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Alaska

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10.09.2016
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Alaska

Schnee ist laut, wenn es leise ist. Wenn es Nacht ist und kalt und nur ein bisschen Wind durchs Tal zieht, dann pfeift Schnee und weht und rieselt. In den schönsten aller Nächte ist er grün wie der Himmel und die Wipfel der Hemlocktannen. Es ist so still, dass die Schneewehe Spuren auf dem Trommelfell hinterlässt. Aus den gewölbten Fenstern meiner Hütte schaue ich hinauf und sehe die kreisenden Flüsse gelben und grünen Lichts. Meine Fingerkuppen streichen über die Rillen im Holz, lesen Splitter auf. Der Ofen zieht. Ich sehe das Grün und denke an Merseburg.

Die erste Hälfte der Geschichte begann damit, dass meine Mutter etwa zwanzig Eizellen einfrieren ließ. Sie war erfolgreich und allein, verdiente genug. Es ist, sagte sie, dass man hier entweder Karriere macht oder Kinder kriegt oder man ist Mann. Das sagte sie wohl drei Mal. Es war nicht ohne im Gefrierschrank. Fünf Jahre habe ich dort ausgeharrt und ich kann sagen: zum Glück war meine Mutter am Ende zu alt. Die zweite Hälfte der Geschichte lässt sich auf Jürgen, meinen Vater, herunterbrechen – der oft sagt, ich hätte ihn vollkommen gemacht, obwohl es sich ja eigentlich umgekehrt verhält. Meine Mutter starb an einer Sepsis. Sie verglühte, während draußen der Schnee fiel. Ich bin ein Winterkind.

Mein Vater und ich machten das gut. Ich in der Schule, er in der Redaktion. Er ist Journalist und aus einer Zeit, in der Menschen täglich Nachrichten aus Papier lasen, Hüte bastelten aus Papier, Schiffe, Verkleidungen für Töchter beim Fasching und was immer Töchter aus Papier haben wollten. Mein Name ist Iona. Das ist auch eine Insel in Schottland, die mein Vater als junger Mann besichtigte und als schönsten Ort der nördlichen Hemisphäre befand. Hätte er Alaska bereist, so würde ich stattdessen den Namen einer wilden, ausgefuchsten Jugendromanprotagonistin tragen.

Ich las Die Wilden Hühner, alles von John Green und die Eragon-Reihe. Außerdem interessierten mich Pflanzen, Tiere, Gebirge und das Wetter. Manchmal schloss ich mich einfach den Ritualen meines Vaters an: das Fahrradfahren, die Kinobesuche, die Bouletten mit Senf, die man halbiert und sparsam isst und die einen an Leute erinnern, die nicht mehr da sind. Meinen Opa zum Beispiel oder meine Mutter oder einen alten, verstorbenen Freund. Irgendwie hielten lauwarme Bouletten die Verbindung aufrecht.

Fritz war ein Typ in meinem Alter mit einem Namen aus einer anderen Zeit. Jedenfalls nicht Zweitausendzehn. Ich war einundzwanzig, studierte Biologie, erstes Fachsemester, Fritz dreiundzwanzig, irgendwas, viertes oder fünftes Fachsemester. Beide BAföG, Nebenjob, und bitte schnell fertig werden! Fritz las Zeitung über die Abonnements begüteter Kommilitonen und außerdem gebrauchte Reiseführer. Wir lernten uns beim ‚Sandwich-Büro‘ kennen, wo ich zwei Mal die Woche arbeitete. Er war gerade für ein Stipendium bestätigt worden und wollte daher ein Chicken-Majo-Sandwich. Ich riet ihm zu scharfer Soße, so kamen wir ins Gespräch. Bald schon aßen wir angeblich aus der Hand geglittene Sandwiches auf seinem Bett in der WG, bis das rauskam und ich noch mal so davon, aber nur um Gürkchenscheibenbreite.

