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Am alten Hafen
Da strahlt Wärme ab. Von den Betonplatten hier. Aus den Ritzen und Schlitzen im Beton wachsen Gräser und Hafenblumen. So nannte sie Hägar und er pflückte sie nie, denn Blumen waren nicht der Grund, weshalb Hägar zum Hafen kam. Dort am Ufer zwischen Ringen, Ketten und Pollern saßen wir, und nirgendwo sonst, im Sommer und schlugen, die Füße im Wasser, Blasen, die nach Kanal rochen. Wie schnell das geht, neun Jahre, und wie klar die Erinnerung ist an diesem Ort, den ich aufsuche wie einen Eintrag im Tagebuch. Ja, an diesem Ort fällt es leicht, mich an uns zu erinnern, und vielleicht bin ich heute nur deshalb hier und sicher bleibe ich noch eine Weile.
Zum Ufer, zu den Pollern laufe ich und die Strahlen wärmen meine Beine, heizen mich auf. Ich habe mir ein Bier mitgebracht, mit Absicht ohne Flaschenöffner. An den Pollern öffneten wir unsere Flaschen. Hägar zeigte mir den Trick: Kronkorken gegen das Eisen und dann mit der flachen Hand drauf, Schaum abtrinken, anstoßen und sich einen Schluck genehmigen. Meistens träumten wir und redeten nicht viel, er für sich, ich für mich. Jeden Tag kam er her nach der Arbeit wegen der Schiffe, die nicht fuhren. Einfach um sie sich vorzustellen. Hast du eigentlich einen Traum, Mari? Ich schüttelte den Kopf. Vielleicht, weil ich das wörtlich nahm. Selbstverständlich gab es einiges, wovon ich träumte. In Worte fassen können, hätte ich es wohl trotzdem nicht.
In einem Krankenhaus ohne Kreißsaal wurde ich geboren, erhielt Namen und Geburtsurkunde. Meine Mutter entband und verließ mich. Mein Vater gab mir Milchersatz und Liebe. Einen Mangel habe ich nie empfunden, mich nie gefragt, wieso eigentlich. Wenn man so geboren wird, ist das normal für einen selbst, selbst wenn andere Kinder anders geliebt werden, man achtet darauf nicht, oder zumindest ich nicht. Freunde, Verwandte, alle halfen mit, damit aus mir jemand werden konnte, der keinen Mangel empfindet. Das geht. Theoretisch kann man mit einer Gehirnhälfte denken. Man kann seine Niere spenden oder Teile seiner Leber. Und Mutterschaft auch, denke ich.
Kindsein war eine schöne Zeit. Polly Pockets Wunderwald, Fruit Loops und Honey Pops, Kinderkanal und Kinderriegel, viele allerbeste Freundinnen, Übernachtungsparties, Stickeralben, Kindergeburtstage, Kino, Streichelzoo und Minigolf. Freibad nicht zu vergessen und Taschengeld. Irgendwie managte mein Vater immer, dass es mir gut ging. Manchmal kam er müde vom Museum nach Hause und dann dauerte es eine halbe Stunde und wir aßen Ravioli mit Speckwürfeln und Streukäse und ich erzählte, wovon auch immer, dass Julia eine Packung Stabilos in die Schule mitgebracht und mir den grünen geschenkt hatte, den schönsten, ach, das mache ihn wach wie ein frisch aufgebrühter Kaffee, erzähl mir noch mehr bitte. Ich tat ihm auf meine Weise also auch gut. Wie ein frisch aufgebrühter Kaffee.
Als ich älter wurde, wollte ich wissen, warum sie das E vergessen hatten. Welches, na das in meinem Namen, warum hat Marie aus der Sechs ein E und ich nicht? Das ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich auch nicht so genau. Ist das was Besonderes? Ja, auf jeden Fall!
Mein Vater war Kartenabreißer, Kassierer und Aufpasser im Museum, kein Guide oder Direktor. Das erklärte er mir, als ich mir zum Zwölften ein eigenes Pferd wünschte, am liebsten einen Haflinger mit schneeweißer Mähne und Stern. Wenn du dir etwas wünschst, Mari, dann bekommst du es irgendwann. Wenn du dir aber zu viel wünschst, dann werden deine Wünsche schnell alt und schrumpelig wie die Äpfel, die du nie isst, obwohl du sie immer bestellst. Wünsch dir lieber etwas, das du gleich haben kannst.
