampf ums Warschauer Ghetto), aber dort ist es ausdrücklich nicht. Eine Großstadt, vielleicht irgendwo in Europa (ein Stahlwerk, ein Zentralbahnhof), aber wo? Auch die Namen kann ich nicht zuordnen: Perkov (Russe?), Emily, Sander (Amerikaner?).

Dann denke ich, dass das dir gar nicht wichtig war, du nur die Menschen in dieser außerordentlichen Situation beschreiben möchtest, ihr Leben, das sich abspielt in einer Welt, in der die Gesetze des Krieges alles andere dominieren, eine Kriegs- bzw. Widerstandssituation irgendwo auf der Welt, losgelöst von geografischen Koordinaten und politischen Maximen, nur fokussiert auf die Akteure, die in sie involviert sind. Allerdings wird der Verzicht auf eine konkrete (politische) Einbindung für mich als jemand, der danach fragt, aus welchen Motiven heraus Menschen handeln, sie sich in außerordentliche und lebensbedrohliche Situationen begeben, letztendlich zur reinen Aktion, detailreich und gekonnt beschrieben zwar, aber ohne Möglichkeit, mich den von dir geschaffenen Personen zu nähern.

Jakob ist der einzige, der mir ein wenig näher kommt, den ich als Person einordnen kann. (Vielleicht auch noch Emily.)
Allerdings frage ich mich, warum Jacob Jude sein muss. Damit legst du ihn fest, ohne dass ich erkennen kann, welchen Sinn das in deiner Handlung hat. Welche Bedeutung hat es für deine Geschichte, ob Jakob jüdisch oder muslimisch ist?

Achillus, kann schon sein, dass ich deine Geschichte nicht verstehe, nicht hinter ihren Sinn steige, nicht deine Intention als Autor erkenne, nicht genau genug gelesen habe. Das mag an meiner Distanziertheit dem Stoff gegenüber liegen. Das Agieren der einzelnen Personen bleibt für mich ein äußeres Geschehen, das mich trotz der dargestellten Brutalität auf der einen Seite, des Hineingeworfenseins des jungen Jacobs in diese außerordentliche Situation und der Menschlichkeit Emilys nicht wirklich erreicht, weder auf einer rationalen noch auf einer emotionalen Ebene.
Was mir am Ende in Erinnerung bleibt ist ein Szenarium aus Töten und Getötet-werden, ein Cocktail aus Brutalität, Menschenverachtung und Gemetzel, dem du den naiven, unbelasteten Jacob und die menschlich gebliebene Emily gegenüberstellst. Insofern bleibst du der literarischen Tradition verbunden.

Der mythologische Bezug der Geschichte (und auch des Titels) hat sich mir leider nicht erschlossen. Was ist hier der Fluss Styx? Wer ist der Fährmann? Wer sind die Toten, deren Seelen der Fährmann in die Unterwelt bringen soll? Ich sehe nur Tote, keinen Fährmann, allenfalls den Krieg als Ufer des Flusses, durch den die Lebenden in die Welt der Toten gelangen.


Liebe Grüße
barnhelm

 
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Hallo Achillus

»Fuck«, sagte Emily. »Das sind Sanders Leute.«
Hier flog ich raus aus der Geschichte. Beim zweiten Mal lesen kam ich dann auf die Idee, dass Jakob hier geträumt hat. Es wäre mir klarer gewesen, wenn der Traum deutlicher als ein solcher zu erkennen wäre.
Abgesehen davon, verstehe ich diese ganze Sequenz in ihrem Kontext nicht, welche Bedeutung sie für die Handlung hat.
ich nehme an, die Parabel zum Totenfluß Styx ist von Bedeutung. Tatsächlich assoziierte ich die Gruppe Styx und das Boat on the River, als ich den Titel las.
Die Figuren sind vielleicht schon wie die Toten, die den Styx überqueren sollen und nicht wissen, dass sie doch schon tot sind.
Ich habe Schwierigkeiten, mit den Figuren in Nähe zu kommen. Du wählst Worte, die den Zerfall der Zivilisation vor Augen führen. Aber ist in 2 Jahren schon ein jedes Gebäude zerfressen, schimmelig und kotverdreckt?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Mir fehlt dazu auch die Darstellung des Verlustes, wie es vorher war. Die Heimat, die Verbundenheit, was Zivilisation für die Figuren vorher ausgemacht hat. Die Beschreibung des Stahlwerkes mit seinen Hochofen will ich beispielsweise anführen, weil du damit auch anfängst. Ich bin neben einem aufgewachsen. Wenn ich die Figuren verstehen möchte, ihren Verlust mitfühlen möchte, hätte ich mir eine Beschreibung gewünscht, wie es früher war und wie es jetzt aussieht. Ein Hochofen in seiner Funktion ist natürlich nicht besonders heimelig, aber es gibt etwas, das schön gewesen sein könnte.
Wenn z.B das heiße Gichtgas in der Nacht abgelassen wurde, wirkte es, als sei die Nacht in rosa Licht getaucht. Nur im Kontext mit einem jüdischen Jungen, würde ich das vielleicht nicht benutzen. :/
Warum legst du dich überhaupt auf einen jüdischen Jungen fest, der verfolgt wird. Muss der Apokalypse unbedingt der Antisemitismus vorausgehen? Gerade der letzte Raketenstart in Nordkorea ist doch ein vortreffliches Beispiel, wie fragil unsere Zivilisation ist.
Mit deiner Geschichte fühle ich mich zurück versetzt in die Zeit des MAD Max in den 80 ger. Nur dass die Portion Brutalität in der heutigen Zeit zugenommen hat. Ich brauche diese Zurschaustellung verstörender Elemente nicht unbedingt, um zu wissen, wie grausam Krieg sein kann. Ich mag auch schon keine Nachrichten mehr gucken, weil es täglich Bilder gibt, die mir zuviel sind. Ich würde jedenfalls in so einer Welt, wie deine Figuren sie erleben, nicht überleben wollen. Ich könnte niemanden töten, und könnte ich auch nicht unter Dauerbeschuss in irgendwelchen Häusern hocken. Vielleicht kann ich deswegen auch nicht mit deinen Figuren empfinden. Und schon gar nicht kann ich den Sex erotisch finden, wenn quasi eine Vergewaltigung im Nachbarhaus stattfindet. Ich weiß aber, dass so kurz vor dem Untergang, es möglich sein kann, dass alle Hemmungen fallen und die Triebe durchbrechen. Insofern passt es wieder.
Diesmal bin ich nicht so begeistert, aber Anerkennung findest du bei mir trotzdem, weil du sprachlich souverän schreibst und mir der Stil sehr gefällt.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 
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Hallo Barnhelm,

Du widmest mir eine Stunde Deiner Zeit für eine Geschichte, deren Thema Dich eher abstößt als anzieht. Das ist wirklich sehr nett von Dir und ich schätze das sehr. Vielen Dank.

Mir geht es so, dass ich die Qualität eines Textes nur schwer einordnen kann, wenn mich das Genre oder der Schauplatz auf Distanz hält. Das mag bei Dir ähnlich sein, deshalb weiß ich um so mehr zu schätzen, dass Du das Ganze sachlich und fair betrachtest. Natürlich kann und will ich auf Deine Empfindungen zu der Geschichte nicht einwirken, aber ein paar Gedanken möchte ich loswerden.

Ich bemerke beim Lesen, wie ich darauf warte, dass etwas passiert, das mir etwas sagt, mir den Zugang zu den Personen öffnet. Aber das liegt wohl an mir und meiner Distanziertheit solchen Texten gegenüber: Meine Distanz wird größer statt geringer.

Ich habe primär versucht, die Personen anhand ihre Handlungen und ihrer Aussagen zu charakterisieren. Und obwohl ich sie für realistische Figuren halte, haben alle etwas Archetypisches, denke ich. Da ist Einar, der Krieger, Sander, der Geheimnisvolle, Emily, die schöne Verführerin, Jacob, der Schüler.

Bei Jacob habe ich auch etwas Hintergrund gezeichnet, seine Empfindungen und seine Entwicklung innerhalb der etwa 14 Tage, die die Geschichte zeigt, lagen mir am Herzen.

