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Allgemeine Ortskrankenkasse
Ich klingle – und sofort ist er wieder da, dieser nutzlose Zustand zwischen Lampenfieber und Panik.
Ich bin der Aufregung auch nach einem halben Jahr Außendienst nicht Herr geworden. Begreife: Der trockene Mund und das Zittern der Stimme werden meine tägliche Heimsuchung bleiben, lästig wie ein eitriger Pickel.
Summend entriegelt sich die Haustür. Ich trete ein und nehme die Stufen, Stockwerk für Stockwerk.
Herzklopfen, nicht wegen der körperlichen Anstrengung.
Der falsche Job.
Schweiß unter den Achseln, jetzt im Winter gut unter dem Jackett zu verbergen, im August jedoch werde ich mit nassen Flecken unter den Armen und auf der Brust rumlaufen.
Die richtige Etage. Ein Kind an der Tür.
„Oh, hallo. Frank Schmidt von der …“ Himmel, was für eine Sprache. Das ist doch ein kleines Mädchen! „Mein Name ist Frank Schmidt“, versuche ich es noch einmal. „Ich möchte zu Frau Engwer. Ist das deine Mama?“
Das Mädchen ist dunkelhaarig, moppelig und sehr hübsch. Es nickt.
„Kannst du sie mal an die Tür …?“
Die Kleine ist schon losgerannt. Und nach ein paar Sekunden wieder da.
„Die Mama ist kacken!“
Mir ist nicht nach Losprusten, dazu bin ich viel zu aufgeregt. Aber ich lächle und entspanne mich ein wenig.
„Komm rein!“, sagt das Kind.
„Rein? - Oh, nein“, wehre ich ab. „Ich … Ich warte hier. Auf deine Mama. Das ist schon in Ordnung.“
Ich stelle die Tasche ab. Trockne mit einem Tempo die Stirn und den Nacken. Zerknülle das Papier, ziehe ein frisches hervor und stecke es, bereit für den nächsten Schweißausbruch, in die Hosentasche.
Das Mädchen, wird mir bewusst, beobachtet mich.
„Wie heißt du?“, fällt mir ein.
„Tilda!“, brüllt sie, froh ihren Namen endlich nennen zu dürfen.
In meinem Kopf materialisieren sich zwei, drei Bilder von Tilda Swinton. Sie sieht völlig anders aus als das Mädchen. Du solltest Anti-Tilda heißen, denke ich einen halbwegs witzigen Gedanken.
Gutes Zeichen, witzig zu sein, dann kann Mama ja kommen.
Mama kommt.
Eine Frau, dünn und blass wie Papier. Sie schüttelt nasse Hände beim Gehen: „Ja?“
„Frank Schmidt von der Allgemeinen Ortskrankenkasse“, stelle ich mich vor.
„Von der … was?
„Von der AOK.“
„Ach so.“
Etwas an der Frau ist … anders.
Ich versuche herauszufinden, was. Ist sie schön? Nun, ihre Haare sind stumpf, sie riecht nicht frisch. Sie wirkt wie von einer Krankheit ausgezehrt; dabei ist sie auf jene seltsame Art nichtschön, die Frauen anziehend und besonders macht. Ich bemerke außer Funktion gesetzte Lachfältchen. Tildas Mutter hat mal bessere, vielleicht sogar gute Tage erlebt.
Ich starre sie länger als notwendig, länger als statthaft, an. In Persien wurden Männer getötet für das Starren auf Frauen.
„Wir hatten einen Termin“, komme ich zur Sache. Bemerke den Fehler, es heißt natürlich: Wir haben einen Termin. Wir hatten ist genauso falsch wie: Wie war der Name?
„Heute?“ hebt sie müde eine Braue. „Das … könnte sein. Ich habe zu viele Termine. Manchmal verwechsle ich die Tage, es ist … irgendwie keine gute Zeit.“
„Ich kann an einem anderen Tag wiederkommen.“
„Aber nein. Das geht schon. Kommen Sie herein.“
Sie reicht mir die noch immer feuchte Hand und meint: „Ist nur Wasser!“
Ich greife die dünnen Finger und reiße mit: „Was soll es auch sonst sein?“, den ältesten Witz der Welt.
Wir hocken uns in die Küche.
Ein nur oberflächlich sauberer Raum. Die Einrichtung war mal witzig, jetzt ist sie vernachlässigt. Am Kühlschrank kleben Tildas Zeichnungen: Spiel- und Rummelplatzszenen mit riesigen Sonnen. Die Blätter sind an den Rändern eingerollt und fleckig von Milch oder Öl. Eine Glühlampe ist defekt.
Vor dem Fenster stehen Blumentöpfe mit kranken oder verstorbenen Kräutern.
Der Stuhl war mal teuer, doch seine hölzernen Zapfen haben an Griff verloren. Er meldet unter meinem Normalgewicht Bedenken an. Ich räume mir eine Fläche von zwei A4 Seiten frei, lege meine Unterlagen aus und beginne vollautomatisch zu erzählen: Niedriger Beitragssatz und Zusatzbeitrag, Gesundheitskurse, Bonuszahlung.
Tilda kommt herein, greift sich die mit beweglichen Rädchen versehene Pappkarte zur Berechnung des Jahresbeitrags und fragt: „Für was‘tn das?“
Es heißt: Wofür?, denke ich.
Die Mutter schickt Tilda spielen. Sie spricht nicht unfreundlich mit ihr, doch ohne Leben.
Was ist hier los?
Als ich fortfahren will, unterbricht sie mich: „Ist schon okay. Ich kann mir das nicht merken. Und muss sowieso wechseln.“
„Warum?“
„Ich brauch die gesparten zehn Euro im Monat. - Einen Tee?“
Sie setzt Wasser auf. Sieht aus dem Fenster, während es im Kessel zu blubbern beginnt. Gießt uns schwarzen Tee in alte, irgendwo hergeholte Tassen; nimmt Platz und hält sich an ihrer Tasse fest.
