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Am Yerinat
Die Frühlingssonne der Taiga lacht auf Agafja herab. Bald werden auf den Wiesen die Blumen blühen und zeigen wird die Schöpfung, dass es Gott gefällt. Sie blinzelt und hört auf das Flüstern der Geister im Wind, der Ahnen, der Toten. In der Nacht war das Bärenjunge mit seiner Mama zu Besuch. Der grelle Blitz der Signalpistole hat sie in die Wälder zurückgejagt.
Agafja schlägt das Kreuz, kniet, berührt mit der Stirn das Polster, das vor der Ikone liegt, steht auf, beginnt von vorne, zählt mit, sieben Wiederholungen müssen es werden. Man muss sich rein halten um der Seele willen, damit die Gebete zum Himmel steigen, kein Unglück passiert. Nüsse, Honig, die Früchte der Erde, der Sträucher und Bäume sind an den Fastentagen erlaubt. Sie betrachtet das Bild der Brüder, schwarzweiß, aber sie erkennt ihre Blicke, ihr Lächeln. Die Gräber liegen nebeneinander, einfache Holzkreuze, oben der Balken im rechten Winkel, unten schräg, wie es die alte Kirche vorschreibt. Man hat ihr ein Foto geschickt. Sie sind in der Fremde begraben, weit weg.
An den Samstagen geht sie zum Fluss, um zu fischen. Sie holt das Netz aus dem Schuppen, den Köcher, die Köder, hat den Eimer dabei. Beim Schließen der Tür bricht ein Stück Holz vom Rahmen. Sie zieht den Splitter heraus, Blut quillt aus der Wunde. Dann steckt sie den Finger in den Mund und leckt daran, schmeckt sich selbst, all das, was in ihr fließt, die Flüssigkeit, die alles zusammenhält. Um die Blutung zu stillen, reißt sie etwas Gras aus, kaut es, spuckt auf den Finger. Die Mutter hätte die Wunde mit Kräuterpaste eingerieben. Agafja betrachtet ihre Hände, die Erdreste, die sich unter den Nägeln gesammelt haben.
Der Yerinat wird Schmutz und Blut entfernen, wie er Körper und Seelen reinigt. Die Sonne steht noch nicht hoch. Am Himmel wandern ein paar Wolken. Der Fluss führt das Schmelzwasser der Berge, reißt Bäume, Äste, die Kadaver ertrunkener Tiere mit sich. Wo die Strömung am stärksten ist, kräuselt sich das Wasser. Wenn man zu den Bergen schaut, erkennt man, dass hier viel mehr und viel höhere Häuser stehen als in allen Städten der Welt. Agafja hat gesehen, was sie Zivilisation nennen, und ist zurückgekommen nach Kharkassien.
Als sie die Senke am Ufer erreicht, hört sie einen Sokol rufen, sieht seinen Schatten auf der anderen Uferseite über den Bäumen segeln, riecht das Wasser des Yerinat. Vielleicht bekommt sie einen Hecht oder einen Taimen zu fassen, ein paar Rotaugen werden es gewiss.
Ihre Brüder holten die besten Fische aus dem Fluss. Es ist lange her, mehr als fünfzig Jahre, vielleicht war's im Sommer des Jahres 7472 nach Adam, als die Sonnentage bis in den Herbst anhielten. Sie sieht Dmitri vor sich, wie er ins Wasser stürmt, sich dem fließenden Wasser entgegenstemmt, das Netz auswirft. Er hat damals die Wette mit Savin gewonnen. Die Brüder sprachen tagelang von nichts anderem, als von dem Plan, den Fluss zu durchschwimmen, heimlich, denn es war verboten. Nur der Vater durfte auf die andere Seite. Als Kinder hatten sie sich vorgestellt, dass dort Einhörner durch das Gras sprängen und Riesenschmetterlinge in allen Farben flögen, es einen Baum gäbe, dessen Wurzeln die Welt umspannten und der Geist der Mutter über die Wiesen und Bäume segelte. Eines Tages zeigte Dmitri zum Fluss und sagte, dass es ein guter Tag sei, den Fluss zu besiegen. Savin lachte ihn aus.