Ich habe versucht, Pose und markige Sprüche wegzulassen, die Figuren authentisch zu zeichnen, nachvollziehbare Reaktionen (Überraschung, Schrecken, Angst, Erregung, Unsicherheit usw.) zu zeigen. Wenn sich Dir die Figuren nicht öffnen, dann weiß ich nicht genau, woran es liegt.

Die sehr detailreiche Stelle mit den Toten überfliege ich, das will ich alles gar nicht lesen und wissen. Und ich frage mich, warum Jacob sich das antut und finde auch dafür keine Erklärung.

Im Text findet sich dazu eine Andeutung, aber ich denke, das man die übersehen kann. Jacob fasst den Entschluss, sich dem Grauen zu stellen, weil er denkt, dass es an der Zeit ist, erwachsen zu werden und er glaubt, das müsse oder könne auf diese Weise geschehen.

Grundsätzlich habe ich das Problem mit deinem Text, dass ich ihn nicht einordnen kann, weder zeitlich noch geografisch ... Dann denke ich, dass das dir gar nicht wichtig war, du nur die Menschen in dieser außerordentlichen Situation beschreiben möchtest, ihr Leben, das sich abspielt in einer Welt, in der die Gesetze des Krieges alles andere dominieren, eine Kriegs- bzw. Widerstandssituation irgendwo auf der Welt, losgelöst von geografischen Koordinaten und politischen Maximen, nur fokussiert auf die Akteure, die in sie involviert sind. Allerdings wird der Verzicht auf eine konkrete (politische) Einbindung für mich als jemand, der danach fragt, aus welchen Motiven heraus Menschen handeln, sie sich in außerordentliche und lebensbedrohliche Situationen begeben, letztendlich zur reinen Aktion, detailreich und gekonnt beschrieben zwar, aber ohne Möglichkeit, mich den von dir geschaffenen Personen zu nähern.

Das ist ein bisschen eine Frage des Weltbilds. Grundsätzlich stimme ich Dir natürlich zu, dass unsere Handlungsweisen und Motivationen durch unseren gesellschaftlichen Hintergrund geprägt werden. Aber ob diese Geschichte nun in der Ukraine, in Russland, in Deutschland, Schweden oder Finnland spielt, macht meiner Ansicht nach für die psychischen Konflikte der Figuren keinen großen Unterschied.

Reine Aktion/ Action sehe ich in Literatur und Film dort, wo die psychischen Konflikte nicht oder nur gering thematisiert werden, wo Kämpfen, Töten und Gewalt keine Spuren hinterlässt. Aber in diesem Text sehen wir, hoffe ich, dass Jacob große Probleme damit hat, dass er gern ein bisschen wie Einar, der Krieger, wäre, aber es eben nicht ist. Bloße Action ist das für mich nicht.

Jakob ist der einzige, der mir ein wenig näher kommt, den ich als Person einordnen kann. (Vielleicht auch noch Emily.) Allerdings frage ich mich, warum Jacob Jude sein muss. Damit legst du ihn fest, ohne dass ich erkennen kann, welchen Sinn das in deiner Handlung hat. Welche Bedeutung hat es für deine Geschichte, ob Jakob jüdisch oder muslimisch ist?

Es hat keine Bedeutung, dass er Jude ist. Bedeutend ist, dass er dem Teil der Bevölkerung angehört, der verdächtigt und verfolgt wird. Irrationale Ressentiments gibt es gegen alle möglichen Bevölkerungsgruppen, sei es wegen ihrer Rasse, ihrer politischen Anschauungen, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung. Aber ich konnte in dem Text ja nicht schreiben: Jacob war (hier bitte selber eintragen: Jude, Flüchtling, homosexuell etc.)

Seit dem Mittelalter gab es in Kriegszeiten besonders viele Pogrome, in ganz Europa. Die Juden waren immer wieder Zielscheibe, auf die sich die Projektionen anderer Bevölkerungsteile konzentrierten. Deshalb habe ich die Figur so gewählt.

Achillus, kann schon sein, dass ich deine Geschichte nicht verstehe, nicht hinter ihren Sinn steige, nicht deine Intention als Autor erkenne, nicht genau genug gelesen habe. Das mag an meiner Distanziertheit dem Stoff gegenüber liegen.

Das Agieren der einzelnen Personen bleibt für mich ein äußeres Geschehen, das mich trotz der dargestellten Brutalität auf der einen Seite, des Hineingeworfenseins des jungen Jacobs in diese außerordentliche Situation und der Menschlichkeit Emilys nicht wirklich erreicht, weder auf einer rationalen noch auf einer emotionalen Ebene.


Ich habe mich bei diesem Text, auch angestoßen durch die damalige Diskussion mit Jimmy und anderen Leuten hier im Forum, bei der Innenschau sehr zurückgehalten. Ich habe bei der Korrektur viele Passagen gestrichen, in der Jacob über seine Situation reflektiert und bin immer wieder auf die Reaktionen zurückgekommen, die man ihm ansehen kann, sein Zittern, sein Erschrecken, sein Zögern, seine Tränen.

Ganz ohne Innerschau werde ich wahrscheinlich nie auskommen, aber ich fand, dass die Figur dadurch etwas mehr Autonomie erhält. Wenn sie Dir nichts sagt, dann weiß ich im Moment keinen Rat. Ich finde, man sieht diesen Menschen leiden, man sieht auch sein Begehren, seine Wünsche. Ich weiß nicht, was ich mehr tun kann, um das Mitgefühl des Lesers zu wecken.

Was mir am Ende in Erinnerung bleibt ist ein Szenarium aus Töten und Getötet-werden, ein Cocktail aus Brutalität, Menschenverachtung und Gemetzel, dem du den naiven, unbelasteten Jacob und die menschlich gebliebene Emily gegenüberstellst. Insofern bleibst du der literarischen Tradition verbunden.

Auch hier wieder ein wenig eine Frage des Menschenbildes: Du siehst darin das ganz und gar Unmenschliche. Ich sehe darin das Menschliche. Selbstverständlich ist das alles beklagenswert. Wir würden uns gern abwenden und sagen, so ist der Mensch nicht. Aber ich denke, dass wir das Menschliche nur verstehen, wenn wir uns ganz und gar diesem Aspekt seines Wesens öffnen und alle Illusionen ablegen. Ich denke, dass sich daraus etwas Gutes, wenn Du so willst, lernen lässt. Menschen in solchen Extremsituationen zu beobachten finde ich aufschlussreich. Und ich finde dort sogar vieles Positive. Der Zauber dieser Geschichte – aber ich bin natürlich befangen, keine Frage – entsteht für mich im Zusammentreffen von Horror und Schönheit. Schönheit, damit meine ich die von Dir genannte Menschlichkeit Emilys, aber auch die Reinheit von Jacob, sein inneres Ringen.

Der mythologische Bezug der Geschichte (und auch des Titels) hat sich mir leider nicht erschlossen. Was ist hier der Fluss Styx? Wer ist der Fährmann? Wer sind die Toten, deren Seelen der Fährmann in die Unterwelt bringen soll? Ich sehe nur Tote, keinen Fährmann, allenfalls den Krieg als Ufer des Flusses, durch den die Lebenden in die Welt der Toten gelangen.

Das Szenario im Spiegel von Einars Bezügen zu griechischen Mythen zu sehen, war eine mögliche Interpretation, die mir vorschwebte. Er sieht die Menschen der Stadt in einem Wartzustand. Sie warten auf den Tod.

Barnhelm, vielen Dank
und beste Grüße
Achillus

Hallo Goldene Dame,

auch Dir vielen Dank fürs Lesen und Deinen Kommentar. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass es schwierig ist mit einem Text warm zu werden, der einem vom Thema her so gar nicht liegt. Um so mehr schätze ich Deine Bemühung um den Text und Deine Hinweise.

Beim zweiten Mal lesen kam ich dann auf die Idee, dass Jakob hier geträumt hat. Es wäre mir klarer gewesen, wenn der Traum deutlicher als ein solcher zu erkennen wäre. Abgesehen davon, verstehe ich diese ganze Sequenz in ihrem Kontext nicht, welche Bedeutung sie für die Handlung hat.

Jacob verarbeitet hier Eindrücke, die er aus dem Gesamtszenario, den Aussagen Emilys und Einars und dem Verhalten Sanders gewonnen hat. Es ist ein düsterer, apokalyptischer Mix, dessen genaue Bedeutung – wie bei den meisten Träumen – kaum zu identifizieren ist. Aber es gibt auch ein prophetische Dimension darin, den Ratschlag, die Stadt zu verlassen, und das spielt später noch eine Rolle.

