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Am Abgrund
Die Zeiger der H3 Tactical standen auf 1:30 und Kommissar Torge Jahnsen blickte auf seine Tochter, die neben ihm auf dem Sofa schlief. Sie hatte ein blasses Gesicht mit zarten Zügen und Sommersprossen, das anders als bei ihm noch nicht von den Grauen der Welt gezeichnet war. Solange er lebte, würde er sie beschützen, niemand durfte ihr jemals wehtun.
Er flüsterte ihren Namen. Als sie nicht reagierte, hob Torge sie sanft hoch, trug sie in seinen Armen in ihr Bett, mummelte sie in die Decke ein und strich ihr über die langen, roten Haare. Dabei zitterte seine Hand ruckartig. Unkontrollierbar. Malin schlug die Augen auf, sie waren dunkelblau mit schwarzem Rand. Sie brauchte einen Augenblick, um wach zu werden. „Papa.“
Sein Oberkörper versteifte sich und erbebte. Was war er nur für ein selbstsüchtiger Idiot? Irgendwann würde er dieses verdammte Risperidon absetzen und wieder normal werden. So wie andere Väter. Das war er ihr schuldig.
„Ich hab von Paddington geträumt”, sagte sie.
Er nickte stumm, aber das Hornissennest in seinem Inneren tobte weiter, umschwärmt vom brummenden Dröhnen der Panzerhaubitzen, die den Boden unter seinen Füßen vibrieren ließen, von explodierenden Transportfahrzeugen, die durch eine DM-31 in die Luft gesprengt wurden, von den Gesichtern seiner Kameraden, die Malin niemals kennenlernen würde.
Sie legte ihre kleine Hand auf seine, es wirkte wie eine Rose auf einem Schaufelblatt, und sagte: „Er hat uns Orangenmarmelade geschenkt und du warst auch da. Wir haben zusammen gefrühstückt.”
„Paddington”, wiederholte er leise und strich sich durch den Bart.
„Er hatte seinen roten Hut auf und die blaue Jacke an”, sagte Malin. „Er meinte, dass er dich lieb hat.”
„Ich hab ihn auch lieb, hörst du?”
„Ich weiß.” Sie rutschte zur Seite und klopfte auf das Laken.
Torge setzte sich, sie schmiegte ihren Kopf an seinen fülligen Bauch und bald schon hörte er ihre regelmäßigen, rhythmischen Atemzüge. Er lehnte sich zurück. Was gab es wohl Wundervolleres als mit Malin und Paddington gemeinsam Orangenmarmelade zu essen? Für einen kurzen Augenblick verstummten die Hornissen.
Als Torge aufwachte, lag Malin schlafend neben ihm und die Strahlen der rötlichen Morgensonne, welche ihn an verlaufendes Kupfer erinnerten, beleuchteten das Zimmer. Sein Blick wanderte zu den Tuben, Näpfen, Schwämmen und Sprühflaschen auf der Abdeckplane, die er für Malin verlegt hatte, und er sah eine weitere Palette mit Regenbogenfarben und einen Wasserbehälter, in dem noch ein Pinsel steckte. Auf der Leinwand winkte ihm Paddington in seinem Dufflecoat mit Hut zu und saß mit herabbaumelnden Pfoten in einem halbfertigen Baumhaus. Langsam hievte Torge sich hoch. Noch im Halbdunkel stand ein Bücherregal, das bis auf die zweite Reihe befüllt war. Er fragte sich immer wieder, weshalb Malin die Bücher weder nach Autor, Größe noch Farbe sortierte. Wäre es sein Zimmer, hätte er sie schon lange fein säuberlich geordnet, aber das war es nicht und solange sie sich wohlfühlte, war Torge damit einverstanden. Er ging an Malins liebster Makonde-Skulptur vorbei, die er ihr zum zwölften Geburtstag geschnitzt hatte, schlurfte in den Flur und schaute auf seine Uhr. Es war noch nicht spät genug, um Frühstück zu machen, und er wollte Malin am Samstag lieber schlafen lassen. Was also tun? Ein Gedanke drängte sich ihm auf: Was, wenn er Malin eines Tages verlieren würde?