Gerne folgte ich Fritz' Ritualen. Einen Reiseführer hatte er doppelt. Das war ‚Alaska‘. Ich dachte mir nichts dabei.
Fritz fragte nicht viel, vor allem nicht nach Dingen, die – wie er vielleicht annahm –, das Potenzial hatten, mich in Verlegenheit zu bringen. Deshalb erfuhr er nie, dass der Tag des Chicken-Majo-Sandwiches zugleich der Tag der Ersti-Party, des Caipirinhas und des bebrillten Typens mit den halb und vollständig geöffneten Pusteln und vor allem der Tag meines ersten Mals war. Wir fuhren bis an die Grenzen unserer Semestertickets und nahmen das Fahrrad mit. Ich mochte die Natur im Allgemeinen – nicht so sehr, dass sie hier, wie mein Vater das nennt, ‚Kulturlandschaft‘ ist. Damit meint er die alten und neuen Fabriken. Die Schlacke- und Abraumhalden, die strahlenden Pflaster und sauren Böden. Das ist nicht meins. Nie geworden.

So wie andere Leute mich als ‚echt nett‘ oder ‚richtig nett‘ bezeichneten, sagten sie über Fritz, er sei ‚lieb‘ beziehungsweise ‚zu lieb‘, meinten aber auch, dass er ein beneidenswert ‚reines Herz‘ habe. Sicher, das waren Vorurteile, aber ganz ließ sich unser Nett- und Liebsein nicht von der Hand weisen. Auf unseren mittlerweile wochenendlichen Ausflügen im Zug, nebst vorbeisausenden Landschaften und uns gegenüber, redeten wir über so manch fernes Land, über so manche Stadt und über kognitive Dissonanz. Das war etwas, das ich aufgeschnappt hatte und das mich nicht mehr losließ. Als läge eben in genau diesem Phänomen eine tiefere Erkenntnis verborgen, die sich mir an der Oberfläche schon darbot, aber vielleicht noch viel mehr für mich bereithielt.
„Also wenn sich etwas Neues nicht mit deinem Wissen über die Dinge vereinbaren lässt“, stellte Fritz fest und ich überlegte, ob das hinkommen mochte.
Vielleicht gab es in meinem Leben zu wenig kognitive Dissonanz. Alles erschien mir auf eine unvollkommene Weise bereits fertig zu sein.
„Die Kulturlandschaft“, sagte ich schließlich.
„Was ist das?“, fragte Fritz.
Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die etwas langsamer im Hintergrund vorbeiziehenden Geröllpyramiden.
„Die Kulturlandschaft ist meine kognitive Dissonanz. Sagt man das so?“, fragte ich.
„Ich denke“, antwortete Fritz.

Fritz und ich verbrachten außerdem viel Zeit im Bett. Er half mir, die Wände ringsum grün zu streichen. Ein nicht zu dunkles Grün, ein leichtes, weiches Grün. Wie ein luftiger Schleier. Im Nachmittagslicht waren wir grün deshalb. Ich gewöhnte mich an diesen Anblick, an unsere grünen Körper. Abschottung wurde ein grünes Gefühl, der Duft, den Fritz auf meiner Haut hinterließ, wurde ein grüner Geruch. Die Sphäre außerhalb meiner vierzehn Quadratmeter wurde eine rötliche, entzündliche Umgebung. Die Wälder wurden immer grüner und die Kulturlandschaft immer entzündlicher. Die allgemeine Sättigung unserer Körper- und Netzhäute hatte uns zu empfindlichen Vampiren gemacht.

Ich zeigte Fritz auch das mit den lauwarmen Bouletten. Zwar hatte er niemanden, zu dem er nicht auch eine analoge Verbindung hätte aufbauen können, doch das Prinzip konnte er gut nachvollziehen und außerdem aß er einfach gerne Bouletten. Manchmal fütterten wir uns gegenseitig damit. Eine andere Möglichkeit, das Erlebnis herauszuzögern, bestand darin, die Boulettenstücke wie Bonbons zu lutschen. Das war Fritz' Idee. Er hatte fast immer gute Ideen, wenn es um Dinge ging, die ihn selbst nicht betrafen. Wie er aber die Lücke, die zwischen Merseburg, seinem Studium und seinen etlichen Sehnsuchtsorten klaffte, überbrücken wollte, das war für Fritz ein Reiseführer mit sieben Siegeln.