Das Ende vom Lied waren zwei Reitstunden, die ausreichten, um mich zu überzeugen, dass es sich mit den Pferden tatsächlich wie mit den schrumpeligen Äpfeln verhielt. Ich wünschte fortan vorsichtiger und weniger, je mehr die Zeit verging. Andere Mädchen schminkten sich, machten Führerscheine, wollten raus, ich interessierte mich für den Wald, war Eins-Minus-Schülerin und verhielt mich so unauffällig, dass ich halbwegs beliebt war, kaum wer mich kannte und kein Junge oder sonst jemand je an meiner Tür klopfte oder Steine gegen mein Fenster warf. Zum Abiball ging ich alleine, ich hatte einen Igel und eine Fledermaus zu Hause, einsam und verlassen fühlte ich mich jedenfalls nicht. Mein Vater lieh sich den Wagen eines Freundes und fuhr mich und sagte, wie schön ich aussähe und dass er immer neidisch auf die Abiturienten gewesen sei. Mit einundzwanzigeinhalb war ich die jüngste Laborassistentin, die dem Versuchsleiter je untergekommen war. Tausendsiebenhundert Netto.
Ich hatte meine Zellreihen. Das waren Mäusezellen. Aus der Leber. Schon seltsam, Teile eines toten Tieres in einer Nährlösung fortleben zu lassen. Mehr als ein Mal musste ich mir den Zweck unserer Forschung vor Augen führen, weil ich zwei Stunden über einen Western Blot gebeugt bereute, nicht Försterin, sondern Laborratte zu sein und meine Zeit mit fast unsichtbaren Zellvorgängen zu vergeuden. Doch etwas anderes wollen konnte man auch später noch, denn noch war es das Naheliegendste mit Zellen der Mäuseleber zu forschen und etwas mehr Geld als mein Vater zu verdienen. Jetzt kannst du mich zum Eis einladen, sagte er, wenn er mich zum Eis einlud. Manchmal kaufte ich mir etwas von meinem Geld, eine Limo zum Beispiel. Nach der Arbeit ging ich meist am stillgelegten Hafen und der Hundefutterfabrik vorbei in den Wald, um Tiere zu beobachten. Rehe in der Dämmerung, Bienen, Schnecken, manche Vögel, besonders den Flug der Bussarde, Insekten auch und Füchse und einmal einen Hirsch. Reine Neugier ließ mich eines Juniabends mit Gewitterwolken das Hafengelände betreten.
Ziemlich sicher stand ich an derselben Stelle, an der ich jetzt in diesem Augenblick stehe, als ich ihn dort bei den Pollern sitzen sah, die Beine bis zu den Knien im Wasser. Dass er einen Bob trug, ja, aber dass er ein Junge war, vermutete ich erst, als er sich nach mir umdrehte und ‚Huch‘ rief, weil er offensichtlich erschrak. So ein Gesicht hatte ich noch nicht gesehen. Die Augen waren weiter entfernt voneinander als gewöhnlich, die Brauen verwachsen, in der Mitte verbunden, aber schön. Dieses Paar Augen musterte mich scheu wie das eines Waldtieres. Darin meinte ich eine tiefwurzelnde Furcht zu erkennen und blieb stehen. Erst als seine langen, schmalen Lippen ein Lächeln aufspannten, kam ich näher.
Stört es dich, wenn? Nein, gar nicht, und er rutschte zur Seite. Ich zog meine Schuhe aus und meine Strumpfhose und tauchte beide Beine ins Wasser. Tut gut, oder? Ja, tut gut. Willst du deine Limo trinken? Ja, warum nicht. Soll ich sie aufmachen? Ja, warum nicht. Er zeigte mir den Trick und ein bisschen beeindruckte mich das. Wie heißt du? Hägar und du? Marie ohne E. Warum ohne E? Ist Walisisch. Was ist Walisisch? Weiß ich nicht so genau, aber etwas Besonderes. Verstehe. Bist du öfters hier, fragte ich. Jeden Tag ein, zwei Mal. Willst du einen Schluck Limo? Ja, gerne.
