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Alaska
Schnee ist laut, wenn es leise ist. Wenn es Nacht ist und kalt und nur ein bisschen Wind durchs Tal zieht, dann pfeift Schnee und weht und rieselt. In den schönsten aller Nächte ist er grün wie der Himmel und die Wipfel der Hemlocktannen. Es ist so still, dass die Schneewehe Spuren auf dem Trommelfell hinterlässt. Aus den gewölbten Fenstern meiner Hütte schaue ich hinauf und sehe die kreisenden Flüsse gelben und grünen Lichts. Meine Fingerkuppen streichen über die Rillen im Holz, lesen Splitter auf. Der Ofen zieht. Ich sehe das Grün und denke an Merseburg.
Die erste Hälfte der Geschichte begann damit, dass meine Mutter etwa zwanzig Eizellen einfrieren ließ. Sie war erfolgreich und allein, verdiente genug. Es ist, sagte sie, dass man hier entweder Karriere macht oder Kinder kriegt oder man ist Mann. Das sagte sie wohl drei Mal. Es war nicht ohne im Gefrierschrank. Fünf Jahre habe ich dort ausgeharrt und ich kann sagen: zum Glück war meine Mutter am Ende zu alt. Die zweite Hälfte der Geschichte lässt sich auf Jürgen, meinen Vater, herunterbrechen – der oft sagt, ich hätte ihn vollkommen gemacht, obwohl es sich ja eigentlich umgekehrt verhält. Meine Mutter starb an einer Sepsis. Sie verglühte, während draußen der Schnee fiel. Ich bin ein Winterkind.
Mein Vater und ich machten das gut. Ich in der Schule, er in der Redaktion. Er ist Journalist und aus einer Zeit, in der Menschen täglich Nachrichten aus Papier lasen, Hüte bastelten aus Papier, Schiffe, Verkleidungen für Töchter beim Fasching und was immer Töchter aus Papier haben wollten. Mein Name ist Iona. Das ist auch eine Insel in Schottland, die mein Vater als junger Mann besichtigte und als schönsten Ort der nördlichen Hemisphäre befand. Hätte er Alaska bereist, so würde ich stattdessen den Namen einer wilden, ausgefuchsten Jugendromanprotagonistin tragen.
Ich las Die Wilden Hühner, alles von John Green und die Eragon-Reihe. Außerdem interessierten mich Pflanzen, Tiere, Gebirge und das Wetter. Manchmal schloss ich mich einfach den Ritualen meines Vaters an: das Fahrradfahren, die Kinobesuche, die Bouletten mit Senf, die man halbiert und sparsam isst und die einen an Leute erinnern, die nicht mehr da sind. Meinen Opa zum Beispiel oder meine Mutter oder einen alten, verstorbenen Freund. Irgendwie hielten lauwarme Bouletten die Verbindung aufrecht.
Fritz war ein Typ in meinem Alter mit einem Namen aus einer anderen Zeit. Jedenfalls nicht Zweitausendzehn. Ich war einundzwanzig, studierte Biologie, erstes Fachsemester, Fritz dreiundzwanzig, irgendwas, viertes oder fünftes Fachsemester. Beide BAföG, Nebenjob, und bitte schnell fertig werden! Fritz las Zeitung über die Abonnements begüteter Kommilitonen und außerdem gebrauchte Reiseführer. Wir lernten uns beim ‚Sandwich-Büro‘ kennen, wo ich zwei Mal die Woche arbeitete. Er war gerade für ein Stipendium bestätigt worden und wollte daher ein Chicken-Majo-Sandwich. Ich riet ihm zu scharfer Soße, so kamen wir ins Gespräch. Bald schon aßen wir angeblich aus der Hand geglittene Sandwiches auf seinem Bett in der WG, bis das rauskam und ich noch mal so davon, aber nur um Gürkchenscheibenbreite.
Gerne folgte ich Fritz' Ritualen. Einen Reiseführer hatte er doppelt. Das war ‚Alaska‘. Ich dachte mir nichts dabei.