Es schneite zum dritten Mal und das Problem, das wie ein Sandkorn pikste und das man längst nicht mehr für eine im Entstehen befindliche Perle halten konnte, war Friedrichs Tendenz zu befürchten, er könne jederzeit durch jemanden oder etwas ersetzt werden. Geistig, physisch oder metaphysisch – etwa wenn wir Bouletten aßen. Gerade war er sechsundzwanzig geworden und beim Anblick immer neuer und unbekannter Gesichter in den Seminaren und Hörsälen begriff er – vielleicht zum ersten Mal –, dass die Dinge sich eines Tages oder schneller noch ändern konnten; dass sich der physische Körper im Gegensatz zur IP-Adresse stetig veränderte; dass er immer neue, fremdartigere Formen annahm und dass er sich bereits in einer Phase des Abbaus befand. Während Fritz und ich also aktuell noch auf einem Fest weilten, uns sozusagen gegenseitig mit Boulette versorgten, bauten andere andernorts bereits das Buffet ab. Ich schien die Richtige zu sein, aber war er der Richtige? War er auch der, der er sein sollte in seinem Alter, und wenn nicht, wie oft musste er denn noch ersetzt werden, bis er endlich bleiben durfte?

Ich empfand diese Gedanken als lähmend und orientierte mich deshalb neu, wodurch Fritz' Sorgen gewissermaßen zur selbsterfüllenden Prophezeiung wurden. Sein Name war Leo beziehungsweise Herr Dipl.-Biol. Matthiess. Kommilitoninnen und ich hielten ihn für eine ‚nicht-standardtypische Labormaus‘. Er war nicht furchtbar gutaussehend und redete nicht furchtbar eingebildet, was ihn beides auf seine Weise attraktiv machte. Einer auch, der mal mit dem Seminar was trinken ging. Und nicht zufälligerweise redeten dann nur wir beide die ganze Zeit miteinander. Über Badminton, ‚gutes Essen‘, den Marathon in Berlin und darüber, dass Flugzeuge wirklich mal boykottiert werden müssten. „Ja, total“, sagte ich oder „nee, das stimmt“ oder „stimmt, versteh ich“ oder einfach nur „ja“. Wir tranken Caipirinha natürlich und am Ende tauschten wir Nummern und trafen uns noch in derselben Nacht.

Fritz konnte ich das alles so erzählen und ich entschuldigte mich und weinte, aber mehr aus Erleichterung – während er nur so da saß, grün und mit versteinertem Gesicht. ‚Alaska‘ kannst du behalten, sagte er. Er sah mich nicht noch einmal an. Einmal erkundigte ich mich noch schriftlich nach einer offenen Beziehung, aber bekam nie eine Antwort zurück, nur diese Sprachnachricht eines Nachts. Betrunken, kaum verständlich, offenbar wütend. Ein anderer Fritz. Jahre später, als ich schon nicht mehr hier war, druckten sie sein Gesicht in der Zeitung ab. Mein Vater, der Fritz von einem gemeinsamen Essen kannte, schickte es mir sauber ausgeschnitten per Post zu. Er hatte sich scheinbar einer NGO angeschlossen, die eine kleine Wetterstation auf Grönland betrieb. Laut Interview wegen eines Traums mit schmelzenden Polkappen. Genauso gut aber, überlegte ich, konnte dieser Entschluss mit der Insel selbst oder den dort vorherrschenden Lichtverhältnissen zusammenhängen.

Wie ich bei einem Besuch bemerkte, hatte mein Vater sich dem Hummus verschrieben. Bouletten suchte man hier neuerdings vergeblich. Herr Dipl. Biol. Matthies , wie er seit jener Nacht wieder geheißen hatte, war mit einer kleinen Studiengruppe inklusive mir zu einer Reise nördlich des Yukons aufgebrochen, von der ich als einzige nicht wieder zurückkehrte. Als wir den Strom der gelben und grünen Lichter über den Hemlocktannen, das Knistern der Schneewehen nach drei gemeinsamen Wochen zusammen erlebten, da konnte ich auf einmal hören, wie laut diese Stille eigentlich war und wie schlecht außerdem. Es dauerte Wochen und Monate, bis das Echo ihrer Anwesenheit von diesem durch und durch grünen Ort verschwunden war, und weitere Jahre, bis ich die Kulturlandschaft vergessen und sie sich endgültig von meiner Netzhaut gelöst hatte. Jahrtausende, Jahrmillionen wird es dauern, bis Iona und Grönland sich einander annähern und bis das grüne Licht jeden Fleck dieser Erde einmal berührt haben wird.

