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Also bin ich
Ich tauche aus meinem Traum auf. Ein Buch, das ich zu lesen versuchte; die Buchstaben verschwammen und flogen von den Seiten. Ich öffne die Augenlider. Das Schlafzimmer ist lichtdurchflutet. Seine Blumentapete ist weg. Vor einer riesigen Fensterfront steht mein Vater.
„Na, wirst du wach?“
Wie spät kann es sein? Ich fühle mich gerädert. Als hätte ich nicht geschlafen.
Er legt das Paket, das er in der Hand hatte, verstaut meine Brille und die Tablettenpackung in die Nachttischschublade, schiebt die Blumenvase sowie das Glas und die Wasserflasche zur Seite und stellt sein Päckchen auf das Tablett. Er lächelt, nimmt meine Hand; ich spüre seine Wärme. Ich kuschle mich in sie hinein. Diese väterliche Hand ist meine Zuflucht. Ich bin glücklich.
„Mama?“, sagt er.„Na, wirst du wach?“
Wie spät kann es sein? Ich fühle mich gerädert. Als hätte ich nicht geschlafen.
Er legt das Paket, das er in der Hand hatte, verstaut meine Brille und die Tablettenpackung in die Nachttischschublade, schiebt die Blumenvase sowie das Glas und die Wasserflasche zur Seite und stellt sein Päckchen auf das Tablett. Er lächelt, nimmt meine Hand; ich spüre seine Wärme. Ich kuschle mich in sie hinein. Diese väterliche Hand ist meine Zuflucht. Ich bin glücklich.
„ …?“
Meine Welt stürzt ein.
„Mama! … Geht's dir gut?“
„Alles ist in Ordnung.“
Nichts ist in Ordnung! Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängeln sich, wirbeln vor meinen Augen, bevor sie verblassen. Namen bleiben mir im Hals stecken.
Er schließt mich in seine Arme: „Alles Gute zum Geburtstag, Mama!“
Geburtstag – das Wort hallt in meinem Kopf wider. Unter meinem Schädel quellen die Schubladen über. Sie lassen ihren Inhalt heraus. Vergebens addiere und subtrahiere ich, es gelingt mir nicht, mein Alter zu berechnen. Bei der Übung aber bekomme ich den Vornamen meines Sohnes zurück: Paul! Mein Schatz!
Verschüttete Erinnerungen kommen hoch und zerplatzen wie Blasen in einem Schlammsee. Ich sehe ihn wieder auf der Entbindungsstation. Das hübscheste Baby, das ich je vor Augen hatte … Dumpfe Angst steigt auf, schwillt an; ich fürchte, dass diese tiefe Freude, die mich erfüllt, jede Sekunde entweichen könnte. Ich klammere mich daran fest.
Ich sitze im Bett. Er hält mich fest an sich gedrückt. Ich höre seine Atmung, sanft und ruhig. Er gibt mir sein Päckchen. Dieses ist mit einem Band umwickelt, dessen Knoten ich nicht entwirren kann. Ich tue so, als wollte ich die Entdeckung meines Geschenks hinauszögern. Ich taste es ab, wiege es, schüttle es … schließlich rutscht das goldene Band vom Paket herab. Es ist ein Fotoalbum. Ich schlage eine Seite auf. Auf dem Bild ist ein Kind mit langen Haaren in weißer Kommunionskutte zu sehen, das mit seinen großen, geheimnisvollen Augen in die Kamera schaut.
Ich versuche, mich auf irgendein Detail zu konzentrieren, irgendetwas … Nichts, woran ich mich auf dem leeren Gelände meiner Erinnerungen festhalten könnte. In meinem Gedächtnis verschwinden die Spuren der Vergangenheit wie die Pusteblumensamen, die im Frühling durch die Luft fliegen und jedes Mal die Richtung ändern, wenn man versucht, sie zu ergreifen. Ich fürchte, die kleinste Bewegung könnte diese Gärung meiner Gedanken verraten. Ich bleibe still, erstarrt.
