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Amandine
Karl reist nach Afrika der Liebe wegen. Am Flughafen küsst Amandine ihn, lächelt das zerfurchte Gesicht, den Schleierblick an, streicht über seinen Bart, berührt den Kopf. Seine Lippen fühlen sich weich an. Sie verlassen die Ankunftshalle, treten ins Freie und werden von Staubhitze erschlagen. Verbranntes Holz, Gummi, Benzingeruch, süßlich, dominant, beschweren die Luft, als läge eine Glocke über der Stadt, darunter Verwesung. Im Hotelzimmer legen sie das Gepäck ab, Karl will sie aufs Bett werfen. Amandine verspricht, die Nacht mit ihm zu verbringen. Dann brechen sie auf. Das Taxi irrt durch die Stadt. Die Straßen gleichen einander, unverputzte Flachbauten, dasselbe Ameisengewusel. Menschen transportieren Gegenstände auf dem Kopf, halten sich das Smartphone vors Gesicht. Der Gesang Afrikas dringt durch die Fenster. Er besteht aus dem Brummen und Heulen von Motoren, aus wütendem Gehupe, das sich über Stimmenrauschen, perlendes Gelächter, über Rufe und Schreie der Stadtbewohner legt.
Als hätten sie den Ausgang aus einem Labyrinth gefunden, erreichen sie irgendwann das Viertel, aus dem Amandine stammt.
Neben einer Blechhütte liegen zwei Kinder in einer Ecke, eingerollt in eine Militärdecke, einander zugewandt. Eins lehnt die Schultern an eine Wassertonne, aus der Modergeruch emporsteigt, das andere klammert sich an ein Handy. Plastiktüten liegen verstreut im Dreck. Das Licht schwindet, Abenddämmerung, letzte Sonnenstrahlen überziehen ihre Gesichter wie ein Schleier aus Gold. Sie pressen die Augenlider zusammen.
Während sie an den Schlafenden vorbeigehen, drückt Amandine sich an Karl, reibt ihre Hüften an seiner massigen Gestalt, will ihn spüren, herausfinden, ob er ein lebendiger Mensch ist, warm, real, einer, der wegen eines schwarzen Mädchens nach Afrika fliegt, eine Hochzeit zu tanzen und die Ahnen zu erfreuen.
Über die Vororte von Yaoundé fegt Wind, der Sandkörner durcheinanderwirbelt, zerfetzte Worte, Musik, das Rascheln in den Büschen über die Lehmstraße weht. Die Luft schmeckt feucht, nach Regen.
Karls Ledersohlen knirschen über Sand und Steine. Sie steigen über eine Pfütze, in der die fliegenumschwirrten Überreste eines Vogels versinken. Amandine gleitet elegant wie eine Katze vorwärts, berührt die Erde kaum, so geschmeidigzart schwebt sie. Er fasst sich an die Hosentasche, wo das Portemonnaie steckt.
„Gleich da, nicht mehr weit“, sagt sie.
„Ganz schön dunkel hier.“ Er zeigt zum Horizont, auf dem Gewitterwolken im Nachthimmel versinken.
„Mama hat für uns gekocht“, sagt sie mit Glanzaugen.
„Die Nebelschleier da hinten flimmern wie Geister.“ Karl deutet auf ein freies Gelände hinter der Siedlung.
„Geister? Dämonen hausen woanders, nicht hier!“, ruft sie, lässt seine Hand los, schreibt Zeichen in die Luft.
„Schon gut, glaube ich dir. Amandine?“
„Ja?“
„Weißt du, ich freue mich auf das Essen. Bin ganz schön hungrig.“
„Ein Mann wie du braucht Fleisch, Bohnen und Obst. Mama wird dich mögen und meine Brüder auch!“
„Deine Brüder?“
„Ja, sie beschützen uns, seit Papa tot ist.“
„Ich hatte nie richtig Familie.“ Karl löst sich aus ihrem Blick, schaut zum Boden. „Du bist schön, Amandine!“
Sie geht langsamer, als müsste sie sich ausruhen. Schweißtropfen rinnen über ihre Haut. Erinnerungen fallen über sie her, je näher sie kommen. Zweimal abbiegen, dann stehen sie vor der Bretterheimat, dort, wo Amandine in jeder Ecke Träume, Tränenseen, den Hunger nach Leben, richtigem Leben versteckt hat. Sie weiß nicht, ob sie sich fürchten oder freuen soll. Rauch strömt aus einem der Fenster. Amandine klopft an der Tür, das Klacken dringt in Karls Ohren. Stimmen nähern sich.