 

Hey @Finkins ,

was für ein saucooler zweiter Beitrag (bzw. saucool für die erste Kritik hier überhaupt) :D Vielen Dank dafür. Freue mich, dass es diese Geschichte getroffen hat. Saucool deshalb, weil ich das einfach so einen richtig guten, ehrlichen Leseeindruck finde. Sowas zeigt einfach super, wo eventuell auch Stolpersteine und Verständnisschwierigkeiten bei einem Text sind. Also in dem Sinne erst mal ein großes Willkommen bei den Wortkriegern (toller Laden!), leb dich gut ein. Und nochmal Danke für deinen Kommentar.

Zuerst aber mal, mir gefallen deine Sprachspiele und Bilder sehr gut

Hört man natürlich gerne :-)

ich habe die Geschichte vor allem - oder eigentlich nur - wegen des Anfangs gelesen, der Schneeszene, das hat mich richtig neugierig gemacht.

Das ist auch eine erfreuliche Rückmeldung. Es ist ja ein bisschen anderes Programm als der übrige Text. Ich kenne das als "Icemonster-Prolog". Manche Texte bzw. vor allem auch Filme beginnen mit einem Feuerwerk. Du wirst quasi direkt neugierig gemacht und reingezogen.

Am Ende des ersten Absatzes erwähnst du Merseburg - da bin ich also nun, aber irgendwie wandert die Geschichte dann herum und ich fühle mich als hätte ich mich verirrt, weil ich Merseburg nicht mehr finde. Vielleicht habe ich es überlesen, vielleicht spielt auch der ganze Rest der Geschichte in Merseburg - aber ja auch woanders, oder?

Vielleicht hast du recht und Merseburg ist hier etwas zu viel. Vielleicht kann ich das irgendwie allgemeiner halten (Notiz 1). Es ist letztlich ein Detail. Also Merseburg steht hier für nicht viel mehr oder weniger als eine kleinere, ostdeutsche Provinz- und Hochschulstadt. Nicht so der place to be. Viel mehr war das nicht.

Dieser zweite Absatz klingt für mich futuristisch, fast dystopisch, ja, es gibt schon seit ein paar Jahren Eizellen und Cryokonservierung - aber dann musste deine Prota da fünf Jahre ausharren und die Mutter war dann zu alt
1) die Mutter verglüht während der Schnee fällt (das weckt bei meinem Kopfkino: Dystopie!) und 2) du vom ersten und zweiten Teil der Geschichte sprichst - klar erst als Ei, dann als Kind, aber irgendwie erhoffe ich mir da etwas noch Tiefgehenderes.
Stimmt dann aber nicht, weil: 2010, BAfög und auch die Wilden Hühner, Eragon, das ist ja alles die Zeit in der ich gerade lebe. Das hat mich ein wenig verwirrt - oder auch enttäuscht.
Hier dann wieder ein Hinweis, dass die Geschichte irgendwie in der Zukunft spielen muss, wegen des Papiers - das nutzt man ja heute auch noch. Also muss Iona irgendwo in der Zukunft leben, zumindest passiert das in meinem Kopf wenn ich diesen Absatz lese.

Das "zu alt" ist vielleicht etwas verwirrend abgekürzt. Gemeint war, dass die Mutter zu alt war bzw. auf die eingefrorenen Eizellen zurückgreifen musste. Künstliche Befruchtung. Ich finde deine dystopische SF Lesart auf jeden Fall sehr spannend. Das steckt da irgendwo wirklich drin. Ich sehe, dass du irgendwie Bock gehabt hättest, dass sich das so entwickelt :D Finde ich irgendwie sympathisch. Bei mir sind es (zumindest in einem Teil meiner Storys) oft so Alltäglichkeiten, die halt auf eine eher subjektive, schräge Weise erzählt werden. Kann deine "Enttäuschung" bei der BAfög stelle in dem Sinne auf jeden Fall verstehen hehe. Hoffe, du wurdest vom Text irgendwie anders dafür entschädigt.