Es blitzte und kam in Eimern auf uns runter. Um vor dem Regen zu fliehen, war es zu warm. Barfuß liefen wir zum Unterstand, der aus einem rostigen Dach mit splittrigem Glas und Betonboden bestand. Dort hockten wir herum. Hägar war einen Kopf kleiner als ich und hatte die Tendenz, nicht zu blinzeln und immer geradeaus zu starren. Jeder für sich beobachteten wir den Kanal auf dessen Oberfläche Regentropfen wie tausend Kieselsteine hagelten. Hägar atmete laut, als steckte etwas tief in seiner Nase, doch ich beschloss, ihn darauf nicht anzusprechen. Ich gehe normalerweise in den Wald, sagte ich. Hägar hob den Kopf. Dieses Gesicht, diese Augen und eigenwüchsigen Brauen wirkten auf mich schon jetzt so vertraut wie die Züge eines beliebigen Tieres, das ich bereits mehr als zwei Mal beobachtet hatte.
In den Folgetagen kam ich wieder zum Hafen. Wieder mit einer Limo und einer für Hägar. Ich saß und meine Schuhe und Strumpfhose lagen am extakt gleichen Ort und jetzt fragte Hägar, ob ich die Flaschen öffnen wolle. Der Flaschenhals brach ab und also teilten wir wieder. Ich erfuhr, dass Hägar wirklich Hägar hieß. Wegen Hägar dem Schrecklichen, so einem Comic-Wikinger. Naja, wenigstens seine Eltern hätten bei der Namensgebung Spaß gehabt. Das erzählst du nicht zum ersten Mal, oder? Nö.
Hägar wusste alles über den Hafen. Welche Güter sie hier früher verschifften: Kupfer vor allem, aber auch Porphyr, ein rötliches Gestein. Und welche Schiffe hier vorbeigekommen waren: Vierzig- bis Hunderttonner. Aber die Kanalschifffahrt lohnte sich heutzutage nicht mehr, kein Kupfer außerdem und Porphyr auch auf dem Landweg. Aber eigentlich interessieren mich andere Schiffe. Eines Tages wolle er mit einem Boot nach Helgoland, von dort ins Nordmeer, zur Karasee, zu den Tschuktschen und durch die Beringstraße, aber alles, was ich bisher habe, sind ein paar alte Reise- und Schifffahrtsbücher. Bei der Post, sieben Stunden. Briefträger.
Jeden Juniabend verbrachten wir mit den Beinen im Wasser. Ich erzählte Hägar von einem medizinischen Doktoranden, dem ich bei seinen Experimenten half. Er heißt Martin. Und weiter? Viele sagen, er hat gute Einstiegschancen. Er ist recht beliebt. Magst du ihn auch? Ich bin mir nicht sicher, aber ich denke, ja. Hägar nickte, eigentlich hob er nur die Nasenspitze. Der fällt mir ein, weil der ein Boot hat. Ein eigenes? Ja, der ist auch Bastler. Und wo hat der das? Bei seinen Eltern in Brandenburg. Achso, also Havel. Keine Ahnung, ich weiß nur, dass er eben ein Boot hat. Okay, sagte Hägar. Soll ich ihn mal fragen, wollte ich Hägar fragen, aber dann fragte ich lieber doch nicht. Es war auch so, dass Martin gerne mal was kochen wollte, aber gehörte diese Information wirklich an einen stillgelegten Hafen? Die Kanalluft hatte immer etwas Modriges, ich nahm einen Schluck Limo und der Geschmack von Zitrusfrüchten mischte sich dazu.
Es interessierte mich. Hägar wurde rot, auch wenn sein Gesicht wie aus Eisen war. Nein, ich hab noch nie. Noch nicht mal einen Kuss. Weil ich nichts sagte, planschte er mit den Füßen. Ganz schön peinlich, hm, sagte er mit verstellter Stimme. Mit dreiundzwanzig Jungfrau und bei der Post. Finde ich gar nicht peinlich, sagte ich. Ich aber schon.
Bislang hatte ich nicht darüber nachgedacht, ob ich Hägar attraktiv fände, wahrscheinlich eher nicht, doch jetzt, da er mir das Geheimnis, wenn das eines war, verraten hatte, musste ich mir auf seltsame Weise vorstellen, wie das wäre, Hägar dabei zu helfen, seine Jungfräulichkeit loszuwerden, und es hatte mehr was mit dem Gedanken im Allgemeinen zu tun, aber ich spürte auch, dass ich feucht wurde. Und du? Ein Typ im Labor der jetzt nicht mehr da ist. Martin? Nein, jemand anderes. Das war dein erstes Mal? Ja. Also bist du auch eine Spätzünderin. Sieht so aus. Er hat mich nicht mehr angeguckt danach. Dieser Typ? Ja, ich glaube, er war ein Arschloch. Wahrscheinlich, sagte Hägar, steckte den Finger in seine Flasche und floppte.