Fritz fragte nicht viel, vor allem nicht nach Dingen, die – wie er vielleicht annahm –, das Potenzial hatten, mich in Verlegenheit zu bringen. Deshalb erfuhr er nie, dass der Tag des Chicken-Majo-Sandwiches zugleich der Tag der Ersti-Party, des Caipirinhas und des bebrillten Typens mit den halb und vollständig geöffneten Pusteln und vor allem der Tag meines ersten Mals war. Wir fuhren bis an die Grenzen unserer Semestertickets und nahmen das Fahrrad mit. Ich mochte die Natur im Allgemeinen – nicht so sehr, dass sie hier, wie mein Vater das nennt, ‚Kulturlandschaft‘ ist. Damit meint er die alten und neuen Fabriken. Die Schlacke- und Abraumhalden, die strahlenden Pflaster und sauren Böden. Das ist nicht meins. Nie geworden.
So wie andere Leute mich als ‚echt nett‘ oder ‚richtig nett‘ bezeichneten, sagten sie über Fritz, er sei ‚lieb‘ beziehungsweise ‚zu lieb‘, meinten aber auch, dass er ein beneidenswert ‚reines Herz‘ habe. Sicher, das waren Vorurteile, aber ganz ließ sich unser Nett- und Liebsein nicht von der Hand weisen. Auf unseren mittlerweile wochenendlichen Ausflügen im Zug, nebst vorbeisausenden Landschaften und uns gegenüber, redeten wir über so manch fernes Land, über so manche Stadt und über kognitive Dissonanz. Das war etwas, das ich aufgeschnappt hatte und das mich nicht mehr losließ. Als läge eben in genau diesem Phänomen eine tiefere Erkenntnis verborgen, die sich mir an der Oberfläche schon darbot, aber vielleicht noch viel mehr für mich bereithielt.
„Also wenn sich etwas Neues nicht mit deinem Wissen über die Dinge vereinbaren lässt“, stellte Fritz fest und ich überlegte, ob das hinkommen mochte.
Vielleicht gab es in meinem Leben zu wenig kognitive Dissonanz. Alles erschien mir auf eine unvollkommene Weise bereits fertig zu sein.
„Die Kulturlandschaft“, sagte ich schließlich.
„Was ist das?“, fragte Fritz.
Ich deutete mit dem Zeigefinger auf die etwas langsamer im Hintergrund vorbeiziehenden Geröllpyramiden.
„Die Kulturlandschaft ist meine kognitive Dissonanz. Sagt man das so?“, fragte ich.
„Ich denke“, antwortete Fritz.
Fritz und ich verbrachten außerdem viel Zeit im Bett. Er half mir, die Wände ringsum grün zu streichen. Ein nicht zu dunkles Grün, ein leichtes, weiches Grün. Wie ein luftiger Schleier. Im Nachmittagslicht waren wir grün deshalb. Ich gewöhnte mich an diesen Anblick, an unsere grünen Körper. Abschottung wurde ein grünes Gefühl, der Duft, den Fritz auf meiner Haut hinterließ, wurde ein grüner Geruch. Die Sphäre außerhalb meiner vierzehn Quadratmeter wurde eine rötliche, entzündliche Umgebung. Die Wälder wurden immer grüner und die Kulturlandschaft immer entzündlicher. Die allgemeine Sättigung unserer Körper- und Netzhäute hatte uns zu empfindlichen Vampiren gemacht.
Ich zeigte Fritz auch das mit den lauwarmen Bouletten. Zwar hatte er niemanden, zu dem er nicht auch eine analoge Verbindung hätte aufbauen können, doch das Prinzip konnte er gut nachvollziehen und außerdem aß er einfach gerne Bouletten. Manchmal fütterten wir uns gegenseitig damit. Eine andere Möglichkeit, das Erlebnis herauszuzögern, bestand darin, die Boulettenstücke wie Bonbons zu lutschen. Das war Fritz' Idee. Er hatte fast immer gute Ideen, wenn es um Dinge ging, die ihn selbst nicht betrafen. Wie er aber die Lücke, die zwischen Merseburg, seinem Studium und seinen etlichen Sehnsuchtsorten klaffte, überbrücken wollte, das war für Fritz ein Reiseführer mit sieben Siegeln.
Es schneite zum dritten Mal und das Problem, das wie ein Sandkorn pikste und das man längst nicht mehr für eine im Entstehen befindliche Perle halten konnte, war Friedrichs Tendenz zu befürchten, er könne jederzeit durch jemanden oder etwas ersetzt werden. Geistig, physisch oder metaphysisch – etwa wenn wir Bouletten aßen. Gerade war er sechsundzwanzig geworden und beim Anblick immer neuer und unbekannter Gesichter in den Seminaren und Hörsälen begriff er – vielleicht zum ersten Mal –, dass die Dinge sich eines Tages oder schneller noch ändern konnten; dass sich der physische Körper im Gegensatz zur IP-Adresse stetig veränderte; dass er immer neue, fremdartigere Formen annahm und dass er sich bereits in einer Phase des Abbaus befand. Während Fritz und ich also aktuell noch auf einem Fest weilten, uns sozusagen gegenseitig mit Boulette versorgten, bauten andere andernorts bereits das Buffet ab. Ich schien die Richtige zu sein, aber war er der Richtige? War er auch der, der er sein sollte in seinem Alter, und wenn nicht, wie oft musste er denn noch ersetzt werden, bis er endlich bleiben durfte?
Ich empfand diese Gedanken als lähmend und orientierte mich deshalb neu, wodurch Fritz' Sorgen gewissermaßen zur selbsterfüllenden Prophezeiung wurden. Sein Name war Leo beziehungsweise Herr Dipl.-Biol. Matthiess. Kommilitoninnen und ich hielten ihn für eine ‚nicht-standardtypische Labormaus‘. Er war nicht furchtbar gutaussehend und redete nicht furchtbar eingebildet, was ihn beides auf seine Weise attraktiv machte. Einer auch, der mal mit dem Seminar was trinken ging. Und nicht zufälligerweise redeten dann nur wir beide die ganze Zeit miteinander. Über Badminton, ‚gutes Essen‘, den Marathon in Berlin und darüber, dass Flugzeuge wirklich mal boykottiert werden müssten. „Ja, total“, sagte ich oder „nee, das stimmt“ oder „stimmt, versteh ich“ oder einfach nur „ja“. Wir tranken Caipirinha natürlich und am Ende tauschten wir Nummern und trafen uns noch in derselben Nacht.
Fritz konnte ich das alles so erzählen und ich entschuldigte mich und weinte, aber mehr aus Erleichterung – während er nur so da saß, grün und mit versteinertem Gesicht. ‚Alaska‘ kannst du behalten, sagte er. Er sah mich nicht noch einmal an. Einmal erkundigte ich mich noch schriftlich nach einer offenen Beziehung, aber bekam nie eine Antwort zurück, nur diese Sprachnachricht eines Nachts. Betrunken, kaum verständlich, offenbar wütend. Ein anderer Fritz. Jahre später, als ich schon nicht mehr hier war, druckten sie sein Gesicht in der Zeitung ab. Mein Vater, der Fritz von einem gemeinsamen Essen kannte, schickte es mir sauber ausgeschnitten per Post zu. Er hatte sich scheinbar einer NGO angeschlossen, die eine kleine Wetterstation auf Grönland betrieb. Laut Interview wegen eines Traums mit schmelzenden Polkappen. Genauso gut aber, überlegte ich, konnte dieser Entschluss mit der Insel selbst oder den dort vorherrschenden Lichtverhältnissen zusammenhängen.
Wie ich bei einem Besuch bemerkte, hatte mein Vater sich dem Hummus verschrieben. Bouletten suchte man hier neuerdings vergeblich. Herr Dipl. Biol. Matthies , wie er seit jener Nacht wieder geheißen hatte, war mit einer kleinen Studiengruppe inklusive mir zu einer Reise nördlich des Yukons aufgebrochen, von der ich als einzige nicht wieder zurückkehrte. Als wir den Strom der gelben und grünen Lichter über den Hemlocktannen, das Knistern der Schneewehen nach drei gemeinsamen Wochen zusammen erlebten, da konnte ich auf einmal hören, wie laut diese Stille eigentlich war und wie schlecht außerdem. Es dauerte Wochen und Monate, bis das Echo ihrer Anwesenheit von diesem durch und durch grünen Ort verschwunden war, und weitere Jahre, bis ich die Kulturlandschaft vergessen und sie sich endgültig von meiner Netzhaut gelöst hatte. Jahrtausende, Jahrmillionen wird es dauern, bis Iona und Grönland sich einander annähern und bis das grüne Licht jeden Fleck dieser Erde einmal berührt haben wird.