Unterdessen erwachen die Kinder aus Zauberträumen, kriechen unter der Decke hervor, schauen sich an, lächeln, öffnen die Schwingen und fliegen los.
Die Holzbalken beobachten, wie der Fremde Amandine an der Hand hält, das Mädchen mit den Goldaugen, das vom Kind zur Frau wurde, die Traumblicke seit langem in die Zukunft richtet, sich sucht, was sie braucht. Die morschen Stellen, die Feuchtigkeit, den Schweiß und die Tränen, die sich ins Holz gefressen haben, von ihm aufgesaugt wurden, wird der Mann nicht bemerken. Er ist ja nicht der erste, zwei waren schon hier, wenngleich keiner mit so heller Haut.
Die Mama-Jala schaut den Fremden an, öffnet die Arme, grinst und drückt ihn an sich, während er sie mit der Tochter vergleicht, nach Ähnlichkeiten sucht.
„Du bist also Karl!“, sagt sie.
Mama-Jala riecht nach Moschus und einem Vanilleparfümhauch, trägt ein Blumenkleid und führt den Mann tiefer in die Hütte, an uns vorbei, den Pfosten, Baumstämmen aus einem Wald, an den wir uns kaum noch erinnern können. Amandine sieht neben ihr so zart aus. Kerzen flackern, Glühbirnen werfen ihr Licht durch den Raum. Mama-Jala geht voran, das Pärchen folgt ihr. Sie erreichen den Hauptraum, das Wohnzimmer, wo Herd und Tisch stehen, die Familie zusammenkommt. Fleisch- und Gemüsegeruch wehen ihnen entgegen, Töpfe und Geschirr klappern. Amandines Brüder hantieren am Herd. Auf dem Tisch stehen Schüsseln mit Reis, Gemüse, Saucen, Fleischstückchen. Henry und Hugo nicken Karl zu, drücken ihm trotz ihrer Muskelarme die Hand wie Schmetterlinge. Seit ihre Bärte sprießen, glänzt die Haut noch dunkler. Amandine zeigt auf das Tischende, nimmt neben ihm Platz, streichelt seine Hand, während Mama-Jala ihm Glas und Bierflasche hinstellt. Im Hintergrund läuft Musik, afrikanische Rhythmen. Die Fleischschüssel steht vor dem Gast. Mama-Jala hält ein Messer in der Hand. Auf der Klinge spiegelt sich Karls Gesicht. Sie schneidet Stücke ab. Bratenflüssigkeit tropft aus den Schnittstellen. Als sie fertig ist, wendet sie den Blick nach draußen, zum Nachthimmel. Durch das Fenster mitten in der Pfostenreihe strahlt ein Sichelmond herein.
„Wir essen und dann unterhalten wir uns ein wenig, Karl“, sagt sie und legt Fleisch auf seinen Teller. Karls Augen spiegeln Hunger und Melancholie. Amandine reicht ihm die Schüsseln. Henry und Hugo sitzen schweigend am anderen Ende des Tisches. Amandine achtet auf jede Bewegung, beobachtet, wie er kaut, traumlächelt Karl und Mama-Jala an.
„Schmeckt es Dir?“, fragt sie ihn.
„Sehr lecker, alles sehr lecker!“
Amandine isst wenig. Wie Federn gleiten die Finger über Karls Oberschenkel. Er häuft einen zweiten Teller mit Leckereien, trinkt, schluckt, ohne zu kauen. Dann öffnet sich die Tür und die Engelskinder betreten den Raum. Karl blickt kurz auf, scheint sich zu fragen, ob er sie kennt. Amandines Brüder rücken zur Seite. Mama-Jala neigt den Kopf und begrüßt sie. Die Kinder essen hastig, stopfen sich Fleisch und Gemüse in die Münder, lassen dabei Karl nicht aus den Augen. Amandine nimmt eine Papierserviette, tupft Karls Mundwinkel ab, säubert ihn, als er aufhört zu essen, sich zurücklehnt.
Mama-Jala entfaltet schließlich ein Papier, fängt mit der Befragung an. Er antwortet, nennt Eckdaten, Alter, Arbeitsstelle, Herkunft, Ausbildung. Amandine übersetzt, was die Mutter nicht versteht. An manchen Stellen ertönt Gelächter, Nicken, Kopfschütteln. Karls Augen fixieren die Wand, die Holzpfosten, die Mama-Jala-Pupillen. So sehr konzentriert er sich auf die Formulierungen, als ob er sich genau überlegen müsste, welche Form sie annehmen, wenn sie sein Inneres verlassen.
