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All das
All das(eine kurze Anekdote zum Jahreswechsel)
All das, das niemals gesagt wurde
Ein Blick auf die Standuhr in der hinteren Zimmerecke. Dreiundzwanziguhrvierunddreissig. Ich finde mich in gleicher Position wieder, in der ich schon lange Zeit, fast ewig wie mir scheint, ruhe. Den Kopf in die Hände gestützt, leicht vorangebeugt sitzend auf einem kleinen hölzernen Schemel in der dunkelsten Nische des Raumes. Die Eichendielen stöhnen unter meinem federnden rechten Bein und beweisen mir unmissverständlich, jedoch ungewollt, ihre Zerbrechlichkeit. Der Schein der Kerze legt einen Schleier warmen Lichtes über den gesamten Raum. Fürsorglich, vertraulich, erstickend. Ein weiteres mal heftet mein Blick auf dem gebrechlich wirkenden Bett unweit der Standuhr. Die Konturen einer Gestalt werfen ihre Schatten auf das schlaff herabhängende Betttuch, das ihren kränklichen Leib vergeblich zu bedecken gesucht. Schwach, dennoch deutlich, zeugt das auf und ab des Betttuches von Lebendigkeit. Matt und kraftlos liegen erweisste Haare in die Stirn und wandern auf der Matratze in wirren Strähnen umher.
Die Augen getrübt von Gesehenem, die Ohren taub von Gehörtem, die Stimme schwach von Gesagtem, erscheint es mir, als würde sie schon ewig dort ruhen und zu mir sprechen. Leise, fast unhörbar. Sprechen von Schicksalen, von Dramen, von Tragödien, von Komödien. Sprechen von Leben, von Tod, von Glück und Leid, von Liebe und Hass und von Dummheit. Von Menschen, die einander vertrauten und enttäuschten. Menschen, die erschufen und zerstörten. Menschen, die sich kümmerten und verkümmerten. Von Worten die gesagt werden wollten, für die jedoch niemand die Töne fand. Von gesprochenen Worten, die an ihrer Unaufrichtigkeit verdarben. Und von Worten, die ihrer Aufrichtigkeit wegen, verstummten. Von Herzen, die kämpften und brachen. Herzen, die brachen und kämpften. Herzen, die falsches liebten und falsches hassten. In geschwächten, aufrichtigen Worten dringt die Stimme an mein Ohr.
Das federn meiner Beine erstirbt und die Eichendielen verstummen. Mein Blick wandert noch einmal hinüber zur Uhr. Dreiundzwanziguhrdreiundfünfzig. Der Schein der Kerze spiegelt sich in meinen Brillengläsern. Das auf und ab des Betttuches erschwächt, als sich die Stimme ein weiteres mal erhebt. Worte. Worte von Hoffnung und neuerlichen Chancen. Von neuerlichen Chancen auf Hoffnung. Und Worten von Hoffnung auf neuerliche Chancen. Ein kurzer Augenblick der Angst erfasst meinen Körper und entringt mir einen Seufzer. Die Angst scheint klirrender Kälte zu weichen. Ein Blick zu einem dunklen Fenster. Geschlossen. Zurück auf die Standuhr. Dreundzwanziguhrneunundfünzig. Ich erhebe mich. Die Dielen drohen unter meinem Stand zu bersten. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, die Augen auf das abklingende auf und ab des Lakens gerichtet, schreite ich auf das Fenster zu. Als ich dort ankomme und meinen Blick vom Bett abwende sind die letzten Atemzüge ausgespieen und die trüben Augen ein letztes mal geschlossen. Lediglich das monotone Schwingen des Uhrenpendels durchbricht die nun herrschende Stille unablässig. Ich blicke durch das Fenster auf die schummrig beleuchtete Strasse. Dem Himmel entweichen weisse, gefrorene Tränen, die in unermüdlichem Fleiss bereits die Strasse bedeckt halten. Die Standuhr schlägt mit dumpfen Tönen zur Mitternacht. Mein Atem schlägt sich fahl an der Scheibe nieder. Die Menschen dort unten wandeln wie auf Abruf umher, umarmen sich, halten Sternenregen in der Hand und hinterlassen bei ihrem regen Treiben Abdrücke ihres Weges auf dem weiss bedeckten Kopfsteinpflaster. Ich wende mich dem Fenster ab und begebe mich mit gesenktem Blick zurück in die dunkle Nische.
Ich hebe meinen Blick erneut auf das Bett. Die gebrechliche Gestalt ist entschwunden. Stattdessen blickt mir ein Kind mit aufgeweckt neugierigem Blick entgegen. Aufrecht auf der Bettkante sitzend, lässt es die Beine nur wenige Zentimeter über dem Dielenboden baumeln. Nur einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke, als es mit einem Satz auf den Boden steht und in Richtung der Tür läuft. Erst als die Tür schon geöffnet ist und das Kind schon im Begriff ist hinauszugehen, lassen sich meine Gedanken in Worte fassen. Fast zittrig erscheint mir meine Stimme, als ich sie endlich erhebe.
„Für was dies alles?“
Ein verständnisvolles Lächeln strahlt mir entgegen. Die Tür wird geschlossen. Ein Schritt auf mich zu. Mit kindlicher Unbefangenheit schlägt mir die Stimme entgegen.
„Für all die Worte, die gesagt werden sollten, aber nicht gesagt wurden. Für all die Worte die nicht gesagt werden sollten, aber gesagt wurden. Für all die Gedanken, die gedacht wurden, aber niemals ausgesprochen wurden. Für all die Gedanken die ausgesprochen wurden, ohne bedacht zu sein. Für all die Menschen, die misstrauten ohne jemals zu trauen. Für all die Menschen, die Täter waren, ohne jemals Opfer gewesen zu sein. Und für all die Menschen, die hassten, ohne jemals zu lieben.“
Das Lächeln entweicht dem kindlichen Gesicht nicht, als es sich mir abwendet und die Tür wieder öffnet. Ein letzter Blick in meine Richtung. Ein letztes mal erfüllt mich dies Lächeln mit Wärme. Es entschwindet. Die Tür ist geschlossen. Der Raum leer. Ein Blick auf die Standuhr. Nulluhrsechs. Stille bleibt zurück. Stille und das monotone unablässige Schwingen des Uhrenpendels.
Ende