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Überleben
Die Sonne scheint, war Korrs erster Gedanke. Jedenfalls auf dieser Seite der Welt. Eine Zeitlang lag er nur da und genoss das warme Gefühl auf dem Rücken, während sein Bewusstsein langsam zurückkehrte. Dann wandte er sich an sein Volk: „Wacht auf! Es ist Zeit!“
Nach und nach kamen die Antworten vom gesamten Planeten. Alle sind da, stellte er erleichtert fest. Anders als beim letzten Zyklus, als sie um Raah trauern mussten, der nicht aus seiner Ruhephase erwacht war. Korr begann sich zu strecken. Nach den seismischen Erschütterungen, durch die er mit seinen Gefährten kommuniziert hatte, war es ein Leichtes, die harte Schale von innen aufzusprengen, die ihn in seinem Schlaf geschützt hatte. Er machte sich nicht die Mühe, das Material wieder zu absorbieren, sondern begann sofort zu weiden. Dabei würde er genug Mineralien aufnehmen, um eine neue Hülle bilden zu können, wenn die Zeit kam.
Träge schob er sich durch die Landschaft und aß, was in seinem Weg lag. Es waren vor allem die grünen, stationären Lebensformen. Bei ihrer Ankunft hatte es noch viel mehr von den beweglichen gegeben, die so faszinierend vielfältig waren. Doch deren Bestände hatten sich in den Ruhephasen nicht so gut erholt wie die anderen. Einige der Wesen hatten sich gegen sein Volk gewehrt, offenbar besaßen sie so etwas wie Technologie. Doch in ihrer Winzigkeit waren sie keine Gefahr für Korr und seinesgleichen.
Korr bildete ein Auge aus, ohne die Nahrungsaufnahme zu unterbrechen, und sah sich um. Sein erster Blick richtete sich auf die Sonne. Diese seltsame gelbe Sonne, die so viel mehr Energie spendete als sein roter Heimatstern. Fluch und Segen zugleich, dachte Korr. Dann betrachtete er Nann, die unweit von ihm ihren gemeinsamen Nachwuchs gebar. Ihren sechsten. In jeder Ruhezeit Nachwuchs, das ist nicht normal. Trotzdem sah er stolz und zufrieden zu den beiden hinüber. Die Trennung zwischen der größeren und der kleineren Masse stand kurz bevor. Wie schön sie waren in ihrem bläulichen Schimmer! Er würde für Nann mitessen müssen, die nach der langen, anstrengenden Geburt ausruhen und so die halbe Wachzeit versäumen würde. Doch bei dem Nahrungsangebot auf dieser Welt war das kein Problem. Noch.
Dass es auf dem Planeten bereits Leben gab, war eine zwingende Voraussetzung gewesen, um ihn für die Besiedlung auszuwählen. Dies über die riesige Entfernung hinweg zweifelsfrei festzustellen, war nicht möglich, und so blieb die Reise ein großes Wagnis. Ein Wagnis, das sie eingehen mussten, als die Ressourcen auf ihrer übervölkerten Heimatwelt zur Neige gingen und das Ende ihrer Art absehbar wurde. Korr empfand es stets als Irrsinn, dass es einfacher sein sollte, fremde Welten in unvorstellbarer Ferne zu kolonisieren, als die eigene zu retten. Doch die Idee, die Vermehrung einzuschränken, galt als blasphemisch und durfte nicht offen geäußert werden. Selbst Nann verstand ihn nicht. Und so meldeten sie sich als Freiwillige, um zusammen mit einigen Hundert anderen die Reise ins Ungewisse anzutreten. Mit dem Beginn eines Ruhezyklus, geschützt durch eine besonders dicke und speziell zusammengesetzte Schale, wurden sie ins Weltall geschossen aus einer riesigen Maschine, die ihre weisesten Individuen über Generationen entwickelt hatten. Als sie aufwachten, befanden sie sich in ihrer neuen Heimat, die alle ihre Erwartungen übertraf.
Korr entfernte sich allmählich von Nann und ihrem Nachwuchs. Die Nahrung in ihrer Nähe überließ er den beiden; sie würden sie brauchen, wenn sie die anstrengende Geburt hinter sich gebracht hatten. Als sie außer Sicht waren, zog er sein Auge wieder ein. Er wusste auch so stets, wo sie waren, da er Nanns Wehen über den Boden spüren konnte.
Die gelbe Sonne ging viele Male unter und wieder auf, während Korr unbeirrt seine Bahnen zog und die Nährstoffe sammelte, die er während der nächsten Ruhezeit verdauen würde, um sich zu regenerieren und zu wachsen. Artgenossen begegnete er dabei nicht. Ihre Reviere waren groß und wurden nicht mit anderen geteilt, zumindest solange es die überschaubare Population zuließ. Sie kommunizierten nur aus der Ferne, um sich über die Grenzen abzustimmen, davon abgesehen zogen sie einsam ihre Kreise.