„Das schaffst du nie.“
„Wetten, dass ich es schaffe, wetten. Ich bin stärker als der Fluss und winke dir von der anderen Seite aus zu.“
„Nimm doch das Floß und setz über, ist viel einfacher.“
„Du wirst schon sehen, ich schwimme wie ein Fisch.“
„Du stinkst jedenfalls wie einer.“
„Na warte!“
„Keiner darf auf die andere Seite. Der Vater hat’s verboten.“
„Was soll da schon besonderes sein?“
„Der Teufel, wer weiß.“
Agafja schrie Dmitri an: „Und wenn du doch nicht so stark bist, die Strömung dich mitreißt, was dann?“
„Ach, lass mich, du bist ein Mädchen, hast keine Ahnung von gar nichts. Ich bin ein Mann, der Fluss kann mir nichts.“
„Und wenn doch?“
„Ihr sichert mich, dann kann gar nichts passieren.“
Dmitri hatte einen kräftigen Oberkörper, wuchernde Haare auf Brust und Rücken, Arme wie die Äste, Beine wie die Stämme der großen Eschen, die verborgen im Wald wuchsen. Er streifte das Leinenhemd ab. Agafja hatte es mit einem Sud aus Käfer- und Lausblut gefärbt, schwarz, wie er es sich gewünscht hatte. Dmitri stand in Unterhosen da und machte sich bereit, kreiste mit dem Becken, beugte die Knie. Savin knotete das Seil um seinen Bauch. Dmitri warf sich mit einem Schwung ins braune, aufgewühlte Wasser, bereit, den Widerstand des Stromes zu brechen, seine ganze Kraft dagegen zu setzen. Anfangs wurde er mitgezogen, mit einmal tauchte er unter, aber dann erschien sein Kopf wieder an der Oberfläche. Dmitri probierte es gegen die Strömung, aber er vermochte bloß auf der Stelle zu verharren und gab nach einigen Versuchen das Zeichen, dass er kapitulierte. Savin zog Dimitri heraus. Als er aus den Fluten stieg, perlten die Tropfen auf seiner Haut ab, das Haar war zerzaust, er schüttelte sich, grinste und die Worte sprudelten aus ihm heraus:
„Kein guter Tag heute. Ein Krampf, kaum war ich losgeschwommen. Eiskaltes Wasser. Habe ich nicht erwartet.“
Savin schwieg, klopfte ihm dann auf die Schultern und sagte: „Du hast es versucht, das ist schon was. Sobald der Yerinat weniger Wasser führt, die Fische so weit oben schwimmen, dass man sie sieht, schwimmen wir zusammen rüber. Ich will wissen, was es auf der anderen Seite gibt.“
Dmitri schüttelte die Hand des Bruders: „Abgemacht, Savin. Wär‘ doch gelacht, wenn wir beide das nicht schaffen.“
Sie sprachen nicht mehr davon, bis es Sommer wurde, der Pegel des Yerinat sank, sodass man bis zum Grund schauen, Soma beobachten konnte, die sich im Schlamm eingruben. Außerdem war der Vater in den Bergen.
Dmitri und Savin steckten ihre Messer und das Kreuz in den umgeschnallten Beutel, falls der Teufel ihnen begegnen würde. Auf der Haut der Brüder spiegelte sich die Sonne, als sie losliefen und in das Wasser glitten. Sie kraulten um die Wette. Dmitri setzte sich ab, der Fluss plätscherte laut, als wollte er Beifall leisten. Nachdem er aus dem Wasser gestiegen war, winkte er Agafja zu, grinste über beide Ohren und streckte seinem Bruder die Hände entgegen, als dieser das Ufer erreichte. Dmitri hatte gewonnen, Savin auf gewisse Weise auch. Agafja hörte sie singen, beten und im Wald verschwinden und wartete lange, bis sie wieder erschienen.
Irgendwann waren sie zurückgeschwommen, ganz langsam, denn der Yerinat ist ein Freund. Sie erzählten, dass sie eine Weile die Gegend erkundet, weder Riesenschmetterlinge noch Einhörner gefunden haben. Nichts sei anders, hier und dort. Kaum waren sie zurück, da zog Savin etwas aus dem Beutel: „Ich besuche die Mama“, sagte er und lief zum Grab unweit des Stalls. Er legte einen kleinen Ast und ein paar Eschenblätter auf den Grabstein, der von Lapislazulieinsprengseln durchzogen ist, als wären es Wurzeln. Agafja hörte ihn weinen und der Mutter erzählen, dass er den Baum entdeckt, von dem sie erzählt habe und sein Laub sie wärmen und beschützen werde.
In der Nacht heulen die Wölfe, aber den Yerinat durchschwimmen sie nicht.
Agafja war mit dem Floß seither einige Mal auf der anderen Seite, ohne etwas Besonderes zu finden, auch den Baum nicht. Sie blickt zum Himmel, zieht die Schuhe aus, watet durch den Schlamm und wirft das Netz in die Fluten.