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13.12.2003 – Ein Dossier
13.12.2003 - Ein Dossier
Mein Laptop schlug siebzigstimmig an - eine Melodie, die traumschön war, aber einen unruhigen Samstag Abend bedeutete.
Ich seufzte und entließ Monsieur Mephisto, meinen schneeweißen Perser, von meinem Schoss. Er trollte sich- was mich nicht wunderte - katzengleich unter die antike Anrichte und ich schritt hinüber zu meinem nur scheckkartendünnem, aber unfassbar leistungsfähigen Sony- Laptop, dessen Kühler bereits in Vorfreude auf das Klimatisieren von mir zu knechtender Prozessoren harrte.
Das kleine Chat- Fenster pulsierte, und ich sah, dass sich die üblichen Typen eingefunden hatten.
Ich loggte mich mit meinem Chat- Namen ein und begrüßte die Anwesenden.
The Author formaly known as Jack Torrance: Tach zusammen.
Grass: Eine Zusammenkunft findet statt. Sehen Sie sich bitte diese Bilder an.
Mankell: Ja. Nur Sie können herausfinden, ob der schlimmste anzunehmende Zufall stattfindet.
Der Mediaplayer zeigte mir ein schlecht ausgeleuchtetes Filmchen über eine verrauchte Kaschemme. Ein großer Tisch, einige noch leere Stühle. Nichts besonderes, alles in allem.
Süskind: Das wirkt nur so harmlos! In Kürze werden sich einige... Sie wissen schon... zusammenrotten.
The Author formaly known as Jack Torrance: Ich hab mir Filme geliehen, Leute. Muss das sein?
Grass: Ist es ihnen lieber, wenn wir Gnoebel konsultieren?
The Author formaly known as Jack Torrance: Schon gut. Immer friedlich bleiben!
Süskind: Sind Sie Willens oder nicht?
The Author formaly known as Jack Torrance: Herrgottnochmal ja.
Mankell: Dann erwarten wir Ihren Bericht gegen fünf Uhr früh.
Ich klappte den Deckel des Computers herunter.
Kasperletheater!
Wähnte ich mich noch vor zwanzig Minuten in der Situation, mit einer Tafel Ritter Sport und einem Cherry mein Double- Feature von »Godzilla« und »Der englische Patient« anzugehen,
musst ich nun alle Register meines Könnens ziehen: Maskierung und Infiltration in Vollendung, damit die Herren Schriftsteller sich nicht wie Hemingway eine Kugel in ihre Großverdienerbirnen jagten.
Meine Laune verschlechterte sich von Minute zu Minute.
Grass, dieses Angstgespenst in seinen Jutestrickjacken - ich dachte eigentlich, wer telefonbuchdicke Wälzer über trommelnde Zwerge und Süßwasserfische schreiben kann, wäre etwas entspannter.
Bei Süskind konnte ich das schon eher verstehen: Gerüchteweise legten Apotheker Kunden mit Schlafstörungen »Der Kontrabass« oben drauf, wenn sie die 500er-Packung Baldrian Dispert kauften.
Und »Das Parfüm« ging auch nur noch in Douglas-Filialen.
Mankell war einfach nur vorsichtig, schätze ich.
Trotzdem stank es mir, in den eigenen Reihen zu ermitteln, aber ich brauchte meine Gage, verdammt.
Mein Ibiza beschleunigte schnurrend, als ich auf die A44 schnellte.
»Düsseldorf«, murmelte ich in die Betaversion meiner noch geheimen Navigation, und die deutsche Synchronstimme von Jodie Foster flötete mir Entfernung, Benzinverbrauch, Seitenabstand zu den Leitplanken und meine verbleibende geschätzte Lebensdauer auf Grundlage der Wärmeabgabe meines Hinterns an die Betaversion meines neuen Sitzes ins Ohr.
Neben mir im Fußraum stand der Koffer: handgebürstetes Aluminium, gefüllt mit verschiedenen Kleidungsstücken und Latexteilen, die meine Verwandlung perfekt machen würden.
»Fuck«, murmelte ich, als mir einfiel, dass ich Relysium warnen musste.
Ich drückte eine Taste, und er nahm beim zweiten Klingeln ab.
»Ich bin auf dem Weg zum Treffen«, sagte ich nur.
