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Am Kreuztrichter
Georg steht am Pier und raucht. Als er mich sieht, kommt er mir entgegen und für einen Augenblick befürchte ich, dass er mich umarmen will. Wir geben uns die Hand, seine Augen sind gerötet. Das Boot sei vorbereitet, sagt er. Luja, an den Namen kann ich mich erinnern. Vor Jahren habe ich darauf einen quälend langen Tag verbracht, an dessen Ende meine Mutter mir Après Soleil auf den Nacken schmierte, und ich mir schwor, es niemals wieder zu betreten. Sie schraubte den Deckel auf die Tube und wollte wissen, weshalb ich mich nicht zu ihnen in den Schatten gesetzt habe. Ich sah zu Georg, der im Badeslip unter dem Sonnendach saß, die leicht ergrauten Haare nach hinten gekämmt, die Arme weit ausgebreitet, und zuckte mit den Schultern. Zurück zum Hafen fuhren wir unter Motor, er war zu betrunken, um nach Hause zu segeln. Ich googelte Luja und teilte ihm mit, so heiße auch die neueste Generation von Blasenkathetern.
Er führt mich zu der kleinen Bogenbrücke, auf deren Scheitelpunkt wir den See überblicken, und steckt sich eine weitere Zigarette an. Sein Smartphone vibriert.
«Deine Schwester», sagt er. «Sie sind gleich da.»
«Hat sie einen Neuen?»
«Seit einem halben Jahr, glaube ich.»
Bäume säumen das Ufer, in den Kronen verfängt sich der Morgennebel. Auf einem Pfosten im Wasser steht eine Mittelmeermöwe, früher gab es die Art hier noch nicht. Mit dem roten Fleck auf der Schnabelspitze sieht sie aus, als hätte sie soeben getötet. Der See ist ruhig, in einigen hundert Metern Entfernung wechselt das Wasser die Farbe, von grünlichem Weiß hin zu Perlgrau. Dahinter ragen die Berge meiner Kindheit auf, der Vitznauerstock, die Rigi, die Mythen, der Niederbauen. Die Enge, die ich bei deren Anblick empfand, ist einem interesselosen Wohlgefallen gewichen. Georg raucht in schnellen Zügen, noch nie habe ich ihn so lange schweigen sehen. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, sind seine Tränensäcke weiter angeschwollen.
Während ich mit leeren Händen gekommen bin, hat meine Schwester einen Rosenstrauß mitgebracht. Ich wundere mich, wie flüchtig sie Georg begrüßt, dann fällt mir ein, dass sie sich in den vergangenen Tagen getroffen haben müssen. Ihr Neuer stellt sich als Reto vor, ich erwidere sein Lächeln.
«Wo ist Meret?», fragt sie mich.
«Sie hat Corona.»
«Ach je. Schlimm?»
«Halsschmerzen, etwas Husten.»
«Hat sie sich isoliert? Hast du dich ebenfalls testen lassen?»
«Selbstverständlich.»
Reto schiebt mit dem Fuß Kies zur Seite. Dann dreht er sich zum Boot. «Luja ist ein toller Name», sagt er zu Georg. «Wie bist du darauf gekommen?»
Vor zwei Wochen habe er Luja auf Vordermann gebracht, sagt Georg, während er meiner Schwester aufs Deck hilft. Sie und Reto setzen sich unter das Sonnensegel, ich mich ihnen gegenüber. Das Gefäß unter dem Tisch ist bloß ein Sektkühler. Er ist mit Eis gefüllt, darin steckt eine Flasche Weißwein. Georg wirft den Motor an.
«Wie geht es dir?», fragt meine Schwester. «Ich meine grundsätzlich.»
«Gut.»
«Arbeitest du noch an deinem Roman? Kommst du vorwärts?»
Nachdem das Buch erschienen ist, habe ich meiner Mutter ein Exemplar geschickt. Ich weiß nicht, ob sie es gelesen hat. Ich weiß nicht, ob es sie verletzt hat. In meiner Hosentasche steckt eine Rezension der Berner Zeitung, die erste und vermutlich auch letzte.
«Ja, ja.» Ich wende mein Gesicht ab.
«Schreibst du schon lange?» Reto wickelt einen Schal um seinen Hals, das Boot hat Fahrt aufgenommen.
«Ja. Aber nicht ernsthaft.»
Die Flanke des Bürgenstocks zieht an uns vorbei. Wo früher Scheunen standen, blitzen die überdimensionierten Fenster weißgetünchter Villen in der Sonne. Weiter oben erblicke ich die St. Jost-Kapelle. Dort liegt mein Vater begraben. Ich kneife die Augen zusammen, erkenne das Kreuz auf dem Turm.
Georg sitzt am Ruder, eine erloschene Zigarette zwischen den Fingern. Er bemerkt, dass ich ihn ansehe, wischt sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und sagt, wir seien bald am Ziel.
«Wie heißt die Stelle noch mal?»
«Kreuztrichter.»