„Erinnerst du dich an das Foto?“
„Natürlich, das bist du. Am Tag deiner Kommunion.“
„Aber nein, Mama, das ist Anna. Sie war heute Morgen bei dir und hat dir diese Rosen gebracht.“
Ich schließe meine Augen. Mein Herz rast wie wild. Ich versuche, an den Besuch dieser Anna zu denken, aber nichts kommt; meine Fantasie liefert nicht. Scham überflutet mich, ich stottere: „Ich erinnere mich nicht.“
Eine schlecht versteckte Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er küsst mich auf die Wange und schielt dabei unauffällig auf seine Uhr.
Die Tür zum Schlafzimmer öffnet sich. Ein Tablett wird auf einem Wagen gebracht. Paul nimmt es:
„Danke!“, sagt er. „Ich kümmere mich um sie.“
Dann dreht er sich zu mir um: „Ich helfe dir! … Die Suppe riecht gut …“
Ich habe keinen Hunger.
Er hebt die Glocke hoch und führt den Löffel an meine Lippen:
„Wie damals, als ich klein war: – für Anna, – für mich …“
Seine Stimme klingt angestrengt; er versucht zu sehr, der Szene einen natürlichen Anschein zu geben.
So gut es geht, schlinge ich die Suppe hinunter, und verschlucke mich wiederholt dabei. Sie schmeckt nach nichts. Die Hälfte der Brühe läuft mir über den Hals. Paul sieht mich hilflos an. Er stellt das Tablett zurück auf den Tisch und schaltet den Fernseher ein.
Ihre Sendungen interessieren mich nicht; zu langweilig!
Er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern blickt häufig auf sein Handgelenk. Es ist klar, dass er schon seit einiger Zeit darüber nachdenkt, was er mir gleich sagen wird.
„Ich muss gehen.“
Ich greife nach seinem Arm, um etwas von dieser so kostbaren und flüchtigen Zeit zu retten, die ich vielleicht nie mehr zurückbekomme. Er schiebt mich sanft zurück und küsst mich zum Abschied noch einmal.
Ich erschaudere, hänge am Knirschen seiner Sohlen auf dem Linoleum. Während er sich entfernt, zerstreuen sich die kleinen unsichtbaren Wellen, die uns verbunden haben. Meine Kehle schnürt sich zu. Mir wird bang und bänger. Ich höre, wie die Schwester in der Türöffnung mit halblauter Stimme zu ihm spricht: „Das muss Ihnen nicht peinlich sein. In einer Minute wird sie Ihren Besuch bereits vergessen haben.“
„Dennoch schien sie mir heute gut orientiert.“
Tränen trüben meine Sicht. Ich schließe die Augen.
„Sie hat so, sagen wir, kurze Lichtfenster“, lügt sie.
Panik macht sich in meinem Körper breit. Das Album fällt mit einem gedämpften Geräusch auf den Boden.
Ich fühle mich, als würde ich schweben.
Ich habe mich sozusagen verlaufen … Aber solange der Kopf mitmacht …
„Alles ist in Ordnung.“
Nichts ist in Ordnung! Gesichter kreisen hinter meiner Stirn, drängeln sich, wirbeln vor meinen Augen, bevor sie verblassen. Namen bleiben mir im Hals stecken.
Er schließt mich in seine Arme: „Alles Gute zum Geburtstag, Mama!“
Geburtstag – das Wort hallt in meinem Kopf wider. Unter meinem Schädel quellen die Schubladen über. Sie lassen ihren Inhalt heraus. Vergebens addiere und subtrahiere ich, es gelingt mir nicht, mein Alter zu berechnen. Bei der Übung aber bekomme ich den Vornamen meines Sohnes zurück: Paul! Mein Schatz!
Verschüttete Erinnerungen kommen hoch und zerplatzen wie Blasen in einem Schlammsee. Ich sehe ihn wieder auf der Entbindungsstation. Das hübscheste Baby, das ich je vor Augen hatte … Dumpfe Angst steigt auf, schwillt an; ich fürchte, dass diese tiefe Freude, die mich erfüllt, jede Sekunde entweichen könnte. Ich klammere mich daran fest.