Ich habe Schwierigkeiten, mit den Figuren in Nähe zu kommen.

Das ging Barnhelm ähnlich, und ich werde sicher noch herausfinden, woran das liegt.

Du wählst Worte, die den Zerfall der Zivilisation vor Augen führen. Aber ist in 2 Jahren schon ein jedes Gebäude zerfressen, schimmelig und kotverdreckt?

Ich weiß nicht, ob Du die Doku "Die Welt ohne Menschen" (Life after People) kennst. Da wird gezeigt, wie schnell Gebäude und Städte zerfallen, wenn sie nicht gewartet werden (insbesondere in der Nähe von Flüssen und Sümpfen). Nach fünf Jahren wäre eine Stadt vollkommen überwuchert von Pflanzen. Aber der Zersetzungsprozess beginnt natürlich viel eher. Geplatzte Wasserleitungen, ungelöschte Brände, eine Stadt geht schnell vor die Hunde, wenn die normalen Instandhaltungsroutinen nicht funktionieren.

Mir fehlt dazu auch die Darstellung des Verlustes, wie es vorher war. Die Heimat, die Verbundenheit, was Zivilisation für die Figuren vorher ausgemacht hat.

Diesen Weg bin ich in einer anderen dystopischen Geschichte gegangen. In Der Klang des Meeres habe ich mit Zeitsprüngen gearbeitet und das Vorher und Nachher parallel beschrieben. Diesmal wollte ich mich auf mehrere Personen und eine detailliertere Geschichte innerhalb des Katastrophenszenarios konzentrieren.

Warum legst du dich überhaupt auf einen jüdischen Jungen fest, der verfolgt wird. Muss der Apokalypse unbedingt der Antisemitismus vorausgehen?

Dazu hatte ich schon Barnhelm geschrieben. Ich musste mich festlegen, weil ein Text nun einmal konkrete Aussagen machen muss. Ich kann ja nicht schreiben Jacob gehörte zu einer diskriminierten Bevölkerungsminderheit.

Mit deiner Geschichte fühle ich mich zurück versetzt in die Zeit des MAD Max in den 80 ger. Nur dass die Portion Brutalität in der heutigen Zeit zugenommen hat.

Der Vergleich geht für mich nicht ganz auf. Mad Max hat eine große Portion Humor. In meiner Geschichte gibt es so gut wie keinen Humor (vielleicht ist sie auch gerade deshalb so schwer verdaulich). Die Gnadenlosigkeit des Szenarios wird nicht oder kaum relativiert.

Ich brauche diese Zurschaustellung verstörender Elemente nicht unbedingt, um zu wissen, wie grausam Krieg sein kann.

Das glaube ich, und es war auch nicht meine Absicht, das zu demonstrieren. Mir ging es darum, wie sich die Figuren meiner Geschichte innerhalb dieses Chaos verhalten, und da werden verschiedene Strategien gezeigt.

Ich würde jedenfalls in so einer Welt, wie deine Figuren sie erleben, nicht überleben wollen. Ich könnte niemanden töten, und könnte ich auch nicht unter Dauerbeschuss in irgendwelchen Häusern hocken. Vielleicht kann ich deswegen auch nicht mit deinen Figuren empfinden.

Das ist ein hochinteressanter Punkt, der mich selbst sehr beschäftigt. Ist Leben um seiner selbst willen lebenswert? Wenn Leben zu einem Kampf ums Überleben wird, was bleibt dann? Geben wir auf oder machen wir weiter? Steht es überhaupt in unserer Macht, das zu entscheiden oder übernehmen uralte Instinkte unser Handeln?

Und schon gar nicht kann ich den Sex erotisch finden, wenn quasi eine Vergewaltigung im Nachbarhaus stattfindet. Ich weiß aber, dass so kurz vor dem Untergang, es möglich sein kann, dass alle Hemmungen fallen und die Triebe durchbrechen. Insofern passt es wieder.

In Asien wird die Lotosblume auch deshalb so sehr bewundert, weil ihre Schönheit mit dem Morast kontrastiert, in dem sie wächst. Ich verstehe Deine Abneigung, aber ich sehe es etwas anders. Hier wird ja nicht behauptet, dass da inmitten des Horrors zwei Menschen psychisch völlig unversehrt bleiben und frivole Gelüste entwickeln. Das ist keine Pornophantasie von Sex und Violence, zumindest hoffe ich das.

Ich denke, dass sich in dieser Szene Sehnsüchte nach einem anderen Leben, einem anderen Sein zeigen, natürlich auch nach Intimität und Liebe. Und für Jacob hat es noch den Charakter einer Initiation.

Diesmal bin ich nicht so begeistert, aber Anerkennung findest du bei mir trotzdem, weil du sprachlich souverän schreibst und mir der Stil sehr gefällt.

Ich kann Dir das nicht verdenken. Letztlich spiegeln sich darin auch verschiedene Sichtweisen auf das Sein. Ich denke, dass sich in diesen Extremsituationen auch Wahrheiten über die Conditio humana erkennen lassen. Was tun wir, wenn die gewohnten Sicherheiten wegfallen? Bei der Frage, ob Jacob aufgenommen werden soll, urteilen Einar, Emily und Sander sehr unterschiedlich. Sander scheint zwar mit Emily einer Meinung zu sein, aber seine Motivation ist eine andere: Er fragt, was Jacob leisten kann. Emily sieht den Menschen in Not, Sander sieht ein potentiell wertvolles Teammitglied.

Goldene Dame,
vielen Dank!

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo lieber Achillus,

so gerne wollte ich Deine Geschichte lesen, doch noch fand ich die Zeit bisher nicht dafür. Aber ich habe schon ein paar mal angefangen und jedes Mal stolperte ich über den ersten Satz:

Still lag das Stahlwerk im Licht des Mondes da, von den Sümpfen jenseits der Stadt wehte Verwesungsgeruch herüber

Wenn ich lese, dann frage ich mich immer, welches Bild in mir hervorgerufen wird, natürlich auch welche Stimmung etc., aber bei mir steht das Bild an erster Stelle. Dies liegt wohl in der Natur des Menschen, da der Sehsinn schlichtweg als der Wichtigste wahrgenommen wird (vielleicht ist Hören sogar wichtiger, aber das ist ein anderes Thema).

Deswegen möchte ich sofort am Anfang wissen - Neugierde in Person - womit es losgeht.

Nun, in Deinem Satz geht es mit der Stille los die liegt - natürlich ist das falsch. Das Stahlwerk liegt still, aber das erste Wort ist "still" und nicht "das Stahlwerk", weswegen zunächst im Gehirn der falsche Bezug entsteht.

Ja, ich bin der Pedant in Person - ich weiß.

Für mich wäre es stimmiger, mit dem Stahlwerk anzufangen:

"Das Stahlwerk lag still im Licht des Mondes"

Dadurch sparst Du auch das "da", worüber ich auch gestolpert bin.

Jetzt ist also das Stahlwerk vor meinem geistigen Auge, ruhig - vom Mondlicht beschienen. Ein monströser Koloss - furchteinflößend. Schönes Bild, leichte Gänsehaut.

Die zweite Satzhälfte:

"von den Sümpfen .."

Also Szenenwechsel? Nein, den meinst Du nicht, denn wenn man weiter liest, kommt ja der Verwesungsgeruch von den Sümpfen her - also zum Stahlwerk. Dieses Bild hat man aber erst am Ende des Satzes, wobei man von "still" - zum Stahlwerk - über den Sumpf - zum Verwesungsgeruch hoppelt.

Anders ist das, wenn die zweite Satzhälfte mit dem Verwesungsgeruch beginnt:

Verwesungsgeruch wehte herüber

Jetzt bleibe ich bei dem Stahlwerk im Mondschein, was mich eh schon gruselt und es wird noch gruseliger, weil es jetzt nach Verwesungsgeruch stinkt.

Nun kann man noch den Herkunft des Verwesungsgeruches anschließen:

von den Sümpfen jenseits der Stadt.

Damit hieße der Satz:

Das Stahlwerk lag still im Licht des Mondes; Verwesungsgeruch wehte herüber, von den Sümpfen jenseits der Stadt.

