Mitglied
- Beitritt
- 13.11.2002
- Beiträge
- 666
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Am Zaun
Mit festgeketteten Händen einen Porno zu sehen, muss das gleiche sein- unbefriedigend.
Ich stehe vor ihr, den Arm erhoben, bereit, ihr eine Ohrfeige zu verpassen, die alle Lichter zum erlöschen bringen könnte. Aber im Rauchglas der Wohnzimmervitrine sehe ich nicht das flache Dreieck, das meine Hand hätte sein sollen: Ich sehe eine Faust, festgefroren in mit Worten vergifteter Luft. Sie schwebt dort, knochig und hart, und sie bleibt dort.
So ist es immer.
Sabines Waffen sind einfach besser. Paradox: Je häufiger sie ihre benutzt, um so schärfer werden sie. Und, um im kriegerischen Jargon zu bleiben, sie hat eine Geisel. Unsere Geisel.
Ihre...und meine.
»...........Jugendamt.....Verfügung........«, brüllt sie.
Erstaunlich. Ich starre auf ihren Lippenstift, während kleine Explosionen einer Wut vor meinen Augen zerbersten.
Mein Hirn, das träge Ding, filtert alles - alle Drohungen, jede noch so kreative Beleidigung, egal ob neu oder schon x-mal vernommen.
Jugendamt.
Verfügung.
Nur diese Worte verfangen sich zwischen den schnappenden Kiefern meiner Wut. Diese Worte sind nicht klein zu kriegen.
Ich kann alles sein: Sittenstrolch, Verbrecher, Trinker, Penner, Arbeitsloser, wahlweise Schwarzarbeiter, Rassist, Komiker.
All diese Rollen und ihre Kostüme stehen stets für mich parat, wann immer es Sabine beliebt. Momentan gebe ich den Berserker, weil mich niemand schneller dazu bringt, in diese Kutte zu schlüpfen.
Ein unbedachter Moment, und ich hatte den Arm erhoben, weil sie das negativste gesagt – ausgegespien- hatte, was ich kannte: Schlechter Vater.
Ich bin kein schlechter Vater.
Ich bin nur so gut als Vater, wie es der Präsident als Führer der USA wäre, wenn sie ihn auf Kuba festhalten würden. Auf Distanz schafft das niemand.
Distanz.
Klingt so technisch.
Distanz ist eine unbeleuchtete Haustür nachts um drei, während man auf ein kindliches Atmen aus dem Fenster über einem lauscht.
Distanz sind zwei Meter Teppichboden zwischen zwei Stühlen in einem Amtszimmer.
Distanz sind acht Schritte von der Bank, die einen wie einen Spaziergänger- und dem Zaun des Kindergartens, der einen wie einen Sittenstrolch erscheinen lässt.
Ich gehe. Wie immer.
Das Bild meiner Tochter, das ich im Kopf trage, erscheint mir manchmal vorm Einschlafen sehr stark koloriert, als wolle mein Geist etwas beleben, was nur auf Papier existiert.
Das Jugendamt ist die Stätte der berühmten drei Affen; Sie halten sich allesamt die Augen zu, damit der Mund offen bleiben kann. Für sie bin ich, was sie in mir sehen wollen.
Distanz sind 21 mal 29,7 Zentimeter, Behördenstempel unten rechts.
Ich sehe meine Tochter durch den Maschendraht ihres Kindergartens.
Sie spielt mit irgend etwas, aber von hier aus kann ich nicht erkennen, was es ist.
Ein Zaun. Die Welt ist schlecht, ich weiß.
Freiheit: Das ist für mich ein kleines Zimmer, in dem ein Plüschmond eine Melodie spielen kann. Die Biene Maja lacht von der Lampe, und die Barbie hat noch nasses Haar von ihrer Badepartie in der Wanne.
Ich bin ein Gefangener.
Meine Zelle ist der ganze Rest der Welt.