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Alva
Die nasse Wäsche wog schwer in Maireads Händen. Ihre Finger, knotig und kalt, krallten sich in das Geflecht des Korbes. Rauch lag in der Luft, sie beeilt sich ins Dorf zurückzukommen. Die letzte Anhöhe hinauf fiel ihr das Atmen schwer, der Rauch kratzte in ihrer Kehle. Jeder Schritt schien ihr Lebenszeit zu rauben, wovon ohnehin nicht mehr viel übrig war. Das Unbehagen in Mairead wandelte sich zunehmend zu Furcht.
Am Kamm des Hügels sank sie auf die Knie. Zwischen den qualmenden Hütten lagen etliche Menschen auf der Erde. Tage zuvor hatten Fremde auf der Durchreise davon berichtert. Unfähig sich zu bewegen starrte sie auf das gebrandschatzte Dorf.
„Hab keine Angst!“, erklang eine Stimme und Mairead fuhr herum. Ein Mann stand vor ihr, der aussah als könnte er Wagenräder jonglieren. Er stützte eine Frau; in dem braunen Haar vor ihrem Gesicht glänzte Blut. Sie atmete stoßweise, schien mehr im Delirium als bei Bewusstsein zu sein. Beschwichtigend hob er die Hand, die Finger rot verschmiert.
„Wir brauchen Hilfe!“
Als er Maireads Blick bemerkte, ließ er den Arm rasch fallen.
Mairead kam auf die Beine, in der Rechten einen kantigen Stein. Der Mann griff langsam an seinen Umhang, schob ihn beiseite. Um den Leib gebunden trug er ein Bündel, oben lugte das Köpfchen eines Kindes hervor.
„Ich würde nicht bitten“, sagte er und schluckte, „wenn ich die Wahl hätte.“
Mairead hielt den Stein umklammert, musterte den Mann, wog seine Worte.
Die Frau konnte sich kaum mehr aufrecht halten, wimmerte, fiel gegen ihn. Der Fremde stolperte zur Seite, konnte das rechtes Bein nicht voll belasten. Trotz seiner enormen Größe wirkte er verletzlich.
Mairead suchte seinen Blick und fand keine Arglist darin. Er schloss den Umhang wieder um das Kind und es begann zu weinen.
Mairead ließ den Stein fallen und ging zu ihnen. Sie griff nach dem Arm der Frau und half ihm, sie auf den Boden zu legen. Dabei kam sie ihm sehr nahe, flüsterte: „Lass mich das nicht bereuen!“
Er nickte, reichte ihr die Hand: „Finley. Ich heiße Finley und das hier ist Kate.“
Mairead nahm sie, spürte die raue, feuchte Haut. „Ich bin Mairead“, sagte sie und rieb dann mit dem Daumen über ihre Fingerkuppen.
„Ist sie deine Frau?“, fragte Mairead. „Ist es dein Kind?“ Sie besah sich Kates Kopfverletzung; die Wunde war tief, blutete noch immer stark. Vorsichtig strich sie ihr die besudelten Strähnen aus dem Gesicht. Mairead sog hörbar die Luft ein, schloss einen Atemzug lang die Augen.
„Ja“, antwortete er, „meine Frau und mein Junge.“ Er legte die Hand über das Kind, klopfte mechanisch auf den Stoff des Umhangs.
„Wir müssen das Blut aufhalten!“, sagte Mairead, nahm seine Hand vom Umhang und platzierte sie auf Kates Kopf. „Fest drauf drücken!“, wies sie ihn an und stand auf. „Ich hole Wasser und frische Tücher.“
Finley versuchte sich umzudrehen und verzog das Gesicht. Er griff sich ans Knie, sog zischend die Luft zwischen den aufeinandergebissenen Zähnen ein.
„Was ist mit deinem Bein?“, wollte Mairead wissen und ging weiter, bis sie hinter ihm stand.
„Nicht schlimm“, presste er hervor und versuchte das Knie zu strecken.
„Dein Junge“, fragte Mairead, „wie heißt er?“
Finley zögerte, ehe er antwortete. Dann öffnete er den Mund, drehte sich zu ihr, und ein Stein, den Mairead vom Boden aufgehoben hatte, traf ihn im Gesicht. Mairead schlug noch einmal zu. „Alva heißt das Mädchen!“, schrie sie und holte erneut aus. Dabei war der Fremde längst umgekippt und rührte sich nicht mehr.
Mairead atmete schwer, der Stein noch immer in der zitternden Hand. Nur allmählich drang das Wimmern des Kindes zu ihr vor.
Mit der Fußspitze stieß sie gegen den Kopf des Mannes. Er zeigte keine Reaktion. Sie kniete bei ihm nieder, zog mit der freien Hand den Umhang weg. Dabei ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen. Sein Gesicht war zerstört – Nase und das linke Auge kaum mehr da. Doch er atmete.
Mairead versuchte das Bündel mit dem Kind von ihm zu lösen, aber es gelang ihr nicht. Sie tastete sich zu seinem Gürtel vor und fand, worauf sie gehofft hatte. Mit dem Messer schnitt sie das Tuch auf und nahm das Kind an sich.
Mairead erkannte die Frau. Kannte ihre Familie aus dem Nachbardorf, wusste, dass Kate Alva vor kurzem zur Welt gebracht hatte. Rasch war ihr klar geworden, dass Kate nicht mehr zu helfen war.
Nun blickte sie auf das Kind, das sie im Arm hielt. Ein unbeschriebenes Blatt. Mairead sah ihre Hand, gezeichnet, voller Geschichten, schönen Erinnerungen aber auch Fehlern, die sie nicht mehr geraderücken konnte.
„Kleine Alva“, flüsterte Mairead und strich dem Mädchen über die Wange.
„Was soll nun aus uns beiden werden?“