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16:12, Gleis 7

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16:12, Gleis 7

Die Bahnhofshalle war voll Menschen, die teils standen und warteten, teils sich von allen Seiten her gegeneinander bewegten. Es war mühsam zu überblicken, wer hier irgendwo ging mit seinem bisschen Gepäck, wer an einem der Bäckerläden in der Schlange stand. Ich war mir nicht völlig sicher, entschied mich aber für die Annahme, dass Nayla noch nicht da war.
Ich hatte mich beeilt und war keinesfalls zu spät. Am günstigsten war es, sich unauffällig zu positionieren und zu beobachten. Der internationale Zeitungsständer im Bücherkiosk bot den doppelten Vorteil, dass von hier aus genau der Raum einsehbar war, der von allen Geschäften der Halle am weitesten in die Tiefe reichte und noch dazu durch die Anordnung der Regale etwas Verwinkeltes an sich hatte, während zugleich, hier direkt beim Ladeneingang, der Blick in die Halle frei blieb.
Trotz des entgegenlaufenden Stroms derer, die ankamen und derer, die abreisten, taten sich immer wieder Lücken auf, so dass ich bis zur gegenüberliegenden Seite sehen konnte, und da diese Lücken wanderten, rechnete ich mir aus, dass ich inzwischen jeden gesehen haben dürfte, der sich in der Halle nicht weit von der Stelle bewegte. Das bedeutete, dass ich die Wahrscheinlichkeit, Nayla grob zu verpassen, immerhin für begrenzt halten durfte. Wenn sie hier war, sprach mehr dafür als dagegen, dass ich sie sah. Bis zur Abfahrt ihres Zuges blieb noch beinahe eine halbe Stunde Zeit, am Gleis wartete sie so lange sicher nicht. Die bestehende Lage hatte ich demnach im Griff.

Im Buchladen selbst, das wäre natürlich der Trumpf gewesen, sah ich sie gleichfalls nicht.
In dem Fall hätte ich jedenfalls einen Plan gehabt, was zu tun war. Ich hätte dann, zum Beweis, dass ich aus Gründen hier war, die mit Nayla gar nichts zu tun hatten, eine Diplo aus dem Ständer genommen, wäre damit in der Hand auf sie zugegangen, so dass wir uns nicht nur einfach im Vorbeigehen begegneten, was normalerweise ja die Schwierigkeit mit sich brachte, etwas zu finden, womit ich sie sie nach kurzem Gruß auf irgendeine Art bei mir festhalten konnte. Hier im Buchladen dagegen konnten wir uns unmittelbar unterhalten über das, was wir in den Händen hielten.
Im Buchladen war sie aber nun mal nicht, in den Schlangen der Bäckerläden oder Fast-Food-Ketten ringsum stand sie auch nicht.
Ich musst mich langsam fragen, was ich mir überhaupt davon versprach, sie hier zu treffen. Je weniger Zeit blieb, desto unergiebiger wäre unsere Begegnung ohnehin. Freundlich anlächeln, wenn es nur das war, konnte sie mich auch am Montag auf den Klinikfluren wieder.

Es fühlte sich unbefriedigend an. Als wäre ich gekommen, jemand Wichtiges zu sehen, den Papst oder die Queen oder wenigstens Udo Lindenberg, und dann wäre unversehens die Route geändert worden, und ich stand sinnlos da und wusste nicht Bescheid.

Es gab Möglichkeiten, etwas zu tun. Falls Nayla wirklich diesen Zug nahm, war es das Einfachste, auf den Bahnsteig zu gehen. Der Gedanke war naheliegend. Strategisch günstig war es, ihn dabei nicht gleich ganz ernst zu nehmen, damit er mich nicht erschreckte.
Ich verließ meinen Posten und überprüfte am aushängenden Fahrplan nochmal die Abfahrtszeit und das Gleis. Es blieb dabei, am Nachmittag gab es nur diesen einen durchgehenden Zug, das wusste ich längst, darauf hatte ich schließlich alles ausgerichtet, sonst wäre ich nicht jetzt schon hier. Vielleicht nahm sie ihn gar nicht, konnte schon sein, aber das Kriterium war plausibel, jedenfalls der best bet, nach allem, was sich sagen konnte.
Ich schaute ständig auf die Uhr, jetzt blieben bis zur Abfahrt kaum mehr als zehn Minuten, Nayla konnte inzwischen durchaus am Bahnsteig sein, und wenn nicht, würde sie bald kommen.
Ich musste nur die Treppen hoch, der Weg stand offen.