Als Korr zu Nann zurückkehrte, aß sie allein auf den Flächen, die er für sie übriggelassen hatte. Ihr Junges entfernte sich, ebenfalls weidend, in die entgegengesetzte Richtung. Es würde ab sofort sein eigenes Leben führen, unabhängig von seinen Erzeugern, noch bevor sich sein Geschlecht entschieden hatte. Nach der nächsten Ruhe würde es einen Partner finden, mit diesem ein Revier gründen und eigenen Nachwuchs bekommen. Dennoch würde es immer eine besondere Beziehung zu Korr und Nann bewahren, und wenn sie sich an ihren Grenzen begegneten oder auf anderem Wege kommunizierten, würden sie einander als Verwandte erkennen.
Der Gedanke an die Zukunft seiner Nachkommen erfüllte Korr mit Sorge. Sie waren erst seit sechs Zyklen auf diesem Planeten, doch schon jetzt zeichneten sich die bevorstehenden Probleme klar vor ihm ab. Durch die energiereiche Sonne war die Vegetation üppig und das Nahrungsangebot groß. Das schien paradiesisch, doch es hatte dazu geführt, dass sein Volk sich viel schneller vermehrte als gewohnt: Jedes Paar bekam mit jeder Ruhephase Nachwuchs, und die Jungen waren bereits nach einem Zyklus ihrerseits paarungsreif. Gleichzeitig war der Planet viel kleiner als ihre alte Heimat und besaß deshalb eine so geringe Schwerkraft, dass jeder von ihnen um ein Vielfaches größer wurde, als es ihrer Natur entsprach. Beides zusammen bedeutete einen rasch ansteigenden Nahrungsbedarf, den selbst diese freigiebige Welt nicht für alle Zeit erfüllen könnte. Korr wurde langsam alt, er hatte mit etwas Glück noch ein Dutzend Zyklen vor sich. Dennoch befürchtete er, noch innerhalb seiner Lebenszeit mit ansehen zu müssen, wie auch diese neue Welt zugrunde ging, viel schneller als die alte. Ein kurzes Aufflackern seiner Spezies, bevor sie für immer verlöschte.
Diese bedrückenden Aussichten beschäftigten Korr, während er sich zu Nann gesellte, um sich gemeinsam mit ihr auf die kommende Ruhe vorzubereiten. Sie schmiegten sich aneinander und er spendete ihr seinen Samen, obwohl er sich beinahe schuldig fühlte angesichts der unsicheren Zukunft für das neue Leben, das sie damit zeugten. Dann übergab er ihr den Großteil der Nahrung, die er gesammelt hatte. Nann würde sie zum Überleben brauchen, für sich und für die Frucht, die von nun an in ihr reifte.
Dann löste sich Korr von Nann und wandte sich wieder an sein Volk: „Es ist Zeit! Begebt euch zur Ruhe!“ Er nahm seine Schlafstellung ein, indem er sich in eine Haufenform zusammenzog. Während seine Haut begann, Silikate abzusondern und eine neue Schale zu bilden, richtete er seine letzten Gedanken abermals auf die Zukunft.
Ich habe noch einige Zyklen Zeit, eine Lösung zu finden. Das Schicksal dieser Welt ist nicht unabwendbar.
Die gelbe Sonne geht jetzt unter. Aber sie wird wieder aufgehen.
Geda und Tesim hatten noch keine Lust zu schlafen. „Erzähl uns noch eine Geschichte, Mama!“, rief Tesim.
„Ja!“, stimmte Geda ein. Die beiden wussten, dass sie mit ihrer Mutter leichtes Spiel hatten.
„Hmmm ...“ Arina tat, als fiele ihr die Entscheidung schwer, sie legte ihr Gesicht in angestrengte Falten. Die Zwillinge warteten gespannt und grinsten dann triumphierend, als Arina nachgab: „Na gut, aber nur eine. Habe ich euch schon von den Hungrigen Bergen erzählt?“
„Oh nein“, stöhnte ihr Mann Garon aus der Küche, wo er mit dem Flicken der Fischreusen beschäftigt war. „Die Kinder werden nicht schlafen können!“
Nun waren die beiden erst recht neugierig. „Was sind Hungrige Berge? Sag schon!“
Arina setzte sich auf die Bettkante. „Also, Hungrige Berge sehen aus wie ganz normale Berge. Jedenfalls meistens, weil sie dann schlafen. Aber wenn sie aufwachen, dann haben sie einen riesigen, einen unersättlichen Hunger. Dann setzen sie sich in Bewegung und fressen alles, was sie finden: Gras, Steine, Häuser, Bäume. Sogar Tiere und ...“, Arina machte eine dramatische Pause, „Menschen!“ Damit stürzte sie sich auf die Kinder, als wolle sie sie fressen. Die Kleinen kreischten vor Vergnügen, alle drei balgten ein wenig herum.
„Woher kommen die?“, fragte Geda, als sie wieder Luft bekam.