Als er den Motor abstellt, das Boot zur Ruhe kommt, beuge ich mich über die Reling und strecke den Arm aus. Ich möchte wissen, wie warm das Wasser ist. Fast berühren meine Finger die Oberfläche, dann lasse ich es sein. Ich richte mich auf und sehe hinüber zur Nase des Bürgenstocks. Mit zwei Gummibooten sind Lena und ich dorthin gerudert, eines für uns, eines für das Gepäck, und haben ein Zelt aufgeschlagen. Ihre Hand auf meiner Brust lauschten wir den Geräuschen der Nacht. Als wir zurückfuhren, war ich ein Mann geworden, zumindest dachte ich das. Noch immer bilden dort Eibe, Buche und Traubeneiche einen dichten Wald. Über den Wipfeln kreist ein Mäusebussard.
«Hier ist es», sagt Georg. «Von hier siehst du alle vier Arme des Sees, siehst, wo es Wind gibt. Alle Möglichkeiten stehen dir offen. Wenn du Lust hast, fährst du nach Luzern. Dort legst du an und lässt dir in einem piekfeinen Restaurant Forelle blau servieren. Haben wir oft darüber gesprochen, es aber nie gemacht.»
Meine Mutter hat mir ihren Lieblingsort nie verraten. Es ist okay. Es ist gut, dass sie es ihm gesagt hat.
«Das kann sie ja jetzt nachholen», sagt meine Schwester.
«Ja, das kann sie.» Georg verschwindet unter Deck und als er wiederkommt, hält er die Urne in seinen Händen. «Dann wollen wir mal.»
Genauso hätte es auch meine Mutter gesagt. Dann wollen wir mal. Ich unterdrücke ein Lachen. Sachte legt meine Schwester die Rosen in den See, Reto hilft ihr dabei. Georg hebt den Deckel von der Urne. Mit der Hand schützt er die Asche vor dem Wind und sieht uns fragend an.
«Du zuerst», sage ich, merke, dass meine Stimme zittert.
Georg nickt, stellt das Behältnis am Bootsrand ab und taucht die Hand hinein. Als er meine Schwester zusammenzucken sieht, hält er inne. «So will sie es. Sie möchte zerstreut werden, nicht ausgeschüttet», sagt er, zieht die Hand heraus, lässt die Asche ins Wasser rieseln. Nachdem er die Bewegung ein paar Mal wiederholt hat, überreicht er die Urne meiner Schwester, und auch wenn es sie offensichtlich Überwindung kostet, tut sie es ihm schluchzend gleich. Reto hat die Arme von hinten um sie geschlungen. Ich überlege, was ich davon hielte, wenn sie die Asche an ihn weitergäbe, in diesem Augenblick streckt sie mir die Urne entgegen.
Meine Finger gleiten in die Asche. Sie fühlt sich nicht weich an, sondern wie rauer, trockener Sand. Ich balle die Hand zur Faust, Partikel dringen unter meine Fingernägel. Weinend ziehe ich die Hand aus der Urne. Als ich mit vierzig Grad Fieber im Bett lag, pflegte mich Mutter gesund. Wusste ich nicht mehr weiter, verkroch ich mich bei ihr. Sprach ich davon, was mir wichtig ist, unterbrach sie mich, um von ihrer Katze zu erzählen. Nun treibt ihre Asche zwischen den Rosen, sinkt ab, entschwindet.
Wir stoßen mit dem Weißwein an, den sie am liebsten trank.
«Chasselat ist nicht so meins», sagt Georg, nachdem er sein Glas ausgetrunken hat. «Ich hole einen anderen.»
Eine Weile hören wir ihm zu. Er raucht Zigarette um Zigarette, erzählt von Törns auf dem Mittelmeer, von den guten Zeiten, die er mit unserer Mutter verbracht habe, auch in der Kajüte. Meine Schwester legt die Hand auf seine Schulter. Er versteht und wechselt das Thema. Seine Zunge wird schwer, nach der dritten Flasche verfällt er in ein dumpfes Schweigen. Die Rosen sind nicht mehr zu sehen, wir sind ein gutes Stück davon weg getrieben. Die Sonne steht im Zenit, es ist warm geworden. Der Wein hat einen säuerlichen Geschmack in meinem Mund hinterlassen, meine Schläfen pochen. Ich lege mich auf den Bug, presse die Wange gegen das Holz, höre, wie Georg den Motor anwirft.
Auf dem Parkplatz verabschieden wir uns. Meine Schwester gibt mir einen Kuss auf die Wange.
«Hat mich gefreut, dich kennenzulernen», sagt Reto.
Mir wird bewusst, wie sehr er sich im Hintergrund gehalten hat, finde aber keine Worte, mich dafür zu bedanken.
«Wo steht dein Wagen?», fragt Georg, nachdem die beiden losgefahren sind.
«Ich bin mit dem Zug hier.»
«Soll ich dich zum Bahnhof fahren?»
«Ich nehme den Bus.»
«Es war schön», sagt er.
«Finde ich auch.» Ich umarme ihn und als er in sein Auto steigt, hebe ich die Hand zum Gruß.
Von der Bogenbrücke blicke ich noch einmal auf den See. Es ist still, die Berge spiegeln sich im Blau des Wassers. Die Jacke ist mir zu warm geworden. Ich ziehe sie aus und gehe am Ufer entlang. Unter meinen Füßen schwankt der Boden, aber das wird bald wieder besser. Ich folge der Straße, die ins Dorf führt. Es dauert Minuten, bis ich merke, dass ich auf meinen einstigen Schulweg abgebogen bin.