»Keine Sorge, Jack. Ich habe wieder einen Cyborg geschickt. Ich werde mir für ein Autorentreffen wohl kaum »Deutschland sucht den Superstar« entgehen lassen.«
Relysium hatte, was kybernetische Organismen anging, schwer was auf dem Kasten - trotzdem, manchmal ging er einfach zu weit.
»Weißt du«, sagte ich, »dein kranker Humor in allen Ehren, aber meinst du nicht, die merken das irgendwann?«
»Blödsinn! Ich habe meinem Cyborg einen 6000-Seiten Romanentwurf und Plakatbilder von der Obduktion Grete Weisers mitgegeben. Die schlucken das.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, erwiderte ich.
»Kein Problem«, entgegnete er, »wenn ich ihn dieses Wochenende noch ans laufen kriege.«
Ich parkte in einer Seitenstraße und begann mich zu kostümieren.
Nerviger Rosenverkäufer schied aus, obwohl ich mal wieder Lust auf das karierte Jackett hatte.
Es handelte sich um einen irischen Pub, also konnte ich wenigstens als betrunkener Brite losschlagen.
Ich zog ein enges Acrylhemd an, das ich bis zum Nabel aufknöpfte und schminkte meine Brust käseweiß ein; die Perücke fönte ich über der Klimaanlage in Form und befestigte Kotletten und Kinnbart mit Hautkleber. Die Hasenscharte war ein kleines Wunderwerk aus Latexschaum, und obwohl es mir übertrieben erschien, konnte ich mir ihre Applizierung nicht verkneifen.
Dann nahm ich den Tätowierstift - eine Art Füller mit einer blassblauen, unregelmäßigen Tinte - und malte mir »God shave the Queen« auf die Hand.
Das Handy klingelte.
VERDAMMT!
»Haben sie schon was in Erfahrung bringen können«, raunte Süskind.
»Wenn sie noch einmal anrufen, bevor ich mich melde, machen sie mal eine ganz finstere Erfahrung. Schreiben sie lieber ihren Einakter über den Wäscheklammerbeutel im Nachkriegsdeutschland zuende!«
Ich wusste, dass meine intime Kenntnis über seine Projekte ihn jedes Mal aus der Fassung brachte, und tatsächlich legte er sofort auf.
Ich sah sie sofort; die ganze Gruppe hockte in Zigarettenrauchschwaden an einem klobigen Holztisch, und beinahe jeder hatte ein Glas Kilkenny vor sich.
Ich fügte mich stolpernd in die Menge der anonymen Gäste nahe des Tisches ein und beglückwünschte mich, meine Trinkerstiefel angezogen zu haben.
Die Stiefel waren einzigartig, und die Entwicklung hatte mich einige Stunden des Tüftelns gekostet: der Linke war dünn mit flüssigem Blei - das Überbleibsel einer Silvesterparty, über die zu schreiben mir der Anstand verbietet - bepinselt, der Rechte hatte eine Schaumgummisohle, auf die ich Heftzwecken geklebt hatte; ein bisschen schmerzhaft, aber der Erfolg gab mir recht - der daraus resultierende Gang war einmalig authentisch.
Tatsächlich: Relysiums Cyborg hielt gerade das Poster einer frittierten Achselhöhle hoch, was Paranova einen käsigen Blick entlockte, während er um Ginny Rose herumsprang, die offensichtlich gerade dabei war, sich von den Füssen aufwärts in ein Reptil zu verwandeln.
Webmaster stand an einem Flippboard und erklärte, ab Januar 2004 würde Kurzgeschichten.de eine Oberfläche erhalten, die an irisierende Mortadella erinnerte, und das Nichtmitglieder dann beim Lesen einer Erotikgeschichte einen elektrischen Schlag erhielten, sofern sie über einen USB- Anschluss verfügten.
»N Knillkenny bnitte«, bestellte ich und sog weitere Details des Treffens in mich auf.
Arc en ciel erhob sich gerade und schrie »Einspruch, euer Ehren«, was Horni großzügig als »Ein Lied« interpretierte. Er riss seine klappbare Wandergitarre hervor und sang »blowing in the Wind«, und Alisha Devils schrie »spiel mal was von Marylin Manson!«
Horni warf daraufhin einen massiven, aber angeketteten Aschenbecher nach ihr, der zurückfederte und um ein Haar Kitana traf; Webmaster löschte daraufhin umgehend vom Münzfernsprecher aus Hornis Benutzernamen und ersetzte ihn durch »mieser Aschenbecherwerfer« mit null Postings.
