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Am Anfang war die Eierschaukel
Da stand sie nun. Im Grunde glich sie einem überdimensionalen Eierbecher aus weißem Porzellan. Genauer gesagt, einem leeren Eierbecher. Sie überragte sämtliche Häuser der Stadt. Einzig der Kirchturm bot die Möglichkeit, hineinzusehen. Aber dazu hätte man bis zu dem Wetterhahn auf seiner Spitze klettern müssen. Doch niemand wagte es, und so blieb nichts übrig, als auf den Polizeihubschrauber zu warten.
Dass es sich um eine Eierschaukel handelte, ging aus den vielen Flugblättern hervor, die den Boden des Stadtparks rund um das Objekt bedeckten. Nur ein kurzer Satz war auf ihnen zu lesen: Dies ist eure Eierschaukel.
Ein Zeitungsbote hatte sie zuerst gesehen. Er habe sich gebückt, um seine Mütze aufzuheben, die ihm ein Windstoß vom Kopf gerissen hatte, erzählte er den staunenden Journalisten. Als er sich dann aufgerichtet habe, sei das Ding dagewesen. Einfach so.
„Mach mal lauter“, sagte Gregors Schwester. Abwechselnd sahen sie und ihr Bruder auf den Bildschirm und durch das geöffnete Fenster. Sie bemerkten, dass das Licht der Scheinwerfer im Park eine andere Farbe hatte als im Fernsehen. Irgendwie blauer.
Lupine drückte auf den Lautstärkeknopf.
„Ich war völlig baff“, sagte der Zeitungsbote. „Zuerst hab ich gedacht, das ist ein Ballon, oder so was, ein Heissluftballon.“ Sein Gesicht begann zu zucken. „Sonderformen.“ Ein kurzes albernes Lachen quoll durch seine zusammengepressten Zähne. „Ich geh näher ran…“
„Waren die Flyer schon da?“, unterbrach ihn einer der Reporter.
„Nee. Die kamen ein paar Sekunden später.“
„Und woher?“
„Aus dem Ding – sie rutschten irgendwie aus dem Ding raus.“
„Wie muss man sich das vorstellen? Wie bei einem Drucker? Da war also ein Schlitz?“
„Ein Schlitz? Das waren jede Menge Schlitze. Nur – man konnte sie nicht sehen. Und ich Idiot…“ Er hob den rechten Arm. Seine Hand glich auf eine absurde Weise einer umgedrehten Panflöte. „Ich fasse das Ding an, und zack! versinkt sie in dem weißen Zeug. Hat merkwürdigerweise nicht weh getan, und geblutet hat’s auch nicht.“
Gregor stand auf, nahm seinen Stock und ging zum Fenster. Der arme Kerl, dachte er, und griff nach dem Fernglas. Vier Finger weg. Andererseits ist er jetzt für ein paar Tage der berühmteste Mann der Welt. Ist ja auch nicht schlecht. Meine Hüfte ist kaputt und mich kennt kein Mensch.
„Nine eleven, Mondlandung“, murmelte Lupine. „Alles kalter Kaffee gegen das da draußen. Sieht man was?“
„Diesen armen Burschen, diesen Zeitungsboten, kann man genau sehen. Jedenfalls den Kopf. Du ahnst nicht, wie viele Mikros und Kameras da unten sind.“
„Alles Arschlöcher. Morgen werden sie uns hier die Luft weg atmen.“
Lupine behielt Recht. Bereits am Abend des folgenden Tages befand sich die Stadt im Ausnahmezustand. Gegen Mittag hatte es den ersten Toten gegeben. Ein Kameramann war von einem Bus auf die Straße gestürzt und überfahren worden. Gregor war drauf und dran, eine Strichliste anzulegen für Alle, die im Gedränge ohnmächtig geworden waren und auf Tragbahren weggeschafft wurden.