Seltener traf ich meinen Vater zum Eis oder Abendessen. Das hieß höchstens alle drei Wochen. Im Museum im Sommer. Zumindest sei es dort schön kühl. Morgens kaufe er sich immer eine Zeitung beim Kioskfritzen und ein belegtes Brötchen mit Salami. Da gehe der Tag schnell vorbei. Habe ja auch nur sechzehn Stunden etwa. Mit Freunden gerade nicht so viel los und bei dir? Hägar? Martin? Ein Boot, Doktorand, also wenn du mich fragst. Jaja, ich weiß, sexistisch. Ich bin halt ein Alter. Gut, reden wir über was anderes. Du willst schon gehen? Soll ich dir noch ein Brötchen schmieren? Du kommst zurecht. Gut. Dann will ich dich auch nicht länger aufhalten. Wann sehen wir uns? Ja, sehen wir dann. Du hast zu tun. Aber meld dich gerne.
Der Juli wurde ein heißer und trockener. Kein Staubkorn lag auf der Silbergelatine, auf der ich in diesem Sommer Tag um Tag abgelichtet wurde. Zu leben hatte endlich etwas von einem Spiel nach eigenen Regeln. Manchmal ging ich in den Wald, manchmal zu Hägar, immer ließ ich mir für Martins Einladungen Ausreden einfallen und nie kam mir ein Tag zu lang oder zu kurz vor. Wenn ich auf dem Weg zum Hafen in den bauschigen Wolken Tiere sah, sagte ich mir, dass es an der Zeit sei, großspurige Wünsche zu äußern. Betrunken und in der Nacht hatte mein Vater angerufen und gefragt, ob ich nicht wieder bei ihm einziehen wolle. Ich ahnte, wie bitter das schmecken musste, jemandem ein Leben ohne Mängel ermöglicht zu haben und am Ende nichts als eine mehr oder weniger verblümte Abfuhr nach der anderen zu erhalten und mit nicht viel mehr dazustehen als seinem Alter, der Einsamkeit und gelegentlichen Gesprächen mit anderen und manchmal auch mit der Tochter. Es war noch zu früh, angesichts solcher scheinbaren Lebensweisheiten zu weinen. Es war einfach noch nicht spürbar. Im Grunde also blieb mir kaum etwas anderes übrig, als diesen Sommer in vollen Zügen zu genießen.
Jeden Tag sah ich Martin, Hägar jeden zweiten und meinen Vater alle drei Monate etwa, das waren vier Treffen und dann war es wieder Juni und ich ein Jahr älter und Martin angestellt und Hägar immer noch bei der Post und meine Zellen immer noch aus der Mäuseleber und eigentlich kam es mir vor, als wäre dieses Jahr nie vergangen, ganz im Gegenteil, als hätten sich die Uhren nur um etwa einen Monat zurückgedreht. Scheinbar hatte es diese Zeit gebraucht. Wir tranken keine Limo mehr, sondern Bier. Hägar und ich. Neuerdings schmiedeten wir Pläne und Wünsche: Von tuckernden Booten vor Helgoland und selbstgebauten Hütten im Wald bei den Tieren und vom Ende der Post und der Mäuseleberforschung. Das war dort, mit den Beinen im Wasser bis zu den Knien.
Ich laufe zum Ufer, ziehe meine Schuhe und Strumpfhose aus. Bestimmt sind meine Beine nicht mehr so schön wie früher. Ins Wasser tauche ich sie und Myriarden im Entstehen befindlicher Fältchen und Besenreiser ziehen sich vor der Kälte zurück. Die Kronkorkenzähne greifen ins Eisen und ich schlage meine flache Hand darauf, trinke den Schaum ab und genehmige mir einen Schluck. Hier fing das an und wer weiß. Ich streiche mir über die Rippen, lege die Hände ab, schließe die Augen, rieche. Den Kanal, die Hafenblumen, den Sommerstaub, der auf allem liegt und die Zeit begraben hat vor etwa neun Jahren.