Torge hörte das ferne Summen von Hornissen. Er eilte überstürzt in den Keller, bückte sich unter dem Türrahmen und drückte auf den Schalter der Neonlampe: An der Wand hingen eine Handsäge, Meißel, Holzraspel, Hammer und verschiedene Schnitzmesser, es roch nach dem scharfen, würzigen Geruch von Mahagoni und in der Ecke stand ein Waffenschrank. Er schloss ihn hastig auf, holte seine P8 hervor, legte sie auf die Werkbank, strich über das Metall und ging sein Ritual durch: Er atmete die angehaltene Luft aus und seufzte. Dann überprüfte er routinemäßig, ob der Hebel der manuellen Sicherung auf S stand, entfernte das Magazin, versicherte sich, dass keine Patrone in der Kammer war, drückte den Schlittenfanghebel herunter, zog den Schlitten zurück und schob ihn nach oben, drehte den Lauf gegen den Uhrzeigersinn und löste die Schrauben am Griff. Daraufhin griff Torge nach einer Bürste, seinem FOR Gun C4G, säuberte die Einzelteile systematisch, trocknete sie ab und setzte die Pistole wieder zusammen. Torge atmete tief und regelmäßig. Vorbereitung war das halbe Leben.
„Riecht gut”, sagte Malin, als sie in die Küche kam. Torge lächelte und sagte: “Ich hab den Tisch draußen gedeckt. Bei dem Wetter.”
Malin brachte die Schüssel mit den Rühreiern auf die Terrasse. Es lag ein Geruch nach frisch gemähtem Gras in der Luft. Sie setzten sich. Torge trug ein schwarzes Under Armour T-Shirt passend zu seiner Uhr und eine beigefarbene Kappe, während Malin ein buntes Kleid mit Rosenmustern anhatte. Das Besteck klirrte leise, als sie das Rührei und Toasts mit Marmelade aßen.
Aus den Augenwinkeln meinte Torge einen Schatten an der Garagentür zu sehen. War es so weit? Hatten sie ihn gefunden? Nein, das konnte nicht sein.
„Papa, ich will Bären sehen”, sagte Malin.
Torge wägte das Risiko ab, dachte an seinen Waffenschrank und sah sie an. „Wenn du dir das wünschst.”
Um Punkt 12 Uhr saßen sie im Auto in Richtung Zoo. Bis zur Kreuzung St.-Marien-Straße sah Torge einen schwarzen Golf im Rückspiegel, der ihnen nach fuhr. Torge hielt die Luft an, doch der VW bog in Richtung Kindergarten ab.
Die königsblaue Farbe des Himmels kontrastierte mit dem weiß gestrichenen Eingang. Die Sonnenstrahlen wärmten die Haut. Sie kauften ein Ticket und schauten auf die Karte, die mit unterschiedlichen Zahlen und Tierbildern bedruckt war. „Nummer 17”, sagte Malin und ging vor. Sie kamen an Luchsen, Löwen, Giraffen, Schildkröten, Schlangen, Pavianen und Zebras vorbei, an Imbissständen, aus denen es nach gebratenem Schweinefleisch mit Kümmel und Knoblauch roch, an lachenden Kindern, die mit ihren Eltern unterwegs waren. Als sie in Richtung des Braunbärgeheges schlenderten, kam ihnen eine Touristengruppe mit Kameras entgegen, die sich zwischen den beiden hindurch drängte. Für einen kurzen Moment verlor Torge Malin aus den Augen. Wo war sie? Sein Herz raste.
„Guck mal, die Pinguine”, sagte sie und Erleichterung durchflutete ihn.
„Sie passen aufeinander auf”, sagte er und griff nach ihrer Hand.
Malin lächelte und nickte.
