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Abschiedsfeier

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03.07.2004
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Abschiedsfeier

Leise wisperte der Wind in den Tannenzweigen. Aber das war hier im Heim nicht zu hören. Hier am Rande der kleinen Stadt geschah sehr wenig. Das interessanteste waren die Raubvögel die über den Baumwipfeln schwebten und Ausschau nach einem Mittagssnack hielten. Frau Walzer saß jeden Tag am Fenster und schaute hinaus.

"Das ist doch langweilig, den ganzen Tag da zu sitzen und in die Landschaft zu schauen", sagte ich an einem sonnigen Nachmittag zu Schwester Ulrike.

"Kaum", entgegnete Schwester Ulrike leicht lächelnd, "sie schaut, ob ihre Tochter endlich kommt und sie nach Hause holt."

"Na ja", dachte ich, "sie wird gewiss nicht mehr zurück können in ihre alte Wohnung. Aber soll sie sich halt so die Zeit vertreiben."

Es war zwei Jahre nach ihrem Einzug in das Heim, als Frau Walzer in der Nacht verstarb. "Nun hat sie ihre Tochter verpasst", war das Einzige was mir einfiel.

"Aber gar nicht", entgegnete Schwester Ulrike, "sie hat sie nach Hause gebracht."

Ich habe wohl sehr dumm geschaut, bis Schwester Ulrike fortfuhr: "Die Tochter von Frau Walzer ist vor zwei Jahren gestorben und seitdem hat Frau Walzer gewartet."

Bei der Abschiedsfeier sangen wir die fröhlichen Volkslieder, die Frau Walzer ebenso ausgesucht hatte wie den Titel. Auch ihren Lebenslauf, den die Heimleiterin verlas, hatte sie verfasst. Ihr war ja genügend Zeit geblieben, sich vorzubereiten.

 

Hallo @jobär,

ich habe deinen melancholischen kleinen Text gerne gelesen. In dieser Form handelt es sich eher um eine Anekdote als um eine Kurzgeschichte - im Grunde genommen lernt der:die Ich-Erzähler:in nur eine andere Lesart des Satzes "Sie wartet auf ihre Tochter".

Gleichzeitig hat diese Anekdote das Potenzial zu einer Kurzgeschichte - wenn sich etwas - evtl. der:die Protagonist:in selbst? - maßgeblich verändert. Wenn wir also z.B. erführen, was die Information, dass Frau Walzer auf ihre verstorbene Tochter, letztlich also auf den Tod, wartet, mit dem:der Protagonist:in macht, dann könnte daraus eine "ganze" Geschichte werden. So ist es ein schöner, melancholischer Schnappschuss.

So viel zum Text insgesamt, jetzt ein paar Details:

Leise wisperte der Wind in den Tannenzweigen. Aber das war hier im Heim nicht zu hören.
"Leise wispert der Wind" - ist Geschmackssache, ich würde es nicht machen. Zu nah an "Leise rieselt der Schnee" :D Und dann stellt sich die Frage: Wenn das im Heim nicht zu hören ist, warum erwähnst du es überhaupt? Welche Bedeutung hat es?


Das interessanteste waren die Raubvögel KOMMA die über den Baumwipfeln schwebten und Ausschau nach einem Mittagssnack hielten.
Das Wort "Mittagssnack" passt vom Ton her überhaupt nicht zum Rest des Textes, finde ich. Das hat so etwas Albernes.


"Nun hat sie ihre Tochter verpasst", war das Einzige KOMMA was mir einfiel.

Bei der Abschiedsfeier sangen wir die fröhlichen Volkslieder, die Frau Walzer ebenso ausgesucht hatte wie den Titel. Auch ihren Lebenslauf, den die Heimleiterin verlas, hatte sie verfasst. Ihr war ja genügend Zeit geblieben, sich vorzubereiten.
Welchen Titel?

Ist "Lebenslauf" hier das richtige Wort? Ein Lebenslauf ist ja in der Regel etwas sehr Nüchternes, Sachliches, auf das Wesentliche reduziert. Meinst du vielleicht einen Nachruf?

Der Text hat mir gefallen, @jobär. Ich bin selbst mehrmals pro Woche in einem Pflegeheim, vielleicht kommt er mir deshalb authentisch vor - ein Schnappschuss, eine Anekdote, die einen Aspekt des Alt-Seins einfängt. Aber: keine Kurzgeschichte, da keine richtige Entwicklung.

Viele Grüße!

Christophe

 

Hallo @jobär

Der Text hätte gut in die Rubrik „Flash Fiction“ gepasst. Für eine Kurzgeschichte ist mir hier der Plot zu sehr im Rudimentären steckengeblieben. Als Stimmungsbild funktioniert er meiner Meinung nach aber sehr gut: Leise Melancholie, die jede Rührseligkeit vermeidet. Hat mir insgesamt gefallen.

Hier noch Kleinigkeiten:

Leise wisperte der Wind in den Tannenzweigen. Aber das war hier im Heim nicht zu hören. Hier am Rande der kleinen Stadt geschah sehr wenig.
Gleich am Anfang bin ich gestolpert. Lautes Wispern ist schwer vorstellbar und außerdem: Wozu die Selbstverständlichkeit erwähnen, dass der Erzähler das Wispern der Tannenzweige im Heim nicht hört? Die ersten beiden Sätze könnten also komplett entfallen und stattdessen würde ich Frau Walzer gleich einführen, indem der Erzähler zum Beispiel ihrem Blick folgt und die Raubvögel beobachtet.

Es ist auch nicht klar, wer die Geschichte eigentlich erzählt. Vielleicht könntest du das mehr verdeutlichen. Ein Azubi, eine neue Pflegerin?

Das interessanteste waren die Raubvögel[ ]die über den Baumwipfeln schwebten und Ausschau nach einem Mittagssnack hielten.
Ein Komma fehlt.
"Aber gar nicht", entgegnete Schwester Ulrike, "sie hat sie nach Hause gebracht."
Missverständlich formuliert durch das doppelte „sie“. Dabei ist gerade diese Stelle doch wichtig für den Text. „Ihre Tochter hat sie nach Hause geholt." So würdest du auch den Bezug zum Anfang besser herstellen.

Grüße
Sturek

 

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