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Ich danke Christophe, Sturek, Woltochinan und Friedel für ihre hilfreichen Kommentare. Mehrere Ereignisse hatten mir die Freude und Energie am Schreiben genommen. Jetzt habe ich einen ersten Schritt gewagt mit dieser kleinen Geschichte. Im zweiten Schritt will ich dann versuchen, Kommentare zu anderen Geschichten zu schreiben
Abschiedsfeier
Umgeben von hohen Tannen stand das Pflegeheim am Rand der kleinen Stadt. Hier geschah sehr wenig. Wer aus einem Fenster schaute, sah kleine Rasenflächen und Blumenbeete, dann aber dunkle Tannenwälder, vor denen die Siedlungshäuser des Ortes wie Spielzeug aussahen. Das interessanteste an der Aussicht waren Raubvögel, die über den Baumwipfeln schwebten und Ausschau nach Beute hielten.
Ich lebe seit einigen Jahren in dem Pflegeheim. Wie alle anderen Bewohner kann ich mich nicht mehr selbst versorgen und habe auch keine Angehörigen, die die Pflege leisten könnten. Wenn Sie einmal versucht haben, einen Menschen aus seinem Rollstuhl zu heben und in sein Bett zu legen, verstehen Sie, dass wir dankbar sind für die Schwestern und ihre technischen Hilfsmittel. In unserem kleinen Heim leben verschiedene Menschen mit verschiedenen Erkrankungen und Behinderungen. Aber sie sind meistens älter. Jüngere Bewohner sind nur ab und zu in Kurzzeitpflege hier.
Frau Walzer saß jeden Tag am Fenster in dem langen Gang, der alle Zimmer verband und schaute hinaus auf den dunklen Wald. Zu den Mahlzeiten kam sie spät, als ob sie sich von dem Blick nach draußen nicht losreißen konnte. Bei einem Spaziergang in den Gartenanlagen rund ums Heim oder bei einem der vielen Beschäftigungsangebote hatte ich sie noch nicht gesehen.
Wenn man den ganzen Tag nichts zu tun hat, kann das Leben schnell langweilig werden. Deshalb werden morgens und nachmittags verschiedene Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten. Die Bewohner können zur Gitarre singen oder Basteleien erstellen, die meistens an die jeweilige Jahreszeit angelehnt sind. Es gibt Möglichkeiten, für das Abendessen Toast Hawaii vorzubereiten oder einen Salt zu schneiden. Es gibt Gesprächskreise und Geschichtenerzähler. Am Sonntag wird ein Gottesdienst im Fernsehen übertragen. Aber nicht auf die Geräte in den Zimmern, sondern auf einen großen Bildschirm im Gruppenraum.
Ohne Anleitung gibt es kaum Gespräche und manchmal denke ich: "Was soll man sich auch erzählen, wenn man nichts erlebt." Kaum jemand spricht über seine Krankheiten und dass ein Bewohner unter Scherzen leidet, kann man vielleicht an seinem Gesicht sehen, aber geredet wird nicht. Zwischen Mahlzeiten und Beschäftigungsangeboten sitzen die meisten Bewohner nebeneinander auf dem Freiraum vor den Treppen - und schweigen miteinander.
"Das ist doch langweilig, den ganzen Tag da alleine zu sitzen und auf den Wald zu schauen", sagte ich an einem sonnigen Nachmittag bei dem gemeinsamen Kaffeetrinken zu Schwester Ulrike.
"Ich denke nicht", entgegnete sie leicht lächelnd, "sie schaut, ob ihre Tochter endlich kommt und sie nach Hause holt."
"Na ja", dachte ich, "Sie wird ja kaum wieder so gesund werden, dass sie in ihre alte Wohnung zurückziehen kann. Soll sie sich halt mit Warten die Zeit vertreiben."
Zwei Jahre nach ihrem Einzug in das Heim verstarb Frau Walzer friedlich in der Nacht. "Nun hat sie ihre Tochter verpasst", platzte ich heraus, als Schwester Ulrike mich anzog und dabei erzählte, dass Frau Walzer gerade gestorben sei.
"Aber gar nicht", entgegnete Schwester Ulrike, "ihre Tochter hat Frau Walzer nach Hause gebracht."
Ich habe wohl recht dumm geschaut, bis Schwester Ulrike fortfuhr: "Das wissen die wenigsten hier, dass die Tochter von Frau Walzer vor fünf Jahren gestorben ist, Seitdem hat Frau Walzer auf sie gewartet."
Bei der Abschiedsfeier sangen wir die fröhlichen Volkslieder, die Frau Walzer ebenso ausgesucht hatte wie den Namen "Abschiedsfeier". Auch ihren Nachruf, den die Heimleiterin verlas, hatte sie selber verfasst. Ihr war ja genügend Zeit geblieben, sich auf die Heimkehr vorzubereiten.
Seitdem überfällt mich in der Nacht immer mal die Frage "Bin ich darauf vorbereitet, Abschied zu nehmen? Und gibt es dann eine neue Heimat, zu der ich komme?" Aber ich verdränge diese Gedanken schnell wieder. "Was soll's, sterben müssen wir alle, also lasst uns das Leben froh genießen."