„Das weiß niemand so genau. Eines Tages waren sie einfach da. Manche sagen, sie seien vom Himmel gefallen.“ Arina ordnete ihr Haar und ihre Bluse, während sie weitersprach. „Einige kluge Leute sagen, sie seien uns Menschen als eine Strafe geschickt worden.“
„Strafe wofür?“ Tesim war entrüstet.
„Nun, es heißt, die Menschen seien früher viel reicher und schlauer gewesen. Es gab auch viel mehr von ihnen als heute. Sie haben Maschinen gebaut, die unvorstellbare Dinge tun konnten. Mit denen konnten sie schwimmen wie Fische, tauchen auf den tiefsten Meeresgrund und fliegen bis zum Mond und noch weiter. Sie konnten miteinander sprechen, auch wenn sie auf verschiedenen Seiten der Erde waren, und sich dabei sogar sehen.“ Arina war aufgestanden, sie sprach immer schneller und eindringlicher und illustrierte die Erzählung mit weit ausholenden Gesten. Die Kinder hingen jetzt gebannt an ihren Lippen und waren mucksmäuschenstill. „Die Menschen fühlten sich wie Götter und haben sich auch so aufgeführt. Sie glaubten, sie könnten alles beherrschen und dürften sich die ganze Welt untertan machen. Und für diese Überheblichkeit wurden sie von den richtigen Göttern bestraft, indem diese die Hungrigen Berge schickten. Als die vom Himmel stürzten, brachten sie Feuer mit und Stürme und Flutwellen. Der Himmel verdunkelte sich, und es war zwanzig Jahre lang eisiger Winter. Viele Menschen erfroren und die meisten anderen verhungerten, weil die Hungrigen Berge ihnen in nur wenigen Wochen alle Nahrung wegfraßen, die nicht bereits vernichtet war. Die Maschinen, auf die sie so stolz waren, gingen kaputt und konnten ihnen nicht helfen. Die wenigen Menschen, die übrigblieben, hatten nichts mehr und fristeten ein armseliges Dasein.“
Die Zwillinge hörten mit großen Augen zu, die Erschütterung stand ihnen in die Gesichter geschrieben. „Und dann?“, fragte Tesim kleinlaut. „Was ist heute?“
„Als die Hungrigen Berge ihr Zerstörungswerk beendet hatten, legten sie sich schlafen. Auf ihren Rücken wuchsen Wälder und Gletscher und die Menschen glaubten, nun vor ihnen sicher zu sein. Aber alle vierhundert Jahre wachen sie auf, um die Menschheit erneut in ihre Schranken zu weisen. Alle Technik und aller Wohlstand, den sie sich in der Ruhezeit erarbeitet hat, wird wieder zerstört, damit wir nie wieder so arrogant werden wie unsere Vorfahren. Die Berge fressen ein paar Monate lang alles, was ihren Weg kreuzt, und legen sich dann wieder hin.“
Geda standen Tränen in den Augen. „Ist das wirklich wahr?“
„Es gibt alte Schriften ...“, setzte Arina an, doch da kam Garon in den Raum, der seine Arbeit beendet hatte.
„Das sind nur Geschichten“, sagte er mit Bestimmtheit. Er warf seiner Frau einen vorwurfsvollen Blick zu, schob sie beiseite und setzte sich an das Bett der Kinder. „Geschichten, mit denen man Kinder ein bisschen erschrecken will, damit sie nachts brav im Bett bleiben und nicht heimlich auf Wanderschaft gehen.“ Er deckte die Zwillinge bis ans Kinn zu und strich ihnen über die Köpfe. „Hey“, sagte er lachend in die skeptischen Gesichter, „ihr werdet doch solche Ammenmärchen nicht glauben? Wandernde, fressende Berge? Also wirklich! Und jetzt denkt zum Einschlafen lieber an den Ausflug, den wir morgen machen wollen. Ich bringe euch bei, welche Pilze man essen kann und welche nicht.“
„Unsere Väter glauben daran“, sagte Arina, als sie die Tür zum Kinderzimmer hinter sich geschlossen hatten.
Garon schnaufte verächtlich. „Na und? Ist das ein Grund, die Kinder so zu erschrecken?“
„Aber sie müssen es doch wissen, sie müssen vorbereitet sein! In fünf Jahren ...“
„Unfug!“ Garon wurde laut. „Und selbst wenn es wahr wäre – was sollten sie denn tun? Lass ihnen doch ihr unbeschwertes Leben, bis es passiert. Wenn es überhaupt je passiert.“
Die Zwillinge hörten die Stimmen ihrer Eltern nur gedämpft, einzelne Worte konnten sie nicht ausmachen. Dennoch trug der Streit nur dazu bei, ihr mulmiges Gefühl zu verstärken. Eine Zeitlang lagen sie stumm im Dunkeln, jeder in seinen Gedanken.
„Wenn die Berge so viel essen“, flüsterte Tesim nach einer Weile, „kriegen sie davon nicht Bauchweh?“
„Bestimmt