Ich bin intakt, kann Kinder zeugen. Der Zufall wollte es so. Ich fand nie die richtige Frau für die Gründung einer Familie. Ich mag Kinder sehr, auf jeden Fall. Am besten zwei. Mädchen oder Junge, ist egal. Die Hautfarbe spielt für mich keine Rolle. Ich möchte eine gute Frau. Charakter entscheidet. Ich habe Amandine als wunderbares Wesen kennengelernt. Wir haben ja viel geschrieben, bevor wir beschlossen haben, einander zu sehen. Ich wohne im eigenen Haus, ja, groß genug für eine Familie. Von den Eltern geerbt. Ich habe eine Schwester, die hat Kinder. Reich bin ich nicht, aber ich kann für meine Frau sorgen. Ich verdiene gut, habe vorgesorgt, kann Kontoauszüge vorweisen. Nein, ich bin überhaupt nicht pervers, ganz normal, liebevoll, großzügig, fürsorglich. Alkohol trinke ich nur gelegentlich. Ich rauche nicht und nehme keine Drogen. Ich reise gern, gehe selten aus. Amandine könnte eine Ausbildung machen, wenn sie das will, oder ein Studium absolvieren.
Irgendwann fallen Mama-Jala keine Fragen mehr ein. Ihre Augen nehmen einen warmen Glanz an, als müsse sie nachdenken, sich mit ihren Geistern besprechen. Amandine starrt in die Luft, wartet. Die Brüder schauen reglos zu. Die Kinder spielen mit dem Besteck, schlecken die Schüsseln aus, bis sie sich an Karl wenden. Sie sprechen gleichzeitig mit einer einzigen synchronen Stimme:
„Kommst du morgen mit?“
„Wohin?“
„Aufs Land.“
„Klar, warum nicht?“
„Gut.“
„Amandine bringt dich gleich zum Hotel.“
Amandine senkt den Kopf, murmelt etwas, streicht sich das Kleid glatt. In ihren Augen spiegeln sich Träume und Kerzenlicht, während sie Karl zu sich zieht und zum Aufbruch drängt. Sie verabschieden sich von der Familie, umarmen Mama-Jala, winken den Brüdern zu. Karls Blick sucht die Kinder, findet sie nirgends. Die anderen kümmert ihr Verschwinden nicht.
Scheinwerfer leuchten auf. Das Taxi hält. Derselbe Fahrer wie bei der Hinfahrt bringt sie zum Hotel. Amandine sitzt ganz dicht bei Karl, schaut in die Dunkelheit. Nachtlichter, das Rauschen der Stadt drängt sich durch die Fensterritzen. Der Fahrer summt die Melodien des Radios mit. Amandines Atem haucht über Karls Hals, ihre Hand spielt zwischen seinen Beinen. Als sie am Hotel ankommen, zieht Karl das Portemonnaie aus der Tasche, zählt die Scheine ab, um das Taxi zu bezahlen.
Der Nachtportier reibt sich die Augen und öffnet ihnen die Tür. Im Aufzug steckt Amandine Karl die Zunge in den Mund, leckt das Ohr. Die Teppiche schlucken die Schritte der beiden. Sobald sie das Zimmer betreten haben, will er sich auf sie stürzen, doch Amandine wehrt ihn ab, geht ins Bad, schließt die Tür hinter sich. Er hört dem Plätschern des Wassers zu, spürt seine Lust wachsen. Gleichzeitig rauschen die Bilder des Tages an ihm vorbei, die Reise nach Afrika, die Menschen, die er kaum entschlüsseln kann, die Engelskinder, Amandine, den Wunsch, sie lieben zu können, richtig lieben, der Rausch ihrer Gegenwart. Das Bett vor ihm schwebt.
