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Alles gut
Ein Tropfen Schweiß rinnt zwischen meinen Schulterblättern hinab und juckt wahnsinnig. Ich würde mich gerne kratzen, aber ich hänge zwischen Wand und der Blase und kann mich kaum bewegen.
Mittlerweile ist das Atmen anstrengend geworden. Den Brustkorb kann ich nicht mehr komplett ausdehnen, und je weniger ich es kann, desto mehr möchte ich es.
Mein Rücken wird an die taubengraue Wand des Wohnzimmers gedrückt, die Wand zwischen der Tür zum Flur und dem Schreibtisch aus Spanplatte und den zwei Böcken. Es ist nicht die schlechteste Wand für meine Gefangenschaft, denn schräg gegenüber befindet sich das Fenster zum Hof und ich habe Blick auf die Magnolie und Frau Heller, wenn sie auf ihrem Balkon die Petunien gießt.
Die Magnolie ist heute traurig. Die Blüten strahlen nicht so wie an den Tagen zuvor, die Haussperlinge sitzen müde auf den Ästen und stecken die Köpfe unter die Flügel. Ich würde gerne nachschauen, was los ist, nur leider kann ich mich keinen Zentimeter bewegen, noch nicht einmal im Nacken kratzen. Mir gelingt es, den Zeigefinger der linken Hand zu knicken und mit den Zehen zu wackeln, was mich allerdings beides nicht weiterbringt.
Die Blase vor mir schimmert blau und wirft helle Reflexe an die Decke. Mittlerweile reicht sie von einer Zimmerseite zur anderen und alles, was ich sehe, sehe ich durch blauen Dunst. Vielleicht wirken deswegen auch die Farben der Magnolie gedämpft. Die Müdigkeit der Spatzen lässt sich dadurch nicht erklären.
Vor zwei Wochen, als Evi das letzte Mal hier gewesen ist, da passte die Blase gerade noch in den alten Bollerwagen, ein riesiger blauer Hubbel, umspannt von einer dicken, durchsichtigen Hülle. Er quoll über das Holz und meine Schwester schlug die Hand vor den Mund. Die Haut unter ihren Augen war so fein, dass ich kleine Äderchen sehen konnte. Auch sie waren blau.
Ich legte eine Hand auf ihre Schulter. „Geht es dir gut?“
Sie schlug die Hand weg, schüttelte sich, sodass sich noch mehr Strähnen aus dem Pferdeschwanz lösten. „Ob es mir gut geht? Mir?“ An ihrem Hals krochen rote Flecken empor.
„Du musst dir helfen lassen!“, sagte sie und zeigte auf die Blase, als wenn man sie übersehen könnte.
Ich schüttelte den Kopf. „Alles gut. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.“ Der Holz des Bollerwagens knackte.
„Gar nichts ist gut!“ Evi schrie jetzt, die Flecken hatten ihre Wangen erreicht. „Du sitzt in dieser Wohnung fest. Wie lange soll das noch so weiter gehen?“
„Ich lass mir alles liefern. Das geht schon.“ Ich lachte. „Eigentlich mal ganz angenehm, so faul zu sein.“
Evi öffnete den Mund, schloss ihn und kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Plötzlich liefen Tränen über ihre Wangen. „Scheiße“, murmelte sie.
Ich nahm sie in den Arm, strich ihr über den Rücken, bis sie sich ausgeweint hatte. Sie schniefte und löste sich von mir.
„Versprich mir, dass du dir helfen lässt. Von alleine wird die Blase nie kleiner.“
Ich nickte und schaute aus dem Fenster. Draußen ging Frau Heller mit ihrem Labradoodle Daisy spazieren. Wer kümmerte sich um den kleinen Hund, solange ich in der Wohnung festsaß?
„Ich schicke dir die Website von einem Experten. Der kommt sogar hier hin. Aber du musst es auch wollen.“
Frau Heller humpelte ein wenig, ihre Arthrose war sicherlich schlimmer geworden.
„Thea? Hörst du? Du musst es wollen!“
Ich schaute meine Schwester. „Mach dir keine Sorgen.“
Sie seufzte. „Ich hab dich lieb. Melde dich, wenn es was neues gibt.“
Evi schloss die Tür und der Bollerwagen zersplitterte unter dem Gewicht der Blase.
Sie schmeckt etwas salzig. Wie Meerwasser, das man sich aus den Haarsträhnen saugt. Ich habe versucht, ein Loch in die dicke Haut zu beißen. Aber es ist sinnlos. Ich habe noch nie davon gehört, dass eine Blase bei irgendwem irgendwo auf der Welt kaputt gegangen wäre.
Aber sie ist warm. Ich fühle mich wie in der Umarmung eines liebenden Menschen, der einen etwas zu fest umarmt und nach zwei Sekunden, die einem die Luft rauben, wieder loslässt. Die Blase hat keinen Grund loszulassen.
Wie wird es sein, wenn ich die letzte Luft ausatme und keine Kraft mehr für einen neuen Atemzug habe? Wie lange wird es dauern, bis die Blase schrumpft, nachdem ich gestorben bin?
Evi wird weinend an der Tür stehen und warten müssen, bis sie mich beerdigen kann.
An dem Grab unserer Eltern schluchzte sie so sehr, dass sie keine Kraft mehr hatte zu stehen. Ich war da und hielt sie, biss die Zähne zusammen, als sich ihre Fingernägel in meine Haut bohrten.