dann schneit es zum dritten Mal - für was ist dieser dritte Schnee ein Symbol?
Da könnte man eigentlich schon was draus machen. Ich weiss aber nicht, ob ich hier nicht wieder einfach zuviel interpretiere, aber für mich ist etwas, das sich wiederholt etwas Bedeutungsvolles, drei Mal ist die magische Zahl in Märchen und Legenden.

das sind auf jeden Fall sehr spannende Interpretationen und ja, da könnte man echt was draus machen. Vielleicht könnte ich hier auch etwas klarer werden. "Zum dritten Mal schneit es" ist einfach nur eine andere Bezeichnung dafür, dass die beiden jetzt seit 3 Jahren zusammen sind. Iona zählt nicht die Jahre, sondern den Schnee, weil das halt irgendwie ihr Ding ist mit dem Schnee. Mehr war das eigentlich nicht.

Dass der Vater jetzt Hummus statt Bouletten ist, nehme ich als ein Symbol dafür, dass er sich verändert hat, aber was genau diese Veränderung ist, das kann ich der Geschichte nicht entnehmen. Kannst du helfen?

Das stimmt. Das ist so eine Wendung, wie ich sie in einigen Geschichten gerne verwende. So verbunden mit der Frage: Was ist eigentlich nötig, um Veränderung in einem Menschen zu bewirken. Hier ist es wirklich äußerst subtil. Ionas Weggang scheint auf seltsame Weise mit der Veränderung beim Vater zu korellieren. Vielleicht war Iona eine Brücke in die Vergangenheit, die in gewisser Weise abgerissen ist, als sie nach Alaska ging. Die Bouletten haben ja vor allem eine Verbindung zu geliebten Personen in der Vergangenheit hergestellt. Aber eindeutig ist es nicht. Und wenn es eine Andeutung gibt, dann ist sie sehr subtil. Vielleicht zu sehr(?)

Lieben Gruß und noch einmal großen Dank für deinen schönen Leseeindruck.
Carlo

 

Lieber @Peeperkorn ,

meine Antwort wäre wahrscheinlich auch gut als PN aufgehoben. Aber weil es ja doch auch so tiefenschreibpsychologische (:Pfeif:) Phänomene sind, um die es hier geht, und die Kommentarleser ja auch alle mehr oder weniger bekannt, macht das keinen Unterschied. Die Antwort hat sehr gut getan. So eine Antwort, die gefühlt schwer zu haben ist, die man eigentlich gar nicht bekommen kann, es sei denn von einem selbst. Weil sie viel zu voraussetzungsreich ist. Aber da ist natürlich der Vorteil, dass wir uns hier alle schreibend und lesend ein Stück weit anders und darin manchmal sogar besser kennen (meine ich), als Leute, die uns privat viel näher stehen. Ich gehe mal etwas geordnet vor:

Da ich aber in und zwischen deinen Zeilen doch auch ein kleines bisschen Ratlosigkeit herauslese ("absichtlich Unkraut im eigenen Garten pflanzen" / "das einzig Interessante, das ich schreiben kann ..")

Ja, absolut.

Gefahr bewusst bin, dass ich damit alles nur noch schlimmer machen könnte

Bei aller Subjektivität widerspreche ich da sehr. Ich glaube, du hast mit deiner Einschätzung den Nagel auf den Kopf getroffen, was soll das schlimmer machen? Du hast ja nicht einmal Mutmaßungen darüber abgegeben, ob etwa das Schreiben zur Selbstvergewisserung jetzt per se etwas Schlechtes ist oder sogar etwas Gutes oder Selbstverständliches.

dass der gutgemeinte Rat nichts weiter ist als eine Spiegelung eigener Bedürfnisse, Erfahrungen und Schwierigkeiten

Das kann schon sein. Aber davon lebt es ja auch: Voneinander lernen.

Zunächst gilt es - glaube ich - ein Missverständis zu klären. Stringenz ist hier nicht das Problem. Ich finde diesen Text hier durchaus stringent und deine Schreibe hat sich meinem Eindruck nach diesbezüglich gut entwickelt. Was ich mit "Fleisch an den Knochen" meinte, hat in erster Linie eine quantitative Dimension

okay, jetzt hab ichs. Danke, dass du das nochmal geklärt hast.

Weiterschreiben.