Jetzt bekomme ich bestimmt gleich wieder von irgendjemanden eins auf den Deckel, weil ich deinen schönen Anfangssatz zerstört habe usw.

Ich will aber nicht sagen, dass mein Satz besser ist oder schöner oder sonst etwas. Ich will Dir nur verdeutlichen, mit welcher Satzstruktur ich als Leser gleich ein klareres und eindrücklicheres Bild vor Augen habe, weil ich nicht gedanklich springen und ordnen muss.

Das ist alles und das ist mein Empfinden und ich beanspruche auch nicht, dass diese Empfinden Allgemeingültigkeit hat (aufgrund meiner Erfahrungen hier bin ich schon am Überlegen, ob ich nicht einen Standard-Disclaimer unter jeden Kommentar von mir setze - nein, mache ich nicht, ist ein kleiner Scherz, der aufgrund zu hoher Temperaturen im Büro zustande kommt).

Lieber Gruß
Geschichtenwerker

P.S.: Wenn ich die Zeit finde, lese ich natürlich Deine Geschichte ganz und dann schreibe ich auch einen Kommentar über die ganze Geschichte - versprechen kann ich das leider momentan nicht. Nimm mir das bitte nicht übel.

 
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Hallo Achillus

Was tun wir, wenn die gewohnten Sicherheiten wegfallen?
Den ganzen Tagen kreisen die Helikopter am Himmel.
Ich habe Videos vom G20 Gipfel gesehen, wie der vermummte schwarze Block Autoscheiben zerschlug und dann Feuer in die Autos legte. Die gewohnte Sicherheit war, dass die Polizei schon nach wenigen Minuten den schwarzen Block schon frühzeitig aufgefordert hat, die Masken runter zu nehmen. Ich habe Menschen gesehen, die geflohen sind vor der Gewalt. Ich habe Polizisten gesehen, die Gewalt zu unserer Sicherheit anwenden müssen. Und dafür kritisiert werden. Die Gewaltbereiten schlagen zu und werden nicht kritisiert. Kritisiert werden die, die reagieren, nicht die die angefangen haben unsere freihetlichen Rechte aus Zerstörungswut feige vermummt mit Füßen zu treten. Ich hoffe, dass das Karma Gerechtigkeit widerfahren lässt. Ich kann jedenfalls nicht den Autonomen hindern, mein Auto anzuzünden. Ich kann nur flüchten, der Gewalt aus dem Weg gehen, oder darin umkommen. Und das wissen diese Gewaltbereiten ganz genau und das stachelt sie an, noch wütender zu werden und zu zerstören, was gerade auf dem Weg liegt.
Beste Grüße Goldene Dame

 
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Diese Geschichte ist hervorragend geschrieben: Da stimmen Setting, Plot und Logik, deshalb ist sie im hohem Maße glaubwürdig. Obwohl sie zweifellos der Fantasie entsprungen ist: Es könnte sich alles genauso abgespielt haben. Auch die Tags Erotik, Romantik und Spannung sind völlig richtig gesetzt, weil all diese Komponenten darin einhalten sind.

Gewiss, die geschilderte Brutalität ist schon heftig, aber die Kriege auf dem Balkan in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, haben uns genau solche und noch schlimmere vor Augen geführt. Und Sex ist immer präsent, auch und vor allem in den Ausnahmesituationen, in denen es um Leben und Tod geht. Ich finde, du hast dieses Nebeneinander von Sex und Gewalt sehr gut eingefangen: So ist Krieg, die Augen davor verschließen zu wollen ist nichts anderes als Flucht vor Realität.

Den einzigen Kritikpunkt hat schon barnhelm angesprochen: Warum ist Jakob ein Jude? Warum ist das Judesein auch in diesem Krieg ein Risikofaktor? Zumal der Hinweis auf den beschnittenen Schwanz als Unterscheidungsmerkmal für einen Juden heute nicht mehr so richtig funktioniert, denn auch Muslime und die Hälfte der US-Amerikaner sind beschnitten. Ich frage mich daher, warum Jakob überhaupt diese – absolut nicht nötige! – Sonderrolle spielen muss, warum er nicht wie die anderen 3 Akteure sein kann, die ja auch nicht besonders gekennzeichnet sind.

Wenn du das tilgst, würde man die Geschichte nicht mehr als eine weitere Geschichte über einen jüdischen Jungen im Krieg betrachten können, sondern eine uns alle betreffende.

PS: Dies ist der falsche Ort, Goldene Dame, um über die Geschehnisse in Hamburg zu diskutieren, deshalb habe ich im News-Thread einen Link auf einen Kommentar der Süddeutschen platziert. Nachdem Blogs weg sind, scheint mir das die einzige Möglichkeit, in diesem Forum über solche Dinge zu diskutieren.

 

Heyho Achillus,

deine Geschichte hat mir im Großen und Ganzen bestens gefallen. Ein mitreißender Konflikt, ohne dass du zu viel drüber reden musst, hast viel show-dont-tell verwendet. Dass sich die Geschichte geographisch nicht einordnen lässt, finde ich gerade gut, die internationale Namensgebung hilft da auch. Zusätzlich zu den von barnhelm erwähnten Namen sind mir noch "Ivar" (niederländisch?) und natürlich "Einar" (skandinavisch?) aufgefallen, hab da jetzt aber nicht recherchiert.

Gut gefallen haben mir unter anderem die Szenen, in der Jacob von Sander das Haus und die Beinahe-Brennerei gezeigt hat und von den Fenstern redet, auch die, in der Einar beschließt, dem Sniper einen Besuch abzustatten, und insbesondere diejenige, in der Jacob die Leichen zu Gesicht bekommt. Mit der letzten haste mich echt gekriegt. Zeitweise dachte ich, Jacob will die Toten aus Misstrauen gegenüber Einar sehen, ob er sie nicht vielleicht doch auf dem Gewissen hat. Die Köpfe hätte er ja auch mit seiner Feueraxt abschlagen können. Da fand ich das "es war an der Zeit" fast ein wenig lasch.

Eine Sache, die mich häufiger gestört hat, ist das Rauchen. Ich nehme an, dass du selber rauchst/geraucht hast (deinen anderen Geschichten nach zu urteilen nicht nur Tabak :D), und Rauchen mag ja was Geselliges sein, Szene schaffen aufgrund von Fingerbewegungen, Dunst und Geruch etc., in Zeiten der Postapokalypse vielleicht ein großer Trost, aber spätestens nach dem zweiten Mal Drehen hat es mich ein gestört, und ich bin noch nichtmal Nichtraucher. GoMusic hat das schon angedeutet, mir hat's das ganze Gerolle und Gepaffe den Lesefluss etwas zerpflückt, vor allem in den Dialogen. Da ist auch meines Erachtens dein größter Verbesserungsbedarf, der Rest sitzt.

Übrigens toll, wie du ständig technische Details einbaust, damit der interessierte Leser noch was lernt. Ein Beispiel: Einar überführt den Sniper anhand des Rückstoßmals auf dessen Schulter. Einfach klasse, ich als Schusslaie hätte nie an sowas gedacht.

Ich find deine Gewaltszenen keineswegs zu hart, die Sexszenen auch nicht zu sexy, aber ich sag mir selber immer: Sex und Gewalt sind wie Pfeffer und Salz. Zu wenig schmeckt schal, zu viel und man verwürzt sich die Suppe. Nun gut, das ist dein Stil, aber mir war der Gewürzanteil zu hoch. Vor allem zum Schluss, da kam nach einer Vergewaltigungsszene (die Saufsequenz aufgrund ihrer Kürze jetzt mal außen vor gelassen) direkt eine sehr üppige Sexszene. Da muss man als Schreiber aufpassen, denn man schreibt die eine Szene, nach einer Pause die zweite, und die Stimmung ist automatisch eine ganz andere, weil man sich dazwischen viele Gedanken gemacht hat und die Gefühle zwischen den Charakteren viel besser kennt, als man sie ausdrücken kann. Mir als Leser, der natürlich viel schneller liest, als du schreiben kannst, tut sich dann die Frage auf: Wie kann das Mädel jetzt Sex mit ihm wollen, wenn sie gerade eben noch vergewaltigt wurde? Dass in der Geschichte ein Zeitsprung stattfindet, hilft mir da auch nicht, ich lese es ja am Stück.