Ich lege ihr die Beitrittserklärung hin und mache Kreuzchen, wo sie unterschreiben soll.
„Sie können es sich gern noch mal überlegen, Frau Engwer. Niemand bedrängt sie.“
Die Frau winkt müde ab. „Strom muss ich auch noch ummelden“, sagt sie. „Den ‚Kurier‘ abbestellen. Internet, sagen die, ich sei zwei Jahre gebunden. Was für Schweine. Vierzig Euro im Monat, dabei habe ich weder Computer noch Handy.“
„Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …“
„Das macht mich fertig.“
Wir trinken schweigend unseren Tee.
„Mein Ex hat alles von Wert mitgenommen“, sagt sie irgendwann. „Laptop, Fernseher, Lautsprecher. Ich hab keine Musik mehr.“
Ich weiß nicht wohin mit meinen Händen. Greife mir den Henkel der Tasse und fingere daran.
„Das Bargeld, das Auto.“
„Sie haben Tilda“, versuche ich die Frau aufzumuntern
„Ich hab sie krankgemeldet, weil die Schule ewig weit weg ist.“
Wie auf Kommando beginnt Tilda nebenan zu singen.
Die Frau lächelt, schwach wie ein erschöpfter Akku.
Plötzlich schiebt sie ihre Tasse von sich weg und sagt: „Eigentlich sinnlos. Die Kasse zu wechseln und all das andere. Sich große Gedanken um dieses kleine Leben zu machen.“
„Nun ja, …“ rede ich halbherzig. Große, schöne Augen hat Tildas Mama, aber jedes Feuer darin scheint erloschen.
„Sogar sinnlos, zu leben“, sagt sie leise und ich antworte schablonenhaft: „Aber nein!“
„Einzig Tilda ...“, flüstert sie, „hält mich davon ab, aus dem Fenster zu springen.“
Achter Stock, denke ich einen blöden Gedanken. „Da kann ich jetzt auch nichts dazu sagen“, meine ich nach langem Schweigen. „Nichts Vernünftiges.“
Ich starre sie über den Resopaltisch hinweg an, mit Gedanken, stockend wie das Programm eines aufgehangenen Computers.
Was kann ich für sie tun?
Sie, wie in einem schlechten Film, „einfach mal in den Arm nehmen“? Ihr die Bude aufräumen, einen ordentlichen Dübel einsetzen und die herabgefallene Gardinenstange befestigen; einen gebrauchten Fernseher organisieren, mit ihr spazieren gehen und ins Kino? Ins Bett?
Braucht Tildas Mutter einen wie mich, einen Angsthasen und Langweiler? Wahrscheinlich nicht. Eher schon einen, der ihrem Ex die Fresse poliert und ihre Angelegenheiten behördlich und gerichtlich klärt. Der sie wie eine ausgewachsene Eiche stützt.
Nein, ich bin für Tildas Mutter der Falsche. Kein guter Fang. Im Gegenteil: Vielleicht sollte nicht sie, sondern ich aus dem Fenster springen.
Ordentlich Selbstmitleid, spottet plötzlich eine Stimme in meinem Kopf. Was für ein Jammersack! , fügt sie hinzu und mit einem Mal empfinde ich Ekel vor mir selbst.
Ekel und Wut steigen wie Lava in mir auf - und die Hitze verleiht mir einen plötzlichen und unerwarteten Mut.
„Hören wir auf, uns kleinzumachen“, sage ich und Tildas Mutter schaut auf.
„Wir sind noch jung“, bringe ich vor. „Halbwegs gesund. Unsere Probleme lassen sich lösen.“
„Lösen?“, fragt sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Aber wie denn?“
Wenn ich das wüsste. Auf ihre Frage fehlt mir die Antwort, doch ihre hohlen Wangen bringen mich auf eine Idee. Auf etwas Naheliegendes.
„Indem wir erst mal was essen“, sage ich und setze hinzu: „Italiener.“
Sie blickt mich wie einen Verrückten an.
Verständlich, denke ich. Gerate außer Kontrolle, tue Unfassbares und greife nach ihrer Hand.
Erwarte nichts Gutes, doch sie zieht ihre Finger nicht zurück.
Ihre Hand ist wärmer als erwartet.
Irgendwann stürmt Tilda herein und wir lassen uns los.
Die Kleine hat ein „Himmel und Hölle“ gebastelt und zeigt es mir.
„Für was‘tn das?“, gebe ich mich unwissend und sie erklärt es mir.
„Komm, Tilda“, unterbricht plötzlich die Mutter.
Sie nimmt Jacke und Mantel vom Haken. „Komm, wir ziehen uns an.“
Wir müssen nicht weit laufen.
Der Kellner hat eine Kerze angezündet.
Tilda verdrückt ihre Pizza, danach Mamas Rest. Sie wird müde, rutscht zu mir rüber und schläft an meiner Seite ein. Ihr satter kleiner Körper schmiegt sich mit tiefen Atemzügen gegen meinen.
Ihre Mutter hebt die Hand und wir bestellen Wein.
Später trage ich Tilda nach Hause.
Auf dem Tisch liegt noch immer der Vertrag.
Die Mutter unterschreibt das Papier, reißt sich ihren Durchschlag ab und gibt mir das Original.
„Na dann …“ Ich will mich verabschieden, doch Tilda erwacht.
„Kommst du mal wieder?“, fragt sie schläfrig.
„Ich …“
Ich schaue die Mutter an.
Die lächelt, wie ein scheues Gespenst, und nickt.