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- 17.07.2004
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Abends
An einem Samstag im Mai beginnt es zu regnen. An einem dunklen Samstagnachmittag im Mai starren ihre Augen hinaus in eine düstere Wolkenwelt. An einem feigen Samstag im Mai klingelt das Telefon nicht und ein Brief bleibt unversendet. An einem stummen Samstag im Mai ist sie allein, und sonntags bricht die Verzweiflung mit dem Morgengrauen herein, ein Gefühl schlägt hundertmal zu, dann geht es widerwillig, es schleift sie durch eine dunkle Wüste, dann ist sie endlich allein, sie will ihm nachschreien, Ihr verlogenen Stunden, aber sie schreit stumm, am Ende verlaßt Ihr mich doch. Doch nicht die Stunden, sondern ihr Freund hat sie umarmt, um sie nie wieder zu umarmen, an einem Samstagabend. Eine Leere ist in ihrem Kopf, und ein Satz: bevor es abend war, war alles besser.
Seit es so ist, wie es ist, zählt sie widerwillig die Stunden, jene Stunden die vergehen, ohne daß das Gefühl von Abschied vergeht, jene Stunden die sich ewig dahinwälzen und wiederholen, die nie enden und immer die gleichen Namen tragen, die nicht zweifeln an ihrer Existenz, während sie zweifelt an ihrer Existenz. Sie verläßt das Haus am Montagmorgen um acht, sie geht in die Arbeit, sie arbeitet acht Stunden, sie kommt nach Hause, es ist dann fünf oder sechs oder sieben Uhr, es spielt keine Rolle, es bleiben ein paar Stunden, bis alles sich wiederholt, alles von vorne. Sie schreibt sich Notizen, sie macht sich Vorsätze, was zu unternehmen sei, sie macht das am Tag, wenn alles in Ordnung scheint, dann, wenn sie abends ankommt in ihrer stillen grauen Wohnung, ist alles ganz anders als sie es geahnt hatte, es scheint ihr sinnlos, ihr Kopf ist wieder leer, sie nimmt sich einen Stuhl, sie setzt sich in die Mitte des Raumes, sie starrt stundenlang auf die Wand vor sich, sie betrachtet ihren Schatten und starrt auf ihren krummen Körper, auf ihre hilflosen Hände, die nichts ändern können, sie weiß das, auf ihre schmalen Finger, jene, die ihn nicht mehr berühren, ihn nicht mehr halten können, sie steht unruhig auf, sie geht herum und zum Fenster, blickt hinaus, sie sieht nichts, sie denkt an die Jahre, sie weiß nicht mehr, wie es ist, da draußen, wie es sein könnte, sie denkt, es war alles ganz anders, bevor es Abend war, heute, und damals, und niemals.
Manchmal denkt sie: mein Leben findet jetzt statt, bevor es Abend wird, aber sie weiß, es findet niemals statt, und dann packt sie ihr Herz in einen Tresor und schwimmt durch ein knarrendes Geäst von Menschen und Worten, sie taucht dann in Farben und Geräusche, sie begegnet Freunden und Ideen, Fremden und Neuen, sie denkt nicht an ihn und nicht an die Telefonate und nicht an das danach. Sie lebt und liebt und fühlt und atmet und schwebt in einem Traum, doch die Uhr schlägt, und die Sonne geht unter, und sie flüchtet sich wie eine stolpernde Märchenfigur von allen Menschen, als vergehe ein Zauber, eine bleierne Traurigkeit legt sich um ihr Herz, sie versteinert. Als Kind lief sie durch Blumenwiesen den Sonnenstrahlen und nahenden Sommern entgegen, in dunklen Nächten standen Sterne klar und hell über ihrem Fenster, später hatte sie viele Freunde, aber keine Ahnung von Freundschaft. Heute sind es weniger Freunde, denkt sie. Heute sind es weniger Menschen. An einem Mittwochabend dreht sich auf der Straße ein Mann nach ihr um, er ist älter als sie, er fragt "darf ich Sie irgendwann zu einem Kaffee einladen?" Sie zögert und antwortet, "vielleicht, aber nicht am Abend", und er schaut sie an, unverschämt, meint, "ach so, verheiratet?" Sie lächelt, und weiß nicht recht und ohne ihn anzusehen nickt sie und geht, sehr schnell.
Alles verblaßt an jenen Abenden, an denen sie am Fenster steht, und niemanden kennt, und niemand sie kennt, und sie denkt an jene Freundschaften, und weiß, daß Freundschaften enden. Die Regentropfen knistern und sie erwägt ein Gespräch unter Gleichen und sie öffnet das Fenster. Alles steht still, wie ihr gerader Rücken und ihr trotziger Mund still stehen und ihre festen Hände, die den Fenstersims umklammern, nicht zum ersten Mal an diesem Tag, in dieser Woche. Wieso verschwindet alles, fragt sie sich, wohin gehen alle, wenn die Zeiger der Uhren sich drehen und sich die Gespräche entfernen, wenn sie selbst und all die Menschen in die Züge und Autos steigen und wegfahren, weiß Gott wohin, und sie tagein und tagaus ihre stumme Wohnung betritt während andere Menschen stumme Wohnungen betreten? Niemand ruft an, niemand scheint zu existieren, sie findet keine Antworten, bald füllt eine summende Stille ihr Gehör, bald steht sie allein im Raum, bald ist ihr Kopf wieder leer. Das Klavier spielt einen Ton, der Ton klingt hohl und unaufrichtig, sie fühlt sich wie der Ton, verlogen und falsch, im Kino läuft ein Film, gelangweilte Seelen schütten süßes Popcorn in ihre Münder, der Film, mit drei Oscars ausgezeichnet, sie haßt ihn. Abends, wiederholt sie in Gedanken, abends ist alles trostlos, abends glänzt nur der Belag auf der Straße hell.
An einem Mittwoch im Juni trifft sie eines abends einen Menschen, es passiert etwas, sie weiß nicht wieso, abends passiert nie etwas, es kommt ihr seltsam vor, aber dennoch passiert etwas, nach Wochen trifft sie so einen Menschen, wie sie ihn nicht treffen kann, weil sie ihn verloren hat. Eines Tages fragt der Mensch "was machst du morgen abend?", und sie antwortet zögerlich, "nichts, glaube ich". Sie schreibt sich Notizen, sie macht sich Vorsätze, um viertel nach sechs klingelt ein Telefon, eine seltsame Sache, denkt sie. Jemand fragt "wie geht es dir?", sie sagt "nachmittags war es besser". Sie steht am Fenster, die Stimme sagt "ich komme vorbei, ich bin gleich bei dir", sie antwortet nicht, sie hört es kaum. Dann schließt sie das Fenster, sie wartet, es klingelt, irgendwann geht eine Tür auf, eine seltsame Sache, denkt sie, eine Tür in meinem Zimmer, hier im siebten Stock. Der Mensch steht da, es ist ihr peinlich, und dann doch nicht, er sagt "hallo" und "ich hab dir was mitgebracht", in seiner Hand hält er einen Strauß Blumen, er schaut sie etwas besorgt an, sie sieht ihn an, sie will nichts sagen, sie hat keine Antworten, sie lächelt und hofft stumm, sie hofft, er bleibt für immer.