Mitglied
- Beitritt
- 10.09.2016
- Beiträge
- 888
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 36
Am Achensee
Mein Thema heißt Reue. Darin ballt sich das Dilemma schön. Ich weiß, der Begriff hat eine gewisse Breite, aber ich denke, das Thema könnte die Leute interessieren. Man sieht es aus der Perspektive der Betroffenen. Immerhin leiden Menschen wie Sebb darunter. Ganz egal wie oft man ihnen erklärt, dass es Unsinn ist, sie geben sich die Schuld. Ob ich so etwas selbst einmal empfunden habe – ich weiß nicht. Trotzdem glaube ich, dass ich die Richtige dafür bin. Das klingt schon irre. Aber irgendwer muss diesen Menschen ja zuhören. Ich finde, Sebb sollte aufhören, die Sache am Achensee zu bereuen. Es war eben ein Unfall. So etwas passiert.
Es gibt zwei Dinge, die Sie sich über mich merken sollen. Ich möchte, dass Sie einen Eindruck von mir bekommen; denn das ist nie verkehrt. Ganz einfach: Seit ich vierzehn bin, liebe ich Orangenshampoos, das sind Shampoos mit Orangenduft, manchmal Bergamotte. Okay. Das zweite ist ein Lippenpiercing; linke Seite, untere Lippe; wegen Tom Kaulitz damals. Aber egal. Diese zwei Dinge bescheren mir noch heute wohlige Erinnerungen an die Zeit vor etwa zehn Jahren; etwas, das Sebb unmöglich haben kann.
Wie das so ist mit alten Erinnerungen. Man hat sie und pflegt man sie nicht, werden sie fadenscheinig. Sie zerbrausen wie eine Aspirintablette in einem Glas Wasser – auch das soll schon manche Kopfschmerzen gelöst haben. Nicht aber meine. Seit sechs Jahren haben Sebb und ich nicht mehr miteinander gesprochen; es war auch schwierig zuletzt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er noch zu irgendwem Kontakt suchte. Als mir neulich die Idee mit der Reue kam, habe ich ihn angerufen. Vielleicht ist mir die Idee auch nur gekommen, weil ich gern mal wieder mit ihm sprechen wollte. Seine Stimme am Telefon klang schmaler als früher, aber auch versöhnlich.
Der Wohnblock hat zehn Stockwerke und eine violette Eingangstür. Nachdem ich Rusiok auf dem Klingelbrett gefunden habe, drücke ich zwei Mal lang. Es dauert einen Moment, dann öffnet sich die Verriegelung mit einem Bzzz. Ein Geruch wie im Bällebad beim McDonalds; ich mag es. Im zweiten Stock steht er. Sein Haar ist dünn, seitlich oberhalb der Stirn an den Schläfen zeichnen sich hohe Knöchel wie Hörner ab, er lächelt breit und schmallippig.
Mein Befinden und Getränkewunsch. Gut und Leitungswasser, sage ich und schaue mich im Flur um. Ein Paar nicht mehr weiße Turnschuhe, eine zusammengeknüllte Jacke auf dem Fußboden. Ich werfe meine dazu, um ihm zu zeigen, dass ich mich wohlfühle. Er soll Vertrauen fassen, Pacing nennen wir das. Ich imitiere Sebbs Verhalten und der hat das Gefühl, dass ich ebenso wüst lebe wie er.
Sebb lässt mich in die Küche, zieht die Tür hinter sich zu, das Einlegeglas klirrt. Er zapft ein Glas Leitungswasser, reicht es mir. Immerhin Einbauküche, denke ich – nicht neu, das riecht man – aber immerhin. Einen Tisch gibt es auch und einen Baststuhl, auf den Sebb mich mit einem Kopfnicken komplimentiert. Die Arme verschränkt, an die Anrichte gelehnt schaut er mich an.
»Und, warst du nochmal in Audorf?«, frage ich und stelle das Glas vor mich hin.
Sebb schüttelt den Kopf.
»Bin neulich wieder zum Knoller«, sage ich. »Immer noch genauso nett wie früher.«
Sebb lächelt, aber ich weiß nicht, ob er es witzig findet.
»Meine Eltern wohnen wieder in Audorf. Die ham den Biergürtel dichtgemacht. Tja, die Zeiten sind wohl vorbei. Iss’ eben so kommert, nech?«
»Schon gut, Nina«, sagt Sebb. »Du bist doch wegen was anderem hier.«
»Ja«, sage ich.
Sebbs Beine sind angewinkelt, als hätte er einen Klumpfuß.
Aus meinem Rucksack ziehe ich ein frisches Blatt Papier und einen Kuli mit dem Uni-Logo.
»Mein Thema heißt Reue«, sage ich und schreibe es oben aufs Blatt.
Ich habe angekündigt, dass ich mit ihm über früher reden will, über den Achensee und über Onkel Achim und Tante Susanna. Das waren die Zieheltern, über die leiblichen spricht man besser nicht. Nur Tonja, die Tochter von Achim und Susanna, habe ich nicht extra erwähnt. Ich dachte, das wäre schon klar.
»Was bereust du denn?«, fragt er und schmunzelt.
»Nichts«, sage ich. »Es geht ja um dich.«
Ich sehe Sebb zu, wie er sich eine rote Gauloises ansteckt mit dem Klippfeuerzeug und erinnere mich an unsere erste Zigarette hinterm Achensee. Daran wie er meinte, dass er den Schmerz beim Einatmen mag. Das habe ich nie verstanden. Ich habe gehustet und ihm die Zigarette zurückgegeben.
»Für eine Facharbeit«, sagt er.
»Ein Essay.«
»Also Uni.«
Ich nicke und schüttel den Kopf. »Für eine Studentenzeitung. Aber keine Angst, du bist da nur eine Zahl in der Tabelle.«
Sebb lacht, als hätte ich etwas Witziges gesagt.
Die Arme verschränkt erzählt er, dass er seit seinem Umzug aus Audorf ein Leben aus dem Karton führe. Ich nicke konzentriert. Das wird einmal mein Job: konzentriertes, aufmerksames Nicken. Darin bin ich gut. Meistens wiederhole ich ein Satzfragment, als sei es eine Frage.
»Der Schmerz beim Einatmen«, sagt er.
»Beim Einatmen?«, frage ich.
»Achim hat es gehasst. Er meinte immer, Schwimmer dürften nicht rauchen. Naja, den Ehrgeiz hat er auch verloren. Eigentlich hab ich immer gemacht, was er gesagt hat. Er war ja so was wie mein Vater. Dachte ich zumindest …«
»Dachtest du?«, frage ich.
»Ja, ganz anders als Susanna. Die hat mich gehasst, immer nur geguckt, wie viel ich esse. Aber Achim war wie ein richtiger Vater.«
Ein richtiger Vater, schreibe ich aufs Blatt. Dann schreibe ich Reue wegen Tonja Fragezeichen und einen Doppelpunkt.
Es ist wichtig, dass man das Gespräch lenkt; aber erzwingen kann man nichts. Manchmal hilft es, eine Melodie zu summen, die dem Klienten bekannt ist und ihn an das Schlüsselereignis denken lässt. Am Ende soll Sebb das Gefühl haben, er wäre ganz von selbst darauf gekommen. Ich weiß, dass er das Lied Somewhere Road auf dem Handy hatte und es mir ständig vorsang, danach aber nie wieder. Während er von Achim spricht und wie sie am Achensee nach Steinen tauchten, summe ich den Refrain, ganz leise zwischen den Tönen. Man kann sagen, ich gebe die Melodie vor und er singt dazu.
»Zum Glück hat Susanna so viel gearbeitet, das hat mich gerettet. Halt bis Tonja kam …«
»Wieso?«, frage ich.
»Weil wir dann nicht mehr zum Achensee gefahren sind. Erst später wieder.«
Er klopft eine Zigarette aus der Packung, steckt sie mit dem Klippfeuerzeug an.
»Mochtest du sie eigentlich?«
»Klar, warum nicht? Sie war halt noch kein richtiger Mensch.«
»Wie meinst du das?«, frage ich.
»Naja, du weißt schon. Sie hat noch nicht richtig gesprochen und so.«
»Aber deswegen ist sie doch trotzdem ein Mensch«, sage ich.
»Ja.« Er bläst einen Kegel Qualm in meine Richtung. »Stimmt schon.«
Meine Eltern sahen es nie gern, dass wir uns am Achensee trafen, der alten Audorfer Grenze. Jeder kannte Sebbs Familie. Der ganze Dreck und ständig die Polizei im Drosselweg. Nach dem Skandal, über den man besser nicht spricht, blieb ihm nur noch der Onkel. Ich schätze, außer Achim und mir hatte Sebb niemanden mehr.
»Was würdest du machen, wenn ich dir ein Geheimnis verrate?«, fragt er.
»Kommt darauf an. Interessieren würde es mich.«
»Aber du kannst es nicht in der Zeitung bringen.« Er lacht, die Stirnhörner wippen. »Du weißt genau, wie es passiert ist, oder?«
»Du hast es mir erzählt.«
»Ja, und du hast wie immer nicht zugehört«, sagt er barsch.
»Ich … warum?«
»Weil ich dir erzählt habe, dass Tonja nicht ertrunken ist, sondern ich ihren Kopf so lange unter Wasser gedrückt habe, bis keine Bläschen mehr übrig waren.«
»So ein Unsinn …«, sage ich. Ich sehe Sebb, der an der Anrichte lehnt und weiß nicht, ob er das gerade wirklich … Er steht da, lächelt kurz und schmallippig. Da sind nur Lippen, Lippen die Wörter formen: Am Achensee.
Alles, was ich geglaubt habe. Das hat er ja erzählt, aber ich habe nichts davon geglaubt. Die Ohren haben etwas übersetzt. Das habe ich zehn Jahre geglaubt. Wenn da jemals ein Gespür war. Was weiß ich? Vielleicht ist das alles eine falsche Übersetzung oder ich habe alles falsch geglaubt.
»Du hast Tonja …«, sage ich. Die Handinnenflächen schwitzen, Fingerkuppen drücken dagegen.
»Die war ja noch nich mal ganz da«, sagt er und senkt die Stimme. »Ich hab ihr den Kopf unter Wasser gedrückt, ich hab sie ja nicht erstochen oder so was.« Er hüstelt, klopft sich etwas aus der Brust. »Iss’ eben so kommert, nech? Sagst du auch immer.«
Ich beiß die Innenlippe, das Loch am Piercing. Sebb zieht sich eine Gauloises aus der Schachtel, klickt das Feuerzeug, gibt sich Feuer. Dann wirft er mir beides rüber, das Feuerzeug schlittert über den Tisch.
»Nimm«, sagt er.
»Vergiss es.«
»Ha! Siehst du?« Er hält mir die offene Hand mit der Zigarette hin. »Mischst dich gern ein, wenn ’s dir passt, spielst gern mal hilfreich – süße, unschuldige Nina. Aber nur solang 's dir nich zu ungemütlich ist.«
»Ich dachte echt …«, sage ich, bemerke ein Kratzen zwischen den Worten, eine aufgeschürfte Stelle im Hals.
»Du hast mich ignoriert, als ich in Audorf krepiert bin. Glaubst du echt, du hättest mir geholfen? Du hast uns alle in Brand gesteckt, Nina, und als es passiert ist, bist du einfach abgehauen. Die nimmt dir Achim weg, hast du gesagt, Nina. Weißt du das noch? Und dann verrat mir mal, wie stehst du dazu? Bereust du das alles nicht auch ein bisschen?«
Ich stehe auf, packe meinen Rucksack. Sebb bläst eine Wolke aus Qualm, der knorrige Schädel taucht erst allmählich wieder auf.
»Komm schon«, sagt er. »So wenig Rückgrat hast du doch gar nicht.«
»Du brauchst nicht glauben, dass du mich einschüchterst oder so. Du bist nur ein armer Teufel, Sebb.«
»Ach, wie geistreich.«
»Okay«, sage ich. »Es stimmt. Ich hab gesagt, dass dir Tonja Achim wegnimmt. Genau das wird auch passieren. Nur anders, als du denkst. Wirst schon sehen …«
»Lausige Entschuldigung«, sagt er und schnippt mit der Zigarette nach mir. »Hast du mich eigentlich nur angestiftet, um jetzt diesen Text darüber zu schreiben? Wer soll diesen Quatsch eigentlich lesen, wen interessiert das?«
Ich bin schon halb aus der Küchentür.
»Ich hab dich nicht angestiftet. Ich hab dir nur gesagt, was du hören wolltest.«
»Ciao«, sagt er und winkt mit der Zigarettenhand. Er bleibt dort stehen, wo er die ganze Zeit über stand. Hier ist er eingesperrt; dass er mich kommen und gehen lässt, wie ich will, zeigt nur, dass er mir nichts entgegenzusetzen hat.
»Achim wird es erfahren und dann gibt es wieder was in Audorf, über das man besser nicht spricht.«
Die Küchentür mit dem Einlegeglas klirrt, als ich sie hinter mir zuschlage.
Als erstes werde ich mir ein neues Shampoo kaufen. Audorf kenne ich nicht mehr; es hat sich ohnehin immer wie eine Erfindung angehört. Nichts davon wird zurückbleiben; dann bin auch ich wie neu. Die Reue ist ein scheues Tier. Aber wenn es erst einmal Vertrauen gefasst hat, dann weicht es einem nicht mehr von der Seite.