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Thema des Monats 2042. Zapp.

Seniors
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15.04.2002
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2042. Zapp.

Einblendung (Laufschrift unten): nNet live aus Duisburg.
Einblendung (Laufschrift oben): Morgen 20:15 Frauenfußball Polen – Island live und exklusiv.

»Und wieder brennen tausend Kerzen«, dröhnt die Stimme des Pfarrers. Ihn fixieren Legionen Augenpaare, ihn illuminiert flackender, oranger Feuerschein, voll Wärme - visuelle Symbolik der Hoffnung. Eine Frau heult.
Tränen einer Mutter, nicht inszeniert, obwohl der MobileCamMan von nNet voll auf sie hält. Er leckt sich über die Lippen. Es ist das perfekte Bild: Im Hintergrund schwenkt jemand ein Transparent, leuchtende Laufschrift, weiß auf blau, darüber die schützende Hand, Symbol der Bewegung.
Der Pfarrer, Kehlkopfmikro, Verstärker mit Klangfilter, hebt die Brauen. »Gott ist mit uns. Der Tag der Befreiung ist da. Amen.«
»Aaaammmmeeeennnn.« Unzählige Kehlen singen, weinen. Musik in Gottes Ohren, so er denn zuhört. Die wenigsten glauben das, sie sind trotzdem hier. Forderungen ohne Lautstärke, ohne Nachdruck, können keinen Erfolg haben, egal ob der Empfänger Gott oder Kanzler heißt.
Der CamMan hält der Frau ein Mikrofon mit nNet-Logo vors Gesicht. »Demo sieben Tage die Woche, und jetzt endlich am Ziel?«
Die Frau schluchzt. Die Kamera zoomt auf ihre Augen. Sie springen hin und her, zwischen der Kamera, dem Mann, dem Mikro. »Timmy. Mein Sohn heißt Timmy.«
»Ja«, plappert der Mann, »eines von über tausend Kindern im Bildungsheim. Der Staat nimmt den unfähigen Eltern die Kinder weg, damit sie was lernen. Heute hat der Kanzler nachgegeben, die Kinder kommen frei. Glauben Sie, dass die Dauerdemo das bewirkt hat?«
»Mein Name ist ... Karin«, bringt die Frau hervor. »Karin Engelhard.« Sie wischt sich Nässe von den Wangen, Blockaden hinweg. »Ich ... wir sind nicht unfähig.«
Der Bildausschnitt vergrößert sich. Ihre Mundwinkel zucken. Der Fernsehmann, die Polemik. Timmy. Vor drei Tagen noch kam das monatliche Protokoll. Mathe Eins, Physik Zwei. Sie ist stolz auf ihren Sohn. Und er gehört zu seiner Mutter. Das spricht sie ins Mikro.
Der MobileCamMan seufzt, hält die Cam auf sich selbst. »Das war Karl Ali, live vom Bildungswerk Alt-Thyssen in Duisburg, für nNet. Kurz zurück zur Werbung.« Er schaltet ab.
»Der Kanzler ist ein weicher Furz«, sagt Karl Ali laut.
Ein junger Mann schiebt die schluchzende Frau beiseite, keift den CamMan an: »Verpiss dich.«
»Ja, shit, das isses, genau das isses!« Ali bohrt dem Mann seinen Zeigefinger in die Brust und den Blick schwarzer Augen ins Gehirn. »Ohne die Dauerdemo hier verlier ich meinen Job, klar?«
»Es wird Zeit, dass Ruhe und Frieden ...«
»Scheiß auf Ruhe und Frieden, will keiner sehen!« Ali winkt ab und hantiert an seiner Cam.
Die Rufe der Leute werden lauter. Jemand schreit wie bei einer Teenie-Band. Es gibt Bewegung in der Nähe des großen Tors. Wellen der Begeisterung spülen die Menschen an ihr Ziel.
»Sie lassen sie raus! Sie lassen sie raus! Sie lassen sie raus! Sie lassen sie raus! Sie lassen sie raus!«, kreischt eine Frau, dann fällt sie in Ohnmacht. »Sanitäter!«, schreit jemand. »Scheiße!«
»Hier ist Karl Ali für nNet, live vom Bildungswerk Alt-Thyssen. Gerade werden hier die Tore geöffnet und die Kinder zu ihren Eltern gelassen. Frauen weinen, die Demo hatte Erfolg. Endlich hat der Kanzler dem Begehren der gequälten Eltern nachgegeben ...«

Zapp

Henrik kratzt sich am Kopf. Legt die uralte Fernbedienung aufs Sofa. »Siehste, Nina? Nu sindse de Kinders auch in Duisburg raus.«
»Holste Burger?«, ruft Nina aus der Küche. Teller klappern, die Tür des Geschirrspülers quietscht.
»Scheiße«, murmelt Henrik. Kann den Blick nicht vom Plasma abwenden. Ein paar dicke Mädels balgen sich in einem Trog voll Schlamm. Man kann nicht erkennen, ob sie Bikinis tragen oder nichts.
»Wilhelm tut sicher Hunger ham«, tönt Nina. Kühlschrank: auf und zu. Ploppen und Zischen, eine Bierflasche. »Im Heim da tuter doch nix richtges kriegt ham. Wir solln ihn verwöhnen, jetzt wo wieder da is!«
»Scheiße«, wiederholt Henrik. Grinst. Von oben kommt mehr Schlamm. Mädchen-Kreischen wird übertönt vom Johlen und Trampeln der Zuschauer. Als säßen sie neben ihm.
»Henrik?« Er sieht kurz auf. Nina steht da, Blick auf dem Plasma. »Hihi«, kichert sie. Fällt aufs Sofa, nimmt einen Schluck, gluckst, reicht ihm die Flasche.
»Ja, gleich.«
Das Bild wechselt.
»Mist, Werbung.«

Zapp

Im Heim haben sie andere Spiele gehabt. Bunte Plättchen, die man auf bestimmte Weise aneinander legen muss, damit alle aufs Spielbrett passen. Andere Plättchen waren mit Zahlen und Buchstaben versehen, das war schwieriger.
Manchmal haben sie zusammen Geschichten erfunden. Wilhelm denkt an Fritz, in dessen Erzählungen fast immer die Jupitermonde vogekommen sind. Manchmal als Namen von Leuten, manchmal als Fußballnationalmannschaften, die gegeneinander spielen. Io gegen Europa 3:1.
Es macht keinen Spaß, Geschichten zu erfinden, denen keiner zuhört. Wilhelm liegt auf dem Bauch, links vor ihm Bonbons, rechts eine große Packung Schokoküsse. »Endlich bisse wieder da«, hat Mama gesagt, und »spiel schön«.
Wilhelm spielt.
Er weiß nicht genau, wie das Game heißt, das Papa ihm geschenkt hat. Er steuert einen Mann mit einem Gewehr durch Gassen, in denen es ein bisschen wie an der Münchnerstraße aussieht, zwei Ecken von hier. Es gibt keine Kinder in dieser Stadt, nur Erwachsene mit breiten, verrotteten Gesichtern. Wenn man alle erschossen hat, darf man in die nächste Stadt.
Peng. Peng.
Wilhelm lutscht ein Bonbon.

Zapp.

Thema des Monats April 2006: "2042 (Social Fiction)"

 

Leider kann man die Eltern nicht so bevormunden wie die Kinder.
Ja, der Moralfinger steckt ziemlich tief im Hintern der Unmoralischen, aber da gehört er hin.

 

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