Ich glaube, das ist ein sehr sinnvoller Rat :lol: ... Der im Übrigen auch die meisten anderen Fragen beim Schreiben beantwortet. Das meine ich kein Stück ironisch. Ich glaube, das ist einfach so.

Verpass mir eine virtuelle Ohrfeige, wenn das jetzt übergriffig

Ich finde es erstaunlich, dass du da so auf der Hut bist. Für mich kein Stück übergriffig.

aber ich gewinne hier den Eindruck, dass du diesen Text nur deshalb geschrieben hast, um dich deiner Schreibe zu vergewissern

Ja, absolut. Da liegst du richtig. Mittlerweile ist da auch diese leise Hoffnung, es könnte aus vielen solcher Texte auch eine interessante Serie oder Sammlung entstehen, weil es mittlerweile echt viele sind. Aber ich frage mich natürlich auch immer, ist das das Ziel? Sollte ich nicht zurück zum Roman? Aber da bin ich irgendwie so verdammt aufgeschmissen. Wie du schon schreibst: auf mich zurückgeworfen. Dazu gleich noch was.

Dabei hatte ich jeweils auch schon die eine oder den anderen Kritiker vor Augen, während ich noch am Text gearbeitet habe.

tut gut zu wissen, dass ich da nicht allein bin.

Ich glaube, das verengt den Blick. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass man so schreibt, wie es sich hier bewährt hat.

ja, das ist wahr. Auch da sehe ich das Positive zumindest darin, dass man sich ein Gefühl für sein Wunschpublikum ausbildet.

Und hey, was soll das? Ein Text für Zwischendurch? :D

Ja, nix :Pfeif:

Die Leser hier kommen zudem in Genuss eines schönen Textes und es wäre schade, gäbe es ihn nicht.

Das ist eine sehr schmeichelnde Art sich das zu erklären :D ich habe halt noch die Neuauflage des "Seine Passion (Leberwurst)" Textes, zu dem du seinerzeit meintest, man wisse schon, worauf der Text hinauslaufe – 'danke, dass ich jetzt eine knappe halbe Stunde einen Mann beim Sterben beobachten darf'. Ich weiß noch nicht, ob ich den nicht noch loswerden muss. Ob ich mich da zurückhalten kann, auch wenn wir schon festgestellt haben, dass es dieses Motiv der Selbstvergewisserung ist und das problematisch. Aber das vielleicht unter dem nächsten Stichwort:

Aber eine Versuchung ist in einer solchen Situation natürlich gegeben:

Versuchung beschreibt das sehr gut, finde ich. Weil es wie so eine Sucht oder Gier nach Bestätigung ist. Zugleich dieses Verlangen, das eigene Schaffen im Spiegel der anderen zu sehen. Das ist vielleicht auch die Falle so eines Austauschs hier – ungeachtet der zahlreichen und wunderbaren Vorzüge und Bekanntschaften, die die Arbeit in der Textwerkstatt bietet.

Mir hat es damals einen ziemlichen Kick gegeben, als zwei, drei Leute hier gesagt haben, jetzt mach mal einen Roman.

Und das hast du und das haben Bas und Morphin und viele andere ja auch zu mir gesagt.

Ich lese ausserhalb der Wortkrieger ausschliesslich längere Texte und der Roman stellt für mich halt immer noch das Ideal dar, sowohl als Leser als auch als Schreibender. Finde ich selbst etwas doof und eingeschränkt, aber so ist das nun mal.

Das habe ich als den ersten Knackpunkt deiner Antwort empfunden. Bei mir ist es tatsächlich so, dass ich über das Lesen von Texten des Open Mikes (gemeint ist natürlich der Wettbewerb) zur Kurzgeschichte bzw. Erzählung gekommen bin.

Ich glaube, dass du aber recht hast, wenn man das so sagen kann. Der Roman ist das Ideal. Ich bin nur manchmal echt feige, wenn es darum geht, mich ihm wieder zu widmen. Mir macht diese Dimension Angst. Und ich bin eigentlich kein Schisser.