In der Saufsequenz wird klar, was es mit dem Titel und dem Styx auf sich hat. Einar brabbelt irgendwas, Jacob macht sich darüber hinaus Gedanken, und zwar ziemlich wichtige. Sein Gefühl, dass sie alle längst tot sind, hatte ich beim Lesen die ganze Zeit über, deshalb finde ich den Titel gut gewählt.

Deinen Wortkrieger-Nick hast du ja auch geschickt untergebracht. Natürlich musste Einar dieses Ende widerfahren, ist ja in der Ilias nachzulesen. Die Bedeutung des Ajax ist mir nicht ganz klargeworden. Da er kein Pendant in deiner Geschichte findet, würde ich ihn fast weglassen, denn dass Achill ein großer Krieger war, hat ja mit Ajax nichts zu tun.

Die Traumsequenz hat mich genervt, sie liefert keinen Mehrwert. Zumal mir, wie wohl auch den meisten anderen, erst am Ende der Szene aufgefallen ist, dass es ein Traum war. "Sanders Leute" war kein Hinweis, eher ein Stifter von Verwirrung, ob ich irgendwas überlesen habe. Das Stilmittel "ach, ist ja gar nicht passiert, war ja nur ein Traum" halte ich für maximal ausgelutscht. Mach dir lieber Gedanken, wie Träume funktionieren und wie man sie realistisch konstruiert. Vielleicht auch mal Elemente aus eigenen Träumen mit untermischen.

Dein Schreiben ist sehr cineastisch, viele Stellen erinnern mich auch an ein Computerspiel. Das Suchen nach Material, das Ausschalten des Snipers, jede Menge spaßiger Quests, ohne dass ich den PC hätte anwerfen müssen. Ich find's toll, wenn unterschiedlichste Medien in den Schreibstil einfließen. Als meine Eltern damals gesagt haben: "Wie soll das nur weitergehen, willst du ewig diese dummen Spiele zocken?", hätte ich ihnen deine Geschichten hinlegen sollen. ;)

Mir sind nur zwei Schreibfehler aufgefallen, bei der Textlänge echt wenig, reife Leistung.

lag ein Mann mit zertrümmerten Schädel

Und einmal war noch "zurück kommen/kommt", hab die Stelle grad nicht mehr gefunden, würd ich lieber zusammenschreiben.

Alles in allem ein hochwertiges Ding, wie eigentlich immer bei dir, 9/10 would read again.

Schönes Wochenende wünsch ich aus Berlin nach Berlin

imperfektionist

 
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Hallo Geschichtenwerker,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ich habe Deine Reflexionen über den ersten Satz mit Interesse gelesen. Sicher hast Du recht, dass der Sehsinn der wichtigste Sinn des Menschen ist, untergeordnet sind Hören und Riechen. Deshalb könnte man sagen, Informationen eines Textes sollten der Reihenfolge Sehen-Hören-Riechen entsprechen.

Man kann es aber auch anders sehen: Ein Text könnte auch zuerst die Sinneswahrnehmung beschreiben, die in einer bestimmten Situation dominiert. Wenn Du in einen Raum kommst, in dem es furchtbar stinkt, verdient das auch in einem Text zuerst genannt zu werden, stimmst Du mir da zu?

Nun, in Deinem Satz geht es mit der Stille los die liegt - natürlich ist das falsch. Das Stahlwerk liegt still, aber das erste Wort ist "still" und nicht "das Stahlwerk", weswegen zunächst im Gehirn der falsche Bezug entsteht.

Wirklich?

Still lag das Stahlwerk im Licht des Mondes da, von den Sümpfen jenseits der Stadt wehte Verwesungsgeruch herüber.

Der Satz behauptet keineswegs, die Stille würde liegen. Das stille Liegen bezieht sich auf das Stahlwerk. Wenn der Satz mit Still lag ... beginnt, dann weiß das Gehirn eines Deutsch-Sprechers, dass da noch ein Subjekt fehlt. Wer lag still? Glücklicherweise haben wir im Deutschen die Möglichkeit eines variablen Satzaufbaus.

Das Stahlwerk lag still da. Still lag das Stahlwerk da. Es lag still das Stahlwerk da.

Das gibt der Sprache Lebendigkeit und umgekehrt wirken Texte immer etwas hölzern, wenn man von der Möglichkeit des variablen Satzaufbaus keinen Gebrauch macht.

Das Stahlwerk lag still im Licht des Mondes; Verwesungsgeruch wehte herüber, von den Sümpfen jenseits der Stadt.

Für mein Sprachempfinden fehlt im ersten Teil des Satz immer noch ein "da", aber die Grundidee, den Verwesungsgeruch voranzustellen finde ich gut. Der sprachliche Teil, mit dem ich ein Problem habe, ist aber die Wendung "Verwesungsgeruch wehte herüber, von den Sümpfen jenseits der Stadt". Der nachgestellte Halbsatz klingt forciert:

Er ging einkaufen, in den Supermarkt an der Ecke.

Formal sicher korrekt, sprachlich auffällig, suspekt. Vielleicht muss ich mich aber auch nur an den Wort- und Satzklang gewöhnen. Vielen Dank auf jeden Fall, für Deine Hinweise.

Gruß Achillus


Hallo Goldene Dame,

ich verstehe Deine Beunruhigung. Aber ich bin sehr skeptisch, was die Berichterstattung über die bösen Autonomen betrifft. Das Treffen der politischen Führer der 20 reichsten und mächtigsten Länder der Welt ist ja nun keine harmlose Veranstaltung. Doch Dion hat recht, das ist nicht der richtige Platz um das zu diskutieren.

Ich verstehe auch, dass es Dir mehr um den emotionalen Aspekt ging. Aus meiner Perspektive bedeutet verantwortungsbewusstes Handeln zunächst einmal sehr, sehr genau hinzuschauen und sich nicht von der allgemeinen Hysterie mitreißen zu lassen, auch wenn das wirklich schwer fällt. Emotionen wie Angst, Zorn und Paranoia sind üble Ratgeber.

Vielen Dank für Dein Feedback, Goldene Dame.

Lieber Gruß
Achillus


Hallo Dion,

ich habe mich sehr über Deinen Kommentar und Deine Hinweise zum Text gefreut. Vielen Dank dafür.

Diese Geschichte ist hervorragend geschrieben: Da stimmen Setting, Plot und Logik, deshalb ist sie im hohem Maße glaubwürdig. Obwohl sie zweifellos der Fantasie entsprungen ist: Es könnte sich alles genauso abgespielt haben. Auch die Tags Erotik, Romantik und Spannung sind völlig richtig gesetzt, weil all diese Komponenten darin einhalten sind.

Gewiss, die geschilderte Brutalität ist schon heftig, aber die Kriege auf dem Balkan in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, haben uns genau solche und noch schlimmere vor Augen geführt. Und Sex ist immer präsent, auch und vor allem in den Ausnahmesituationen, in denen es um Leben und Tod geht. Ich finde, du hast dieses Nebeneinander von Sex und Gewalt sehr gut eingefangen: So ist Krieg, die Augen davor verschließen zu wollen ist nichts anderes als Flucht vor Realität.


Ja, das sehe ich genau so. Ich habe gehört, dass es sogar in Konzentrationslagern und Gulags Sex unter den Gefangenen gab, wo man doch eigentlich denken würde, in solcher Situation hätte man wirklich andere Sorgen, von der Stimmung ganz zu schweigen. Ich sehe das auch nicht als frivole, geistlose Ausschweifungen, als unernste Albernheiten, sondern als Hinweis auf die menschliche Verfasstheit im Allgemeinen. Sex ist für einen riesigen Bevölkerungsanteil (die ganz Jungen und die ganz Alten vielleicht ausgenommen) ein enorm wichtiger Aspekt des Lebens, beinahe so wichtig wie Essen, Trinken und Schlafen. Sex gehört zu den Grundbedürfnissen, und nahezu alle menschlich-kreativen Leistungen lassen sich direkt oder indirekt mit Sex in Verbindung bringen.

Trotzdem ist es irre schwierig, darüber zu schreiben. Mich hat die Sexszene einige Mühe gekostet. Das war schwieriger, als vieles andere, was ich so in der letzten Zeit geschrieben habe. Vielleicht weil der Grad so schmal ist, weil man so schnell vom Poetischen ins Triviale abrutscht. Keine Ahnung.