Ich überlege, wann ich das letzte Mal geweint habe. Auf der Beerdigung musste ich stark sein. Und unsere Eltern sind so gestorben, wie sie es sich immer gewünscht hatten. Gemeinsam. Sie hätten niemals uralt und schwach werden wollen, dabei zusehend wie Freunde und Bekannte nach und nach verschwinden. Auch wenn es für uns schwer gewesen ist, für die beiden war es das Beste und dann kann ich mich nicht beschweren.
Ich bin gesund und die Menschen, die ich liebe sind es auch. Ich habe einen Job und eine Wohnung. Mir geht es besser als einem Großteil der Menschen auf diesem Planeten, wie kann ich mich da beschweren? Wie könnte ich da weinen? Verhöhne ich damit nicht nicht die, die kaum etwas zu essen für ihre Kinder auftreiben können, oder die, die kein Dach über dem Kopf haben und kaum wissen, wie sie die nächsten Tage überstehen können? Es gibt für mich keinen Grund zu weinen.
Der Druck der Blase ist mittlerweile so stark, dass mein Kopf in einem unangenehmen Winkel zur Seite gedrückt wird. Ich würde ihn gerne von rechts nach links bewegen, nur kurz um die Halsmuskulatur zu entspannen. Das Fenster kann ich nur noch aus den Augenwinkeln sehen.
Das einfallende Licht ist wärmer geworden. Das Farbspiel erinnert mich an einen Sonnenuntergang am Meer. Meine Augen sind müde, ich schließe sie. Die Blase ist weich und warm. Ich schmiege mich an ihre Haut und es ist, als wäre es meine eigene.
Die Welt ist blau.
Ich schwimme und fühle mich frei, so leicht wie schon lange nicht mehr. Die Blase ist verschwunden und ich kann schwimmen, wohin ich will. Dort drüben glitzert und funkelt es. Langsam näher ich mich diesem Spiel aus Licht und Farben, bewege nur ganz leicht meine Hände und Füße und genieße es, mein Gewicht nicht selbst tragen zu müssen.
Ich schaue hinter mich und sehe, dass das Wasser dort dunkel und trüb ist. Wie eine schmutzige Wand ragt es empor.
Mit kräftigen Schwimmbewegungen versuche ich mich davon zu entfernen, aber jedes Mal, wenn ich einen Blick nach hinten werfe, ist das Dunkel näher. Es scheint, als würde sich der Dreck an einer Stelle verdichten, fast als wäre dort jemand.
Ich schwimme schneller und plötzlich wird mir bewusst, dass mein letzter Atemzug lange her ist. Meine Lunge brennt und richte mich nach oben, in der Hoffnung noch rechtzeitig an die Oberfläche zu kommen.
Etwas umschlingt meinen Knöchel. Ich strample und trete, aber schaffe es nicht, mich zu befreien, und anstatt mich der rettenden Oberfläche zu nähern, werde ich wieder in die Tiefe gezogen.
Ich schaue nach unten. Eine Frau schwimmt unter mir, ihre Hand umklammert mich, die langen braunen Haare schweben im Wasser. Dann schaut sie hinauf und der Blick, der mich trifft, ist so traurig, dass ich zusammenzucke.
Die Augen sind meine, aber darunter liegen dunkle Ringe, die Wangen sind blass und eingefallen. Ich lasse mich zur ihr herabsinken, bis wir auf einer Höhe schweben.
Wir halten uns an den Händen und ich kann ihren Blick kaum aushalten. Er dringt in mich ein und wühlt und bohrt. Es tut weh und ich bin kurz davor loszulassen, um wegzukommen von diesem Schmerz.
Ich will ihr sagen, dass alles gut ist. Aber das stimmt nicht. Gar nichts ist gut. Ich habe ihr das angetan.
Wir nehmen uns gegenseitig in die Arme, ich lege meinen Kopf an ihre Schulter und sie ihren an meine und wir weinen.
Ich japse und huste, drehe mich würgend vom Rücken auf die Knie und erbreche einen Schwall blaues Wasser auf die Holzdielen meines Wohnzimmer. Mein Körper verkrampft immer wieder, ich würge, obwohl nichts mehr da ist, das aus mir herauskommen könnte. Tränen und Rotze tropfen an meiner Nase hinunter. Meine Arme zittern, können mich kaum halten, nach der Schwerelosigkeit des blauen Meeres.
Meine Eltern sind tot.
Sie kommen nie mehr wieder. Papa kann mich nicht mehr in den Arm nehmen, Mama nicht mehr mit mir im Schwarzwald wandern. Wie konnten sie uns das antun und so früh sterben? Evi und ich waren viel zu jung, um uns um alles zu kümmern.
„Wieso habt ihr uns allein gelassen?“, brülle ich und winde mich vor Schmerzen. Ich lasse mich auf den Boden fallen und liege dort zusammengekrümmt wie ein Embryo.
Jemand klingelt, gleich mehrmals hintereinander. „Thea?“ Es ist Evi. Sie klopft energisch gegen die Wohnungstür. „Thea, was ist los bei dir?“ Die Tür wird aufgeschlossen und Evi stolpert ins Wohnzimmer.
Sie wirft sich neben mich auf den Boden, schlingt die Arme um mich. „Ich bin da. Ich bin für dich da.“
Ich atme ihren Geruch ein und bin so dankbar, dass sie da ist. „Mir geht es nicht gut“, sage ich.
Evi streichelt mir über den Rücken. „Ich weiß.“