. Ihn zu schreiben war dann aber unter anderem deshalb hart, weil ich auf mich selbst zurückgeworfen war und weder emotional noch technisch auf das Forum zurückgreifen konnte. Auch beim neuen fühlt es sich für mich beinahe beängstigend an, sodass ich manchmal denke, ach, ich schreibe mal wieder eine Kurzgeschichte, die ich hier einstelle.

das ist für mich der zweite Knackpunkt deiner Antwort. Es zeigt mir, dass das einfach genau die Schwierigkeit der Sache ist. Man erschließt sich ein unbekanntes und unwegsames Terrain. Ich hoffe und wünsche mir, dass ich da für mich Antworten finde. Deine Nachricht, die ja auch Unsicherheiten preisgibt, hat mir sehr gut getan. Natürlich ebenso als Selbstvergewisserung. Das wiederum bezeugt glaube ich, das man gut daran täte, sich seiner Selbstwirksamkeit durch Taten bewusst zu werden.

Penetranz meiner Rückmeldungen

Überhaupt nicht.

Nochmal vielen Dank für deine Nachricht und viele Grüße!
Carlo

 
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Guter @zigga ,

nochmal. Sorry, dass ich dich so lange hab warten lassen, hab ja schon erklärt :Pfeif:.
Über den Kommentar habe ich mich sehr gefreut. Er hat mich auch sprachlos zurückgelassen – danke auf jeden Fall für die positive Rückmeldung!

Ich habe das wirklich gerne gelesen. Warum? Ich hab keine Ahnung! :D

Hahah. Also, was soll ich sagen? Das freut mich natürlich sehr :-)

sie erzählt die Welt auf ihre Art und Weise, voller intensiven Eindrücken, teils auch - das ist meine Deutung - vielleicht irgendwo weit unten auf dem autistischen Spektrum ein wenig unterwegs - wir wissen es nicht.

Ja, das mag sein. Sie hat auf jeden Fall nicht den alltäglichen Blick auf die Dinge. Denkt irgendwie anders. Zugleich ist vieles ja auch nachvollziehbar. Sie erzählt das ja auch jemandem, der danach gefragt hat. Also einem Zuhörer oder Lesenden, der sie einfach mal erzählen lässt.

Ich weiß nicht genau, was ich hier gelesen habe, was die genaue Aussage des Textes, der Prämisse ist; auf der einen Seite fühlt sich das für mich ein wenig wie ein Nachteil des Textes an, gleichzeitig wie ein klarer Vorteil. Der Text wirbelt einen beim Lesen durch

Freut mich sehr, dass du das so siehst. Das ist entscheidend. Ich glaube auch, dass der Text viel offen lässt. Ein Stück weit ist das sicher ein Fragment. Prämisse ist für mich so ein gewisser (positiver) Nihilismus (in Ermangelung eines besseren Begriffs) (Edit: eher Kompatibilismus):
Deine Jugend wirst du durch irgendeine Normalität hindurchgepeitscht, egal, ob du passt oder nicht. Und dann kann es sein, dass die Dinge sich für dich ändern. Aber ob du es selbst warst oder die Umstände, kann nicht abschließend gesagt werden. Doch etwas Neues entwickelt sich.

Das ist jetzt natürlich keine vordergründige Prämisse, das erzählt der Text nicht vordergründig. Da erzählt der Text: Die Lebensumstände von Iona führen zu einer alaskischen Emigration. Ich glaube, weil der Text diese Lebensumstände aber für so wichtig und folgelogisch erklärt, eröffnet er einen großen Deutungsspielraum. Denn warum ist das alles denn so wichtig? Die Antwort die der Text gibt, ist eben dieser Nihilismus (Edit: Kompatibilismus). Positiv, weil er allen Figuren, die sich diesem Gesetz des Hindurchgepeitschtwerdens durch die Normalität beugen, ein (für sie) positives Schicksal zuschreibt (Edit: der Kompatibilismus gesteht ja auch einen freien Willen zu).

und ich spüre den Schlussakt des Textes, dass hier etwas fertig erzählt ist, ein Kapitel zuende ist bei deiner Prot. Das ist super und echt interessant, weil ich nicht in Worte fassen kann, wie der Text hier funktioniert, ich kann die Konstruktion dahinter nicht sehen. Aber der Text funktioniert.

Wie gesagt. Freut mich sehr, das zu hören. Vielleicht ticken wir da einfach ähnlich(?) bzw. vom Logischen in der Hinsicht.