Amandine hüllt sich in Seide, darunter schimmert die goldschwarze Haut. Karl zittert, reißt sie an sich, so plötzlich, dass sie aufschreit. Er achtet nicht darauf, zerrt an den Haaren, greift zwischen ihre Beine. Der Stoff knistert, als er sie aufs Bett zwingt, die Beine auseinander drückt, sie beschnüffelt, den Milchgeruch ihrer Haut von oben bis unten lecken will, um sich einzuverleiben, was er so dringend braucht. Sie liegt da, Tränen kullern über die Wangen, blickt zum Fenster, zu Karl, dreht sich weg. Eine Ohrfeige landet auf ihrem Gesicht, eine zweite, die wie ein Peitschenknall durch den Raum jagt. Daraufhin öffnet sie die Beine, streckt sie zum Himmel, als wolle sie ihn herausfordern, sucht nach seinen Augen. Zähne blitzen auf, als sie lauthals zu lachen beginnt. Karls Ohren dröhnen. Seine Hose fällt zu Boden, die Shorts. Er müsste sie jetzt besteigen, in sie eindringen. Trotz der Lust, die er in sich trägt, seit er Amandine zum ersten Mal gesehen hat, versagt er schließlich in der Wirklichkeit, schlaff, halbaufgerichtet, hängt sein Schwanz. Er flüchtet ins Bad, lässt Wasser über die Haut perlen, will den Schmutz wegrubbeln, schließt die Augen. Gleich wenn er zu Amandine zurückgekehrt ist, will er die Sterne am Himmel suchen, sie küssen, ihr Liebesworte ins Ohr flüstern, sie zart berühren. Sorgfältig schlingt er das Handtuch um die Lenden.
Die Tür schwingt auf. Eine Katze liegt auf dem Bett, ein Panther, der ihn anschaut. Das Fell wird vom Mondlicht berührt. Smaragdaugen fixieren Karl. Dann richtet sich das Tier auf, zögert, wendet den Blick ab, durchquert das Zimmer, springt mit einem Satz aus dem Fenster und entschwindet in die Nacht.
Karl bewegt sich nicht, löst sich erst aus der Erstarrung, als er bemerkt, dass Stille ihn umfängt. Amandine fällt ihm ein, er sucht nach ihr, findet ihre Kleider als Bündel auf einem Stuhl. Ihr Milchgeruch durchtränkt die Luft, sie aber bleibt verschwunden. Karl fährt sich mit der Hand durch die Haare. Schließlich wagt er sich ans Fenster, beugt sich nach draußen. Die Laute der Stadt dringen zu ihm, mehr nicht, also schließt er es wieder, geht zur Minibar und schüttet sich den Wodka- und Whiskeyvorrat in die Kehle. Raum und Zeit entfliehen, als wäre weder der Panther noch Amandine jemals hier gewesen. In diesem Zustand sinkt er auf das Bett, das Handtuch gleitet ab, er schmiegt sich an die Decke, überlässt sich einer traumleeren Nacht.
Am frühen Morgen wacht er auf. Amandine liegt neben ihm, nackt, zusammengerollt zu einem Knäuel, schön. Karl hört ihr beim Atmen zu, lässt sie nicht aus den Augen, vergewissert sich, dass die Haut warm ist, nimmt sie in die Arme. Lange liegt er so da. Dann berührt er Amandine, küsst ihren Hals, zieht sie an sich, umschließt sie, spürt sich selbst, seine Wärme, ihre Wärme, will sie einsaugen, sich an ihr nähren, atmet im selben Rhythmus wie sie, hält eine Haarsträhne, ein einzelnes Haar ans Licht, streicht es sich über die Wange. Als sie aufwacht, die Nussaugen auf ihn richtet, ihm Fragen zu stellen scheinen, treffen sie ihn mitten ins Herz. Amandines Lippen öffnen sich, Perlmuttzähne werden sichtbar. Ein Speicheltropfen löst sich, befeuchtet die Lippen. Sie küsst ihn. Er spürt die Zunge, das Glück, das mit ihm spielt. Seidenfinger wandern über seinen Körper, während er stillhält. Amandine nimmt Karl. Wie in einem Traum gleitet er in sie, schwimmt in ihr. Sie sitzt auf ihm, schließt seine Augen mit einer Fingerbewegung. Hinter dem Vorhang der Lider erinnert er sich an den Panther. Als er sich in sie ergießt, schreit er. Amandine bäumt sich auf. Die Muskeln ihres Geschlechts schließen sich um ihn er fühlt sich eins mit ihr.
Beim Frühstück lächeln sie einander unentwegt an. Die Stimmen der Geschäftsleute neben ihnen am Tisch dringen zu ihnen.
„Iss dich satt, Liebling!“, sagt Amandine, nippt am Orangensaft, löffelt Müsli, steckt sich Rührei, Speck in den Mund, lässt Karl nicht aus den Augen, streichelt seine Wangen.
„Die Kinder kommen bald“, sagt sie.
Kaum verklingen ihre Worte, stehen sie am Tisch, setzen sich zu den beiden, häufen auf ihren Tellern Brötchen, Croissants, Wurst. Sie tragen Shorts, Sandalen und T-Shirts mit der Aufschrift I am proudin unterschiedlichen Farben, riechen nach Stroh und Sonne. Amandine küsst ihre Hände zur Begrüßung. Der Kellner verlangt Extratrinkgeld für sie, nickt ihnen zu und grinst. Sie fragen ihn, ob sie Kakao bekommen können. Karl kann sie immer noch nicht unterscheiden.