Den einzigen Kritikpunkt hat schon barnhelm angesprochen: Warum ist Jakob ein Jude? Warum ist das Judesein auch in diesem Krieg ein Risikofaktor? Zumal der Hinweis auf den beschnittenen Schwanz als Unterscheidungsmerkmal für einen Juden heute nicht mehr so richtig funktioniert, denn auch Muslime und die Hälfte der US-Amerikaner sind beschnitten. Ich frage mich daher, warum Jakob überhaupt diese – absolut nicht nötige! – Sonderrolle spielen muss, warum er nicht wie die anderen 3 Akteure sein kann, die ja auch nicht besonders gekennzeichnet sind.

Wenn du das tilgst, würde man die Geschichte nicht mehr als eine weitere Geschichte über einen jüdischen Jungen im Krieg betrachten können, sondern eine uns alle betreffende.


Den Kritikpunkt verstehe ich. Es wäre sicher einleuchtender, wenn die Problematik im Laufe der Geschichte vertieft würde. Mir ging es aber darum, Jacob als einen Verfolgten zu zeichnen, mit dem Hinweis, das selbst die Opfer eines Krieges nicht gleichermaßen Opfer sind. Unter den Opfern gibt es dann eben auch noch die, die von den anderen Opfern zusätzlich diskriminiert werden. In diesem Sinne wollte ich auch Emilys Verhalten der Reaktion von Einar gegenüberstellen: Solidarität oder purer Überlebensinstinkt. Vielleicht ist das ein wenig aufgesetzt, das werde ich in Zukunft noch mal anschauen. Zur Zeit mag ich mich nicht davon trennen.

Vielen Dank, Dion.

Beste Grüße
Achillus


Hey Imperfektionist,

auch Dir vielen Dank für Deine Hinweise und Dein Lob zum Text.

Gut gefallen haben mir unter anderem die Szenen, in der Jacob von Sander das Haus und die Beinahe-Brennerei gezeigt hat und von den Fenstern redet, auch die, in der Einar beschließt, dem Sniper einen Besuch abzustatten, und insbesondere diejenige, in der Jacob die Leichen zu Gesicht bekommt. Mit der letzten haste mich echt gekriegt. Zeitweise dachte ich, Jacob will die Toten aus Misstrauen gegenüber Einar sehen, ob er sie nicht vielleicht doch auf dem Gewissen hat. Die Köpfe hätte er ja auch mit seiner Feueraxt abschlagen können.

Schön, dass Dir das aufgefallen ist. Ich habe in dieser Geschichte einige Arbeit auf die innere Strukturierung verwendet: Die Brennerei hat an mehreren Stellen der Geschichte eine Bedeutung, sie dient als Missionsziel für Einar und Jacob, Emily und Jacob und stellt letztlich die Ursache für die Auflösung der Gruppe dar. Das Scharfschützengewehr ist einerseits Missionsziel von Einar und Jacob und andererseits Hilfsmittel bei der Überfallszene, in der Emily beinahe vergewaltigt wird. Die Tatsache, dass Sander den zuvor erwähnten Aussichtspunkt nutzt und dabei mit einem Scharfschützengewehr umgehen kann, wirft außerdem ein besonderes Licht auf seinen Charakter. Die Feueraxt hat eine Doppelfunktion und so ist es auch mit einigen anderen Elementen.

In der Summe ist das Ganze ein Konstrukt mit vielen Bezügen, die gegenseitig aufeinander verweisen und neue Aspekte der Story oder der Personen enthüllen. Das war vom Arrangieren her recht komplex, hat aber viel Spaß gemacht, die Puzzleteile ins Spiel zu bringen.

Eine Sache, die mich häufiger gestört hat, ist das Rauchen. Ich nehme an, dass du selber rauchst/geraucht hast (deinen anderen Geschichten nach zu urteilen nicht nur Tabak :D), und Rauchen mag ja was Geselliges sein, Szene schaffen aufgrund von Fingerbewegungen, Dunst und Geruch etc., in Zeiten der Postapokalypse vielleicht ein großer Trost, aber spätestens nach dem zweiten Mal Drehen hat es mich ein gestört, und ich bin noch nichtmal Nichtraucher.

Ich rauche nicht. Tatsächlich ist das Drehen einer Zigarette/ eines Joints schon so lange her, dass ich mir für den Text auf YouTube ein Video angeschaut habe, wie man das genau macht, um es besser beschreiben zu können. In der Geschichte wird das Drehen nur einmal beschrieben, in der Küchenszene habe ich es nur zusammengefasst.

Ich verstehe aber, wenn es Dir zu viel ist. Die Idee dahinter war den Suchtaspekt zu zeigen, der wiederum die Alltagssituation beschreibt. Genau wie in Gefängnissen Zigaretten als Zahlungsmittel gelten, ist in meiner Geschichte das Rauchen zu einer der wenigen Ablenkungen und Freuden geworden, die von den Menschen überhaupt noch als so etwas wie Luxus empfunden werden kann.

In meinen Recherchen zu Krieg und gesellschaftlichen Auflösungsprozessen tauchte das Rauchen immer wieder auf. Deshalb wird es im Text so oft erwähnt. Vielleicht habe ich es etwas übertrieben. Ich muss da noch mal drüber nachdenken.

Übrigens toll, wie du ständig technische Details einbaust, damit der interessierte Leser noch was lernt. Ein Beispiel: Einar überführt den Sniper anhand des Rückstoßmals auf dessen Schulter. Einfach klasse, ich als Schusslaie hätte nie an sowas gedacht.

Das geht auf eine Trainingsepisode zurück. Wegen der Hitze in den letzten Wochen hatte ich beim Schießen mit einem Sturmgewehr nur mit dünnen Sachen trainiert. Bereits nach zehn oder fünfzehn Schüssen hatte ich einen beachtlichen Bluterguss unter dem Schlüsselbein, obwohl ich das Gewehr fest in die Schulter ziehe und somit den Rückstoßeffekt dämpfe. Mein Ausbilder hat mir dann erzählt, dass man im Spanienkrieg so die Kämpfer unter den Gefangenen heraussortiert hat. In meinem Text trägt der Scharfschütze zwar einen dicken Mantel, aber bei größeren Kalibern ist es auch dann nur eine Frage der Zeit, bis der Schütze eine blaue Schulter hat. In der Praxis verwenden Scharfschützen heute deshalb spezielle Protektoren, die in die Feldkleidung eingenäht werden.

Ich find deine Gewaltszenen keineswegs zu hart, die Sexszenen auch nicht zu sexy, aber ich sag mir selber immer: Sex und Gewalt sind wie Pfeffer und Salz. Zu wenig schmeckt schal, zu viel und man verwürzt sich die Suppe. Nun gut, das ist dein Stil, aber mir war der Gewürzanteil zu hoch. Vor allem zum Schluss, da kam nach einer Vergewaltigungsszene (die Saufsequenz aufgrund ihrer Kürze jetzt mal außen vor gelassen) direkt eine sehr üppige Sexszene. Da muss man als Schreiber aufpassen, denn man schreibt die eine Szene, nach einer Pause die zweite, und die Stimmung ist automatisch eine ganz andere, weil man sich dazwischen viele Gedanken gemacht hat und die Gefühle zwischen den Charakteren viel besser kennt, als man sie ausdrücken kann. Mir als Leser, der natürlich viel schneller liest, als du schreiben kannst, tut sich dann die Frage auf: Wie kann das Mädel jetzt Sex mit ihm wollen, wenn sie gerade eben noch vergewaltigt wurde? Dass in der Geschichte ein Zeitsprung stattfindet, hilft mir da auch nicht, ich lese es ja am Stück.

Den Einwand verstehe ich. Meine Hoffnung war, dass der Leser durch die zusammenfassende Beschreibung der Tage nach der versuchten Vergewaltigung sieht, dass hier Zeit vergeht. Aber sicher hast Du recht.

In der Saufsequenz wird klar, was es mit dem Titel und dem Styx auf sich hat. Einar brabbelt irgendwas, Jacob macht sich darüber hinaus Gedanken, und zwar ziemlich wichtige. Sein Gefühl, dass sie alle längst tot sind, hatte ich beim Lesen die ganze Zeit über, deshalb finde ich den Titel gut gewählt.