Paranova vollführte einige Flickflacks um Anika herum, um herauszufinden, ob es sich bei ihr nicht nur um einen Pappaufsteller handelte, brach aber mitten in der Luft ab, als sie zu ihrem Kakao griff. Leif2 klagte unablässig über seine operative Trennung von Leif und legte sich ständig Servietten mir Desperados- Motiv auf die Wunde, wenn er nicht gerade ganze Hammel in Steinguttöpfen orderte und Ginnys Beine mit lüsternen Blicken taxierte.
Jetzt fiel mir auch das seltsame Wesen auf, das ich noch nicht hatte zuordnen können: zuerst dachte ich, es handle sich um ein bizarres Maskottchen. Es war der gläserne Schnabel gewesen, der mich irritiert hatte, aber als ich mich vorsichtig anpirschte, sah ich, dass es Somebody war, der einfach in der vergangenen Stunde sein Glas nicht abgesetzt hatte.
Das erklärte zwar nicht, warum er einen Overall trug, auf dem mit goldenem Garn MODERATOR eingestickt war, aber es passte vortrefflich zu den Bediensteten mit den goldenen Schürzen, die hinter ihm standen und den Schlauch hielten, den sie von der Zapfsäule aus an seinen Platz gelegt hatten.
Blieb nur eine Frage: Wer war der Kerl im Katzenkostüm?
Also keine konspirative Zusammenkunft zur Planung eines bahnbrechenden Werkes.
»Ich schreibe gerade was über einen Anwalt, der in einer Kanzlei anfängt, die mit der Mafia zu tun hat! Es wird ziemlich viel gepoppt«, rief arc en ciel gerade.
Ich stutzte, meldete diese Nachricht allerdings nicht weiter.
Falscher Alarm, ganz sicher.
Um ein Haar wäre es doch noch schief gegangen: meine Scharte juckte und musste neu verklebt werden, und auf der Damentoilette lief mir Ginny über den Weg.
Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass sie sich das Reptilmuster nur auf die Beine gemalt hatte.
»N Abnend«, murmelte ich.
»Was machen sie auf dem Damenklo?«, fragte sie verwundert, während sie mit einem roten Filzstift eine blasse Stelle im Schlangenmuster auffrischte.
»Verlaufn«, antwortete ich.
»Machen sie sich nix draus. Passiert jedem mal. Immer positiv denken.«
Dann ballte sie die Faust und brüllte aufmunternd »Tschacka!« wie dieser holländische 100.000 Euro - Schamane.
Ich wiederholte den Kampfschrei, um meine Tarnung zu wahren, brachte aber nur »Chakra!« heraus.Verdammte Scharte.
»Chakra? Was soll denn das sein?«, fragte sie und sah mir für meinen Geschmack etwas zu lange ins Gesicht.
Ich zuckte mit den Schultern.
»Klingt jedenfalls gut«, strahlte sie. »Könnte man was draus machen.«
Ich floh.
»Gute Arbeit, Torrance«, sagte Grass, wobei er seine Stimme absichtlich grollen ließ, wie ich vermutete.
»Was ist mit meinem Lohn?«
»Wie üblich«, erwiderte er.»Rohmaterial für lustige Kurzgeschichten und als Bonus lässt man sie aus diesem Bertelsmann-Buchclub. Hab meine Beziehungen spielen lassen.«
In seiner Stimme glaubte ich einen Anflug von Stolz wahrzunehmen.
Relysium rief dann noch an, um mich darüber zu unterrichten, dass sein Cyborg zurück sei und ihm nun nach dem Genuss einiger irischer Spezialitäten »die Bude voll breche.«
Die Email mit dem Geschichtenrohmaterial traf ein - meine Gage.
Der erste Vorschlag war eine Geschichte mit Schafen, die ich als so heikel einstufte, dass vermutlich selbst Colt Seavers sie als »zu riskant« abgelehnt hätte.
Ich würde sie anonym verschicken.
Dann ein Weihnachtsschwank mit diesem Onkel Erwin, einer beknackte Hirngeburt Mankells – nun, würde ich alle maßlosen Übertreibungen herausstreichen, könnte daraus was werden.
Es war ein anstrengender Abend gewesen, dachte ich mir und strich Monsieur Mephisto übers Fell.
Ich wäre trotzdem gern da gewesen.