Ich sitze im Bett. Er hält mich fest an sich gedrückt. Ich höre seine Atmung, sanft und ruhig. Er gibt mir sein Päckchen. Dieses ist mit einem Band umwickelt, dessen Knoten ich nicht entwirren kann. Ich tue so, als wollte ich die Entdeckung meines Geschenks hinauszögern. Ich taste es ab, wiege es, schüttle es … schließlich rutscht das goldene Band vom Paket herab. Es ist ein Fotoalbum. Ich schlage eine Seite auf. Auf dem Bild ist ein Kind mit langen Haaren in weißer Kommunionskutte zu sehen, das mit seinen großen, geheimnisvollen Augen in die Kamera schaut.
Ich versuche, mich auf irgendein Detail zu konzentrieren, irgendetwas … Nichts, woran ich mich auf dem leeren Gelände meiner Erinnerungen festhalten könnte. In meinem Gedächtnis verschwinden die Spuren der Vergangenheit wie die Pusteblumensamen, die im Frühling durch die Luft fliegen und jedes Mal die Richtung ändern, wenn man versucht, sie zu ergreifen. Ich fürchte, die kleinste Bewegung könnte diese Gärung meiner Gedanken verraten. Ich bleibe still, erstarrt.
„Erinnerst du dich an das Foto?“
„Natürlich, das bist du. Am Tag deiner Kommunion.“
„Aber nein, Mama, das ist Anna. Sie war heute Morgen bei dir und hat dir diese Rosen gebracht.“
Ich schließe meine Augen. Mein Herz rast wie wild. Ich versuche, an den Besuch dieser Anna zu denken, aber nichts kommt; meine Fantasie liefert nicht. Scham überflutet mich, ich stottere: „Ich erinnere mich nicht.“
Eine schlecht versteckte Enttäuschung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er küsst mich auf die Wange und schielt dabei unauffällig auf seine Uhr.
Die Tür zum Schlafzimmer öffnet sich. Ein Tablett wird auf einem Wagen gebracht. Paul nimmt es:
„Danke!“, sagt er. „Ich kümmere mich um sie.“
Dann dreht er sich zu mir um: „Ich helfe dir! … Die Suppe riecht gut …“
Ich habe keinen Hunger.
Er hebt die Glocke hoch und führt den Löffel an meine Lippen:
„Wie damals, als ich klein war: – für Anna, – für mich …“
Seine Stimme klingt angestrengt; er versucht zu sehr, der Szene einen natürlichen Anschein zu geben.
So gut es geht, schlinge ich die Suppe hinunter, und verschlucke mich wiederholt dabei. Sie schmeckt nach nichts. Die Hälfte der Brühe läuft mir über den Hals. Paul sieht mich hilflos an. Er stellt das Tablett zurück auf den Tisch und schaltet den Fernseher ein.
Ihre Sendungen interessieren mich nicht; zu langweilig!
Er schaut nicht auf den Bildschirm, sondern blickt häufig auf sein Handgelenk. Es ist klar, dass er schon seit einiger Zeit darüber nachdenkt, was er mir gleich sagen wird.
„Ich muss gehen.“
Ich greife nach seinem Arm, um etwas von dieser so kostbaren und flüchtigen Zeit zu retten, die ich vielleicht nie mehr zurückbekomme. Er schiebt mich sanft zurück und küsst mich zum Abschied noch einmal.
Ich erschaudere, hänge am Knirschen seiner Sohlen auf dem Linoleum. Während er sich entfernt, zerstreuen sich die kleinen unsichtbaren Wellen, die uns verbunden haben. Meine Kehle schnürt sich zu. Mir wird bang und bänger. Ich höre, wie die Schwester in der Türöffnung mit halblauter Stimme zu ihm spricht: „Das muss Ihnen nicht peinlich sein. In einer Minute wird sie Ihren Besuch bereits vergessen haben.“
„Dennoch schien sie mir heute gut orientiert.“
Tränen trüben meine Sicht. Ich schließe die Augen.
„Sie hat so, sagen wir, kurze Lichtfenster“, lügt sie.
Panik macht sich in meinem Körper breit. Das Album fällt mit einem gedämpften Geräusch auf den Boden.
Ich fühle mich, als würde ich schweben.
Ich habe mich sozusagen verlaufen … Aber solange der Kopf mitmacht …