Ja, Du bringst es auf den Punkt. So war das Ganze gedacht.

Deinen Wortkrieger-Nick hast du ja auch geschickt untergebracht. Natürlich musste Einar dieses Ende widerfahren, ist ja in der Ilias nachzulesen. Die Bedeutung des Ajax ist mir nicht ganz klargeworden. Da er kein Pendant in deiner Geschichte findet, würde ich ihn fast weglassen, denn dass Achill ein großer Krieger war, hat ja mit Ajax nichts zu tun.

Da habe ich mich wohl zu sehr von den Original-Mythen hinreißen lassen. Achill ist im Grunde genommen einzigartig. Deshalb gebe ich Dir recht und werde das im Text ändern. Mein Gedanke war aber, dass Ajax den Fähigkeiten und dem Blutdurst von Achill kaum nachstand. So wird er jedenfalls beschrieben. Diese beiden Krieger stehen für einen besonderen Archetypus, das wollte ich damit ausdrücken. Letztlich macht es das Ganze aber unnötig kompliziert, da gebe ich Dir Recht.

Die Traumsequenz hat mich genervt, sie liefert keinen Mehrwert. Zumal mir, wie wohl auch den meisten anderen, erst am Ende der Szene aufgefallen ist, dass es ein Traum war. "Sanders Leute" war kein Hinweis, eher ein Stifter von Verwirrung, ob ich irgendwas überlesen habe. Das Stilmittel "ach, ist ja gar nicht passiert, war ja nur ein Traum" halte ich für maximal ausgelutscht. Mach dir lieber Gedanken, wie Träume funktionieren und wie man sie realistisch konstruiert. Vielleicht auch mal Elemente aus eigenen Träumen mit untermischen.

Sehe ich ein bisschen anders. Zum einen liefert die Traumsequenz einen Hinweis auf die wahre Natur Sanders. Er ist nicht wie die anderen Figuren in diesem Setting. Zum anderen wird hier die Empfehlung ausgesprochen, die Stadt zu verlassen, was Jacob und Emily schließlich auch tun. Insofern ähnelt die Szene mehr einer Vision, als einem Traum.
Dein Schreiben ist sehr cineastisch, viele Stellen erinnern mich auch an ein Computerspiel. Das Suchen nach Material, das Ausschalten des Snipers, jede Menge spaßiger Quests, ohne dass ich den PC hätte anwerfen müssen. Ich find's toll, wenn unterschiedlichste Medien in den Schreibstil einfließen. Als meine Eltern damals gesagt haben: "Wie soll das nur weitergehen, willst du ewig diese dummen Spiele zocken?", hätte ich ihnen deine Geschichten hinlegen sollen. ;)

Wer weiß, was Deine Eltern dazu gesagt hätten ;) Klar Games, TV-Serien und Kinofilme beeinflussen mein Schreiben mindestens eben so sehr wie Literatur und meine persönlichen (Trainings-) Erfahrungen.

Alles in allem ein hochwertiges Ding, wie eigentlich immer bei dir, 9/10 would read again.

Ein großes Lob, Imperfektionist. Vielen Dank auch dafür!

Gruß aus der Stadtmitte
Achillus

 

Hallo Achillus,

nur ganz kurz:

Er ging einkaufen, in den Supermarkt an der Ecke.

Formal sicher korrekt, sprachlich auffällig, suspekt. Vielleicht muss ich mich aber auch nur an den Wort- und Satzklang gewöhnen. Vielen Dank auf jeden Fall, für Deine Hinweise.


Klar klingt das ungewöhnlich und betont in gewisser Weise den nachgestellten Teilsatz.

Falls Du meinen Kommentar so verstanden hast, dass man jeden Satz so aufbauen soll, z. B. vom Sehen ausgehend, dann habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt - so ist das nicht gemeint. Und natürlich ist ein Vorteil der deutschen Sprache, dass man variieren kann, wobei jede Variation natürlich ihre eigenen Vor- und Nachteile hat.

Mir ging es bei meiner Reflexion erst einmal nur darum zu analysieren, warum ich hängenbleibe ("springende Kamera") und wie man quasi die "Kamera" auf dem "Stahlwerk" lässt, um meinen Stolpergrund zu entfernen (das heißt noch lange nicht, dass andere über so etwas überhaupt stolpern.)

Natürlich gibt es noch viele andere Aspekte, auf die man achten kann. Die Variante, die bei der "fixen" Kamera herauskommt, betont den letzten Teilsatz. Das ist vielleicht dann sinnvoll, wenn die Herkunft des Verwesungsgeruches betont werden soll. Ich würde aber die Variante nicht nehmen, weil ich glaube, dass die Herkunft des Verwesungsgeruches keine besondere Bedeutung hat.

Vielleicht noch einen Satz dazu, warum ich überhaupt solche Dinge anspreche bzw. meine Energie damit verschwende.

Aus meiner Sicht gibt es zwei Lesertypen/ Lesemodi (und noch unendliche viele mehr, aber auf die folgenden Zwei kommt es mir hier gerade an):

i) Schnelllesemodus, bei dem die Information sehr schnell aufgenommen wird. Hier stolpert man leicht, wenn nicht jedes Wort sofort an den richtigen Platz fällt (z. B. die springende Kamera). Da entsteht das Bild quasi Wort für Wort.

ii) Langsamer Lesemodus, bei dem ganze Sätze, vielleicht sogar noch mehr, gelesen werden und man diese insgesamt auf sich wirken lässt (und man vielleicht sogar noch einmal zurückspringt).

Je nach Lesertyp oder Lesemodus wird unterschiedlich gestolpert. Z. B. fällt dem Typ ii) Lesemodus womöglich die springende Kamera gar nicht auf, weil man sich erst ein Bild am Ende des ersten Satzes oder womöglich erst nach ein paar weiteren Sätzen macht. Der Typ ii Leser ist aber empfindlich für jede Unstimmigkeit, für jeden Logikfehler, unstimmiges Verhalten der Figuren usw.

Dafür fallen dem Typ i) Leser vielleicht Logikprobleme gar nicht so auf, weil er durch die Geschichte rast.

Dies führt dazu, dass man Texte auch so schreiben, dass sie eher für i) oder für ii) geeignet sind.

Ich glaube zum Beispiel, dass Bücher von Dan Brown nahezu durchgängig für den Typ i) Lesemodus geschrieben sind.

Man kann das vielleicht sogar auch am Genre oder dem Plottyp festmachen. Geschichten, die von Action leben, werden wohl eher für Typ i geeigneter sein als für Typ ii. Texte, welche die Charakterentwicklung im Focus haben, werden eher Typ ii ansprechen (denke da gerade an Schuld und Sühne, aber man kann das auch hier im Forum sehen, z. B. an manchen Texten von Jimmy oder Peeperkorn).

Das ist sicher keine neue Erkenntnis (auch wenn ich das nicht in Schreibratgebern gelesen habe), aber ich bin mir sicher, dass gute Autoren das Obige nutzen, um den Leser bewusst in den i) oder ii) Lesemodus zu versetzen.

Meine Schlussfolgerung ist, dass es sich evtl. allgemein lohnt, seinen Text bzw. Abschnitte gemäß Typ i) oder Typ ii) zu optimieren.

Jetzt war das doch mehr als ein Wort. Wie auch immer, vielleicht kannst Du damit etwas anfangen.

Gruß
Geschichtenwerker

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo nochmal,

In der Summe ist das Ganze ein Konstrukt mit vielen Bezügen, die gegenseitig aufeinander verweisen und neue Aspekte der Story oder der Personen enthüllen. Das war vom Arrangieren her recht komplex, hat aber viel Spaß gemacht, die Puzzleteile ins Spiel zu bringen.
Das glaub ich dir auf's Wort. Wie (umfangreich) sähe dein Konzept in diesem Falle aus? Würde mich nur mal interessieren.