„Sightseeing, monsieur?“, fragt eins der Kinder.
„Wie heißt ihr eigentlich?“
Sie kichern, stoßen sich gegenseitig an, deuten auf Amandine: „Frag sie!“
„Ist Amandine eure Schwester?“, fragt Karl.
„Mm“, sagen sie gleichzeitig.
Amandine lacht und schweigt. Die Kinder stecken einige Croissants in die Taschen, dann brechen sie auf.
Die Luft schmeckt nach Teer und Asche, Im Taxi läuft Hip-Hop, Amandine sitzt zwischen den Kindern, wippt mit, singt. Die Fahrt dauert. Irgendwann stehen die Häuser weniger eng beieinander, weichen Büschen, Bäumen, Gras, Feldern, Weidevieh. Sie nähern sich einem Fluss, fahren an ihm entlang. In einem Hüttendorf halten sie.
Die Kinder nehmen Karl an die Hand. Menschen kommen ihnen entgegen, lachen, berühren die Besucher, bilden eine Traube um sie, reden durcheinander. Amandine läuft hinterher, umarmt einige. Vor einer Hütte bleiben sie stehen. Die Kinder beschmieren Karls Gesicht mit Erdfarben, geben ihm eine Schale mit einem Getränk, das wie heißer Honig durch die Kehle rinnt, den Himmel seiner Träume in Pastellfarben taucht. Plötzlich stößt Amandine sich ab, rennt über den Lehmweg, zwischen den Hütten hindurch.
Der Rhythmus stampfender Füße pocht in Karls Ohren. Die Kinder weisen ihm die Richtung, zeigen zur Graslandschaft, einem Wäldchen, das auf einer Anhöhe liegt. Er fühlt sich leicht, obwohl die Sonne auf die Glatze brennt. Von Amandine ist nichts mehr zu sehen. Staub wirbelt auf, Karls Beine schmerzen, Schweiß durchtränkt das Unterhemd, auf dem Polo-Shirt bilden sich feuchte Flächen. Grasgeruch steigt ihm in die Nase, die Fäulnis überreifer Früchte. Er läuft auf einem Pfad nach oben. Am Horizont erstreckt sich der Fluss.
Neben einem Baum erkennt er den Panther, der ihn fixiert, abschätzt, sich zum Angriff bereit macht. Das Raubtier öffnet das Maul, Reißzähne werden sichtbar. Karl spürt eine sonderbare Kraft in den Beinen, drückt sich ab und jagt dem Panther auf vier Füßen entgegen, fletscht die Zähne, springt vorwärts, bis er es erreicht. Die Fellhaare wirbeln in der Luft. Sie kommen sich ganz nahe, umkreisen einander, warten darauf, wer beginnt, wer mehr wagt. Schließlich springen sie gleichzeitig ab, verkeilen sich, reißen sich die Flanken auf, suchen nach dem Hals, um den tödlichen Biss zu setzen, während sie Gras zertreten, Staub emporsteigt, Blut zu Boden sickert. Ihre Raubtieraugen flackern und halten in dem Moment inne, als sie einander wie in einem Spiegel erkennen. Dann erst erstarren sie und lassen voneinander ab, stehen sich gegenüber, beide mit Bisswunden, mit den Spuren der Pranken des anderen übersät. Amandine atmet schwer, die Nüstern blähen sich auf. Karl streckt die Schnauze zum Himmel, reibt die Nase, den Schädel an Amandines Kopf. Sie schleckt über seinen Körper, saugt das Blut auf, mischt seines mit ihrem, legt sich auf den Grasboden. Dort dreht sie sich auf den Rücken, ihr Bauch sieht wie Milch aus. Karl legt sich daneben, Fell an Fell wenden sie sich einander zu, während die Sonne wie ein Blutball vergeht, sie mit dem Licht der Abenddämmerung umgibt. Grillen zirpen im Gras. Oberhalb des Hügels werfen Bäume Dämonenschatten auf Amandine und Karl. Das Paar fühlt sich am Ziel, deshalb schließen beide die Augen.
Als sie wieder aufwachen, schieben sie die Finger ineinander und kehren zum Dorf zurück. Es ist leergefegt, keine Menschenseele begegnet ihnen.
„Wo sind die Kinder hin?“
Amandine zeigt zum Himmel, wo Mond und Sterne die Nacht beleuchten.