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Übermal es einfach, mein Schatz
Die Leiter stank nach alter Farbe.
Er tunkte den Pinsel in den Eimer und begann, die Wand weiß zu streichen.
Die Worte auf der Wand protestierten nicht, obwohl er das Gefühl hatte, sie seien lebendig. Er fuhr hoch und runter; eine bleiche Schicht legte sich über die Filzstiftlinien. Angst verblasste unter weißer Farbe. Wut wurde übermalt. Verzweiflung abgedeckt.
So einfach war es also, dachte er.
Die Scherben des Fotorahmens hatte er schon zusammengekehrt, den vollgekritzelten Spiegel, aus dem ihn nur Stücke seines Spiegelbildes anschauten, abgehängt. Die Überreste der Stereoanlage lagen noch im Zimmer. Zerschnittene, rote Kabel. Zerbrochene CDs.
Hoch und runter, weiße Farbe auf schwarzen Wörtern. Verschwand tatsächlich alles? Deckte die Farbe nicht bloß ab? Ließ sie die Worte verschwinden, wie sie aufgetaucht waren?
Damals, als er die Schreie seiner Mutter gehört hatte. Schloss er sich in seinem Zimmer ein, kauernd auf dem Boden, die Ohren mit Papiertaschentüchern verstopft. Dann waren die Worte gekommen. Erst eines. Angst.
Und dann in Scharen, immer mehr, das Zimmer schließlich vollgekritzelt mit seinen Albträumen.
Seine Mutter war nicht wütend geworden. Er sah den Bluterguss unter ihrem Make-up, die blauen Flecken auf ihren Armen und die Verzweiflung unter ihrem Lächeln.
„Übermal es einfach, mein Schatz.“
Und das hatte er getan.
Das Weiß blendete ihn, als er von der Leiter hinunterstieg. Der Eimer fast leer.
Den Müll hatte er inzwischen aufgesammelt, das zerrissene Laken weggeworfen, die zerstochene Matratze stand auf dem Sperrmüll.
Lächelnd kam seine Mutter ins Zimmer und umarmte ihn. Sein Vater stand hinter ihr im Türrahmen.
„Jetzt ist alles gut, mein Schatz.“