Das geht auf eine Trainingsepisode zurück. Wegen der Hitze in den letzten Wochen hatte ich beim Schießen mit einem Sturmgewehr nur mit dünnen Sachen trainiert. Bereits nach zehn oder fünfzehn Schüssen hatte ich einen beachtlichen Bluterguss unter dem Schlüsselbein, obwohl ich das Gewehr fest in die Schulter ziehe und somit den Rückstoßeffekt dämpfe. Mein Ausbilder hat mir dann erzählt, dass man im Spanienkrieg so die Kämpfer unter den Gefangenen heraussortiert hat. In meinem Text trägt der Scharfschütze zwar einen dicken Mantel, aber bei größeren Kalibern ist es auch dann nur eine Frage der Zeit, bis der Schütze eine blaue Schulter hat. In der Praxis verwenden Scharfschützen heute deshalb spezielle Protektoren, die in die Feldkleidung eingenäht werden.
Na wenn es sich hier sogar um Erfahrungen am eigenen Leib handelt, ist die Info umso wertvoller. Recherchieren kann ja jeder ...

Ich rauche nicht. Tatsächlich ist das Drehen einer Zigarette/ eines Joints schon so lange her, dass ich mir für den Text auf YouTube ein Video angeschaut habe, wie man das genau macht, um es besser beschreiben zu können. In der Geschichte wird das Drehen nur einmal beschrieben, in der Küchenszene habe ich es nur zusammengefasst.

In meinen Recherchen zu Krieg und gesellschaftlichen Auflösungsprozessen tauchte das Rauchen immer wieder auf. Deshalb wird es im Text so oft erwähnt. Vielleicht habe ich es etwas übertrieben. Ich muss da noch mal drüber nachdenken.

... scheinbar auch du. ;) Ich entschuldige mich auf jeden Fall für die Unterstellung. Ging mir weniger um's Drehen als um's Gesamtrauchen. Vielleicht war es einfach die Alltäglichkeit, die mich gestört hat, auch wenn die natürlich von den Charakteren durch's Rauchen herbeigesehnt wird. Vielleicht hättest du ein paar echt abartige Methoden des Tabakkonsums nachschlagen können, dieses mit Blättchen oder Päckchen beim Käffchen wirkte sehr modern. Hatte nur drauf gewartet, dass du noch den Baumwollfilter erwähnst. Ein Extrembeispiel wäre das Rauchen aus einem Kassenbon (das wiederum wäre eine Erfahrung meines eigensten Leibes), oder der Konsum jeglicher Tabakimitate (heute "Knaster"), ich denk da an das Seegras, mit dem früher die Sitze in der Bahn gestopft gewesen sein sollen: Einfach Loch reinbohren und sich was ins Pfeifchen stecken.
Sehr toll fand ich übrigens das Bild mit der Kippe im Sprung der Tasse, grad fiel's mir wieder ein, hatte ich beim letzten Mal vergessen zu erwähnen. Bitte mehr von solchen Bildern zum Tabak.

Aber eigentlich ging's mir noch weniger ums Rauchen als um den Effekt, den es im Dialog hat: Es stört, weil es vom Gesprochenen ablenkt. Da vielleicht einfach beide Teile besser voneinander abgrenzen. Erst drehen, dann reden, oder umgekehrt. Na klar läuft das in der Realität parallel ab, aber lesen tu ich seriell, weshalb ich's dir nicht als unlogisch ankreiden würde.

Natürlich reden wir hier wirklich von Feinheiten, nichtmal welchen, die du jetzt noch ändern solltest, aber vielleicht für's nächste Mal; ich versuche bloß, meinen gesunden Leserverstand wiederzugeben, und das war er.

Grüße aus dem westlichen A-Bereich der BVG :D

imperfektionist

 

Hallo Geschichtenwerker,

vielen Dank, dass Du nochmal reingeschaut hast. Ich finde Deine Reflexion über die springende Kamera sehr hilfreich. Wird mir sicher in Zukunft eine Entscheidungshilfe sein. Beim betreffenden Satz in dieser Geschichte geht es mir allerdings so, dass ich mich da schwer umstellen kann. Ich habe so ca 70 Stunden an der Geschichte gearbeitet und den ersten Satz auch einige Male umgeschrieben und jetzt Dutzende Male so gelesen, wie er da steht. Es fällt mir sehr schwer, mich davon zu trennen, weil er sich für mich inzwischen absolut richtig anhört.

Sehr aufschlussreich ist auch Deine Ausführung zu den verschiedenen Lesemodi. Klingt einleuchtend für mich. Dieser Einteilung nach schreibe ich grundlegend für den zweiten Lesertyp, den langsamen Leser, denn ich selbst lese auch so. Für mich ist die Sprache ebenso wichtig wie der Inhalt. Aus dem Grund kann ich auch mit Dan Brown nichts anfangen, ich finde, er schreibt in einer sehr gewöhnlichen Alltagssprache und schöpft das poetische Potenzial der Sprache überhaupt nicht aus. Wenn man das mit Autoren wie Márquez, le Carré oder Graham Greene vergleicht, wirkt er wie ein Schreibanfänger.

Vielen Dank für Deine Hinweise!

Gruß Achillus

Hallo Imperfektionist, auch Dir vielen Dank für den zweiten Besuch.

Was das Konzept betrifft, arbeite ich meist mit Notizen, die ich mir direkt unter dem Text mache. Ich gehe dabei so vor, dass ich Fragen formuliere (Welchen Familienhintergrund hat Jacob? Was geschieht mit dem Scharfschützengewehr? etc.), die mir beim Durchlesen auffallen und die ich dann wie eine Checkliste abarbeite. Bei komplexeren Geschichten wie dieser hier, nutze ich außerdem Flussdiagramme, die ich in einen College-Block zeichne. Das hilft mir, Bezüge und Kausalketten zu ordnen.

Na wenn es sich hier sogar um Erfahrungen am eigenen Leib handelt, ist die Info umso wertvoller. Recherchieren kann ja jeder ...

Davon bin ich überzeugt. Klar kann man sich viel anlesen, aber bestimmte Aspekte einer Tätigkeit, Kunst, Disziplin oder Erfahrung werden in Dokumentationen oder Infotexten gar nicht behandelt. Ich glaube beispielsweise, dass man sich keine richtige Vorstellung darüber macht, wie es ist, eine Waffe abzufeuern, bis man es wirklich getan hat.

Für die Hinweise zu den Dialogbegleitsätzen (Rauchen etc.) bin ich dankbar. Ich werde das zukünftig genauer beobachten. Mir geht es beim Lesen von Texten ja auch manchmal so, dass ich nicht weiß, weshalb der Autor jetzt auf dieser oder jenen Geste herumreitet. Beim Schreiben wollte ich die Dinge zeigen, die neben dem Dialog ablaufen, beispielsweise, dass Jacob die Hände von Emily beobachtet. Ich wollte außerdem den Dialog auflockern, weil ich es selbst ermüdend finde, absätzelang nur Dialogzeilen zu lesen, ist ja kein Theaterstück.

Vielen Dank für Deine Hinweise!

Gruß Achillus

 

Lieber Achillus,

es freut mich sehr, dass Du mit meinen Gedanken etwas anfangen konntest, denn nur darum geht es mir (nicht darum, dass Du irgendetwas ändern sollst und ich sehe an Deinen Texten, dass immer sehr viel Arbeit darin steckt und freue mich darüber).

Mein Eindruck ist auch, dass es besser ist, die Kommentare zu sammeln, in Ruhe darüber nachzudenken und dann mit zeitlichem Abstand zu überlegen, was einen selbst bzw. die Geschichte wirklich weiterbringt und verbessert und nicht einfach etwas ändert, nur weil irgendein Kommentator an einem Satz oder etwas Anderem "rumkrittelt".

Ich analysiere z. B. immer noch meine Staub-Geschichte und die Reaktionen/Kommentare (das mache ich auch bein anderen Geschichten) und analysiere, was zu welchem Eindruck geführt hat. Bei dieser Analyse bin ich auch auf den Lesemodus-Gedanken gekommen, da ich inzwischen die einzelnen Kommentatoren, ihre Schreibstile und ihre Lesarten ein wenig einschätzen kann und man recht zuverlässig die einzelnen Mitglieder einer der zwei Gruppen zuordnen kann.

Und wie ich sagte, wenn man den ersten Satz langsam (Typ ii) liest und auf sich wirken lässt, dann stolpert man auch nicht (so stark) über das Springen der Kamera, da man das Bild langsamer vor dem inneren Auge aufbaut. Insofern gibt es dann auch keinen Grund den Satz zu ändern.

Lieber Gruß
Geschichtenwerker

 

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