Vielleicht auch das Überwinden ihres Traumas oder Kränkung oder wie man immer das nennen mag, eine künstliche Befruchtung gewesen zu sein. Das Motiv der extremen Kälte kommt ja öfters im Text auf: Fritz und Alaska, die Referenz auf John Greens Coming-of-age-Klassiker, Grönland, die vereist Landschaft, die Beschreibung des Schnees

Ja, das hat sich schnell als Motiv und als ein Kleber für diese Story herausgestellt. Die Idee für den 'Plot' war schon dieses: aus dem Eis zurück ins Eis. Das fand ich einfach ein seltsames, schön schräges Bild für jemandem wie Iona, der letztlich so ins Leben geworfen ist und scheinbar ziellos umhertreibt, bei dem sich dann aber doch alles – zumindest in Erzählzusammenhängen – verbindet bzw. eine Logik ergibt, auf die ihr Lebenswandel jetzt nicht unbedingt hingearbeitet hat, die eher zufällig und darin auch ironisch ist. So als würde jemand anderes eine Geschichte über dich erzählen. Oder als könntest du egal was tun und immer würde am Ende alles einen Sinn ergeben. Und du fragst dich, ob du das jetzt toll finden sollst.

Ich hab hier am Ende das Gefühl, dass sie mit diesem Hin und Her mit der Kälte das erste Mal durch ist und damit abschließt, als sie feststellt,
Es ist so eine Art Heldenreise, aus dem Eis des Reagenzglases über Umwege zurück zum Eis und zum Reagenzglas, um sich schließlich davon zu befreien.

Also, wo ich hier mitgehen würde, ist dieser Punkt, dass sich da etwas verändert hat. Aber ich finde eher, dass sie quasi aufhört, gegen irgendwelche Widerstände zu arbeiten. Sie versucht ja glücklich zu sein im weitesten Sinn bzw. normal. In dem Moment als sie beschließt, in Alaska zu bleiben, ahnt sie vielleicht dass es immer einen Ort gibt, an den sie gehört und dass dieses Geführtwerden auch etwas Beruhigendes hat, auch wenn es im Grunde nie wirklich sie selbst ist, die darüber entscheidet, was in ihrem Leben passiert, sondern eben Konstellationen und Umstände. Aber der Unterschied ist eben: sie ist eigentlich nicht passiv. Sie ist bis zuletzt aktiv.

Sehr Carlohaft diese Story! Finde ich gut, wie du an deinem eigenen Ding dran bist und einfach erzählst. Der Text hat eine Wirkung, und er macht satt.

Danke, Zigga. Das weiß ich sehr zu schätzen :-)

Vielen Dank für deinen sehr schönen Kommentar. Ein guter Abschluss erstmal auch für die gedankliche Textarbeit. Es gibt ja noch einige Dinge, die umgesetzt werden können.

Hab einen schönen Abend!
Carlo


Edit: @zigga

So. Nach kurzer Recherche bin ich auf den Kompatibilismus nach David Hume gestoßen. Ich glaube, das trifft es wesentlich besser als Nihilismus. Nihilismus ist ohnehin so ein Modebegriff und irgendwo ja auch schon ein Ausdruck von Coolness. Aber das meine ich gar nicht. Dieser Kompatibilismus, wie gesagt, trifft es.

 

Hallo @Carlo Zwei ,

du kannst echt sehr schön erzählen, ein gefälliger Fluss, von dem man sich gerne mitreißen lassen würde, doch es fehlt die Stromschnelle, die Spannung, ein Konflikt und es bleibt dann doch nur bei einem Aneinanderreihen von (persönlichen?) Erinnerungen, was echt schade ist, denn schreiben kannst du ja.

Beste Grüße
N.

 

Hallo @Nicolaijewitsch ,

danke für deinen Kommentar und für das Kompliment! Ja, das mit Spannung und Konflikt ist so die Sache. Für manche funktioniert das unter bestimmten Bedingungen auch ohne, das ist meine Erfahrung. Aber ich weiß, was du meinst. Es steht dann immer die Frage danach im Raum und sicher funktioniert es anders besser, wenn man beides unter einen Hut bekommt. Eine Reihung von Erinnerungen ist das im Mittelteil auf jeden Fall. Aber nicht persönlicher heheh.

Lieben Gruß und danke nochmal!
Carlo

 

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