Schließlich erstreckte sich vor ihnen das Braunbärgehege: Torge sah Felsbrocken an dessen Seite ein Teich angelegt war, verschiedene Sträucher und Bäume, eine Höhle als Rückzugsort, Spielsachen und neongrüne Bälle, die der Szenerie etwas Künstliches gaben. Torge schätzte die Größe auf etwa einen Hektar.
„Papa”, sagte Malin und deutete auf eine Bärin mit drei Jungen. „Das sind Paddingtons Geschwister.”
Torge drückte ihre Hand.
Während Malin auf Toilette ging, kaufte Torge ein Plüschtier im Souvenirladen, wobei er den Eingang im Blick behielt, und sie fuhren nach Hause. Später saß Torge in seinem Kellerraum und nähte einen GPS Sender in den Plüschbären. Er ging in Malins Zimmer, die das Baumhaus auf ihrer Leinwand vollendete und überreichte ihr das Geschenk.
„Solange du diesen Bären bei dir hast, wird dir nie etwas passieren, hörst du?“
Malin schaute ihn lange an. „Ist Paddington in Gefahr?“
„Nicht, solange ich da bin.“
Sie umarmte ihn.
Es klingelte an der Tür. Torge schaute durch den Späher und sah einen Mann in Anzug. Was hatte er an einem Samstag hier verloren?
Torge öffnete. Der Mann trug einen nachtblauen Dreiteiler.
„Sie sind Torge Jahnsen?“
„Korrekt.“
„Ich bin ihr neuer Nachbar und wollte kurz mitteilen, dass mir gestern die Reifen durchstochen worden sind.“
Hinter sich hörte Torge ein leises Klirren.
Der Mann tippte auf den Türrahmen. “Ist Ihnen etwas aufgefallen als meinem Freund und Helfer?”
Torge konnte sich nicht an einen neuen Nachbarn erinnern. Er hörte den Anflug einer Hornisse. „Nein, ich hab meine Tochter zu Bett gebracht und wir sind schlafen gegangen.“
„In Ordnung”, sagte der Mann. “Passen Sie auf ihre Reifen auf.“
„Ich passe auf“, presste er hervor und schloss die Tür.
Er rannte zurück ins Kinderzimmer. Die Makonde-Skulptur lag umgestoßen auf dem Boden. Die Wasserfarbe war umgekippt und verlief auf dem Boden. Ein Pinselstrich durchkreuzte Paddingtons Gesicht.
Torge fühlte sich paralysiert. Malin war verschwunden. Die Hornissen holten aus und stachen ihn, zerkratzten ihm das Gesicht und ein Schleier legte sich vor seine Augen. Er ging in seinen Keller, griff nach einem Hammer und zerschlug angefangene Skulpturen, zertrümmerte sie. Holz splitterte, es krachte und Torge schrie so laut er konnte. Er hieb gegen all die Hornissen, die um ihn herum flogen, wieder und wieder. Tränen liefen ihm die Wangen hinab und er brüllte. Nicht Malin, nicht Malin. Kinder waren Tabu, aber er hatte es doch immer gewusst, dass seine Ermittlungen gefährlich waren.
Das Telefon klingelte. Torge griff danach. Eine verzerrte Computerstimme, die hohl und künstlich klang wie ein Echo aus einer leeren Metallkiste, sagte: „Stoppe die Ermittlungen. Wir haben deine Tochter.”
Torge dachte an verbrennendes Plastik, dessen süßlich stechender Gummigeruch er mit dem Tod von Kameraden assoziierte. „Lebt Malin? Bitte lasst mich ihre Stimme hören.”
Es folgte ein leises Rascheln in der Leitung. „Papa?”
„Malin! Malin, geht es dir gut? Ich komme dich holen, hab keine Angst.”
Es knirschte, dann sagte die Metallstimme: “Wir wollen den Stick. Wenn du was versuchst, ist sie tot. Treffpunkt 23 Uhr, Industriegebiet Falkenburgsort an der alten Werkhalle, Rodondenweg 12.”