Wenn mich niemand dazu zwang, würde ich Nayla nie etwas von meinen Gefühlen verraten, das war mir klar. Einfach so würde ich Nayla niemals etwas sagen, da war es immer leichter, das aufzuschieben, es gab nichts, was je einen Moment heraushob, der unbedingt genutzt werden musste, warum nicht lieber morgen, so würde ich jedes Mal wieder denken, das wusste ich, das hatte ich schon mehrfach erlebt, das kannte ich von mir. Sollte ich sie da bei uns in der Klinik auf dem Hof anhalten, wenn wir uns sahen, einfach anhalten, wenn hoffentlich gerade niemand dabei war, und dann so: Was ich noch sagen wollte – Ja? – Ich liebe dich. Das war absurd.
Ich hatte jetzt die Möglichkeit, diesen Zwang selbst herbeizuführen. Es erschien mir nicht einmal unmöglich, dass ich den Mut fand, mich selbst zu überlisten, indem ich einen Schritt tat, der für sich genommen ganz unscheinbar war. Ich musste nur diese Treppen zum Gleis hochgehen. Das weitere wäre unausweichlich und hing nicht mehr von mir ab. Schüchtern zu sein war dann keine Option mehr.
Sie würde mich sehen. Dann würde sie fragen. Und dann musste ich reden.
Ich fahre doch zu meinen Eltern, würde ich sagen können, das wäre ein Anfang.
Alles klar, würde sie sagen, aber du nimmst doch wohl nicht diesen Zug?
Und dann wäre ich wieder dran, schweigen wäre unmöglich, und da das Gespräch im Gang war, würden sich weitere Worte auch leichter finden, und das ging nicht, ohne mich zu erklären, was suchte ich sonst da oben auf ihrem Bahnsteig. Ich wollte dich noch mal sehen wäre das Mindeste, womit ich herausrücken musste.
Und dann fielen wir uns irgendwie in die Arme. Oder nahmen uns erst mal an den Händen. Oder schauten uns nur lange in die Augen und strahlten uns an.
An die Möglichkeit einer dieser Lösungen musste ich glauben, sonst hätte ich es lassen können.
Ich rief mir in Erinnerung, was dieser Brasilianer im Krankenhaus so unvermittelt gesagt hatte, als ich das erste Mal in sein Zimmer kam, stellte es ganz groß vor mich hin: Was sind sie hübsch, hatte er gesagt. Wenn das stimmte, war das eine Art Legitimation, das hieß doch wenigstens, dass es nicht völlig vermessen war, für denkbar zu halten, dass ich Nayla gefiel.
Und wenn sie etwas anderes sagte, wenn sie sagte, was willst du von mir, sinngemäß, dann war es natürlich schlimm, aber wenigstens war es dann heraus.

Noch befand ich mich in der Wartehalle, ich ging langsam, schaute in die Schaufenster, schlenderte gemächlich, was sonst nicht meine Art war, ich war gar nicht gut im langsam Gehen. Noch hatte ich alle Wege offen, aber ich spürte, dass ich mich traute, dass die Entscheidung eigentlich gefallen war. Die Sorge, ob ich gleich sehr glücklich oder sehr unglücklich sein würde, verließ mich. Ich hatte mit ganz konkreten, näherliegenden Dingen zu tun, ich musste den Herzschlag kontrollieren, den Atem. Ich musste mich darauf vorbereiten, wie ich die allernächsten Augenblicke meistern würde, was danach kam, rückte weit weg. Ich ging gegen einen Widerstand, es kostete Überwindung, wirklich den Schritt auf die Treppenstufen hoch zum Gleis zu tun, aber dann war ich auf dem Weg nach oben, jetzt würde ich nicht mehr umdrehen.

Der Bahnsteig war fast leer. Ich schaute in beide Richtungen. Ich ging ein paar Schritte. Ich lief bis ans Ende, bis dorthin, wo das Überdach endete, vorbei an Männern in haselnussfarbenen Jacken, die unbeweglich standen, ging bis zu dem gelben Schild mit dem Männchen und seinen ausgebreiteten Armen, an dem man nicht vorbeikam, und dann wieder zurück, auf das andere Ende zu. Ungefähr in der Mitte hielt ich an, schaute ein weiteres Mal in beide Richtungen, atmete mehrmals tief durch.
Langsam kamen die Leute von unten herauf, aber noch nicht so viele, dass ich die Übersicht verlor, ein Mann kam mir entgegen, viel größer und breiter als ich, der einen winzigen Rollkoffer zog, ein Mädchen mit Earpads, das war blond.

Plötzlich ergriff mich die Angst, ertappt zu werden. Sie kroch mir von unten her in den Körper, von den Füßen her, ich stand weich und wackelig. Es war ja auch sowieso fast keine Zeit mehr, gleich würde diese Ansage kommen, Einfahrt des Zuges undsoweiter, es war vorbei. An der zweiten Treppe ging ich nach unten. Ich rannte die Stufen hinunter, um nicht jetzt doch noch auf Nayla zu stoßen, jetzt, wo es nur noch peinlich sein konnte, ging unten hastig erst ein paar Schritte in die andere Richtung auf den hinteren Ausgang zu, in Sicherheit, und dann mit dem Strom der anderen Menschen wieder zurück auf die Haupthalle zu.

Ich bemerkte sie erst, als wir fast zusammenstießen. In der Menschenmenge waren wir aufeinander zugelaufen.
„Hey“, sagte sie. Sie hob die Hände, deutete mit beiden Zeigefingern auf mich, die Arme eng angewinkelt, so nah, wie sie vor mir stand, und tippte mehrmals kurz gegen meine beiden Schultern. „Was machst du denn hier.“
„Ja“, sagte ich, „ich fahr jetzt halt doch zu meinen Eltern.“
„Ich fahr zu meinem Vater.“
Ich nickte. Das wusste ich, sie hatte es mir gesagt.
„Ja“, sagte sie. Sie schaute auf ihr iPhone. „Also. Mein Zug geht jetzt gleich.“
Sie hielt das iPhone vor sich hin, schaute aber nicht aufs Display, sondern mich an mit halboffenem Mund, als wartete sie noch auf irgendwas, das ihr zu sagen einfallen konnte.
Mir fiel auch nichts ein.
„Hm, ja, also dann,“ sagte ich.
„Dann also ciao“, sagte sie.
Ich nickte wieder. „Ja, ciao dann mal.“
Sie winkte noch einmal. „Schönes Wochenende“, rief sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mich im Gedränge, das sich bereits zwischen uns schob, etwas besser zu sehen.

 

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