„Der Park ist rappelvoll. Morgen kommen die Soldaten“, prophezeite Lupine.
„Und übermorgen landen die Außerirdischen.“
„Schön wär’s.“
„Kann doch sein?“
Mittlerweile hatte jeder die Aufnahmen aus dem Helikopter gesehen. Er war ein paarmal über die Eierschaukel geflogen. Die Qualität der Aufnahmen war tadellos. In Talkshows und Parlamenten, in Wohnzimmern und Nachtclubs auf der ganzen Welt stellte man über das, was da zu sehen war, Vermutungen an. Vor allem eine Frage beherrschte die Menschen.
Wenn das wirklich Eier sind – wird da was schlüpfen? Und was?
„Pah! Was soll da schon schlüpfen?“ sagte Lupine. „Meine Güte, die sind ja nicht größer wie Hühnereier.“
„Als.“
„Was?“
„Als Hühnereier.“
„Von mir aus.“
„Gratuliere, du hast schon wieder richtig gelegen. Da sind Soldaten.“ Gregor hielt seiner Schwester das Fernglas hin. „Treiben die Leute auseinander.“
Am Morgen des dritten Tages begann es. Aus den beiden Eiern am Grund der Eierschaukel wurden vier. Eine halbe Stunde später waren es acht. Dann sechzehn. Gregor dachte an die alte Geschichte mit den Reiskörnern auf dem Schachbrett. Lupine hatte sich an den Tisch gesetzt und kritzelte auf einem Zettel herum.
„Ungefähr Mitternacht“, murmelte sie.
„Was ist um Mitternacht?“
„Du weißt doch, wie man die frisch verheirateten früher erschreckt hat – Erbsen in ‘ner Schüssel, und so.“
„Häh? Erbsen?“
Lupine verdrehte die Augen. „Man nimmt eine randvolle Schüssel mit Erbsen, gibt Wasser zu, und stellt die Schüssel auf den Schlafzimmerschrank. Die Erbsen quellen langsam auf und irgendwann…“ Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. „Irgendwann kullert das erste Ei über den Rand von dem Ding da draußen. Und dann geht alles ganz schnell.“
„Und du glaubst, das passiert um Mitternacht?“
„Könnte sein.“
So oft man sich die Aufnahmen der wundersamen Eiervermehrung auch im TV ansah, sogar in der langsamsten Slow-Motion – die Teilung selbst war nicht zu sehen. Da waren die beiden Eier, und im nächsten Augenblick lagen da vier. Und tatsächlich – eine halbe Stunde vor Mitternacht schien der gigantische Eierbecher genau zur Hälfte gefüllt zu sein. Die Minuten verstrichen.
„Woran denkst du?“ fragte Lupine.
„Ich frage mich, ob das erste Ei, das runterfällt, zerplatzt. Und ob dann irgendetwas zum Vorschein kommt. Vielleicht eine fette, gelbe Monsterspinne vom Mars.“ Gregor kicherte.
Auf dem Bildschirm war das Innere der Eierschaukel zu sehen. Das Bild zitterte etwas, durch das geöffnete Fenster war nichts zu hören außer dem Geräusch des Hubschraubers. Der Park war geräumt worden, und Milliarden von Menschen hielten vor Fernsehern und Monitoren den Atem an, als der erste von zwölf Glockenschlägen ertönte. Im Licht der Scheinwerferbatterien, umgeben von einem Dutzend Buchen und Platanen, wirkte das blendend weiße Ding wie etwas, dass sich zwei Surrealisten am Telefon ausgedacht hatten. Lupine hatte laut mitgezählt. „Acht … neun … zehn … elf…“
Natürlich war es nicht nur ein einziges Ei. Und natürlich zerbarsten sie. Und natürlich krabbelten Sekunden später…
„Heilige Scheisse“, flüsterte Gregor.
„Fenster zu“, wisperte Lupine.
„Ich glaub nicht, dass das was nützt.“