Das Gespräch war beendet. Torge sank zurück auf seine Knie. Was sollte er tun? Malin war das Wichtigste auf der Welt. Er überschritt den Punkt, an dem es kein Zurück gab. Ruhe legte sich über seinen Geist. Malin. Malin. Malin.
Torge öffnete seinen Laptop und ortete das GPS-Signal des Bären. Es bewegte sich, sie musste in einem Auto sein. Was sollte er tun? Er erinnerte sich an seine Lektionen. Durchatmen, alle vorhandenen Informationen sammeln und sich vorbereiten. Überstürztes Handeln würde Malin nicht zurückbringen, er brauchte einen Plan und dafür benötigte er die richtigen Informationen. Und Unterstützung.
Torge holte sein abhörsicheres Mobiltelefon hervor und rief die Notfallnummer seines Chefs an. Er meldete sich sofort. “Was ist passiert?”
„Sie haben Malin. Sie wollen den Stand der Ermittlungen”, sagte Torge.
„Du weißt, was das bedeuten würde.”
„Malin ist in Gefahr”, sagte Torge.
„Wie viel Zeit bleibt dir für die Übergabe?”
„Vier Stunden, aber ich habe einen GPS-Tracker eingebaut.”
„Wo ist sie?”, fragte sein Chef.
„Warte kurz.”
Torge sah, dass sich der Sender nicht mehr bewegte und nannte die Adresse.
„Wir checken die Adresse, ich alarmiere das SEK."
„Aber vielleicht ist es eine Falle.”
„Sie rechnen nicht mit uns. Du bekommst Malin zurück, vertrau mir.”
Torge öffnete seine Tablettenbox. Bitte, Paddington, mach, dass du bei ihr bleibst.
Torge bremste seinen Wagen ab und hielt an. Der SEK Einsatzleiter, in voller Schutzausrüstung, erwartete ihn und Torge folgte ihm durch die Evakuationszone, lauschte seiner tiefen Stimme. „Das Gebäude ist umstellt. Keine Bewegung zu verzeichnen. Zugriff erfolgt gleich.”
Torges Stimme versagte.
„Die Informationslage erlaubt eine gewisse Wahrscheinlichkeit.”
Torge nickte. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Das war alles, worauf er hoffen konnte.
Der Regen prasselte auf den Rasen, erzeugte einen Klang wie brechende Zweige, als er das Fachwerkhaus aus sicherer Entfernung betrachtete. Es wirkte baufällig und der Garten davor verwahrlost: Löwenzahn, Disteln und Giersch wucherten zwischen den Pflastersteinen der Auffahrt, mehrere Plastiksäcke standen aneinandergereiht an der Hecke und es lag ein modriger, leicht süßlicher Geruch nach verrottendem Laub in der Luft.
„Bleiben Sie hier.”
Er blickte dem Einsatzleiter nach, der das Kommando gab: „Zugriff, Zugriff, Zugriff!”
Der Warnruf des SEK-Einsatzkommandos ertönte und Torge beobachtete, wie sie das Haus stürmten. Die Tür brach mit einem lauten Knall auf. Schreie. Dann das wiederholte, dumpfe Knallen eines G36 Sturmgewehrs. Torge versuchte seine Atmung zu kontrollieren, aber das Hornissennest in seinem Inneren brannte: Malin. Malin. Malin.
Die Stimme des Einsatzleiters dröhnte aus seinem Funkgerät: „Sie lebt, Verdächtige eliminiert. Zutritt sicher."
Torge rannte los. Zwischen leeren Bierflaschen und abgenutzten Möbelstücken knieten zwei Beamte neben Malin, die reglos mit bleichem Gesicht auf dem Boden lag. „Malin! Malin!” Sie schlug die Augen auf. „Papa.” Sie hatte ihren Teddy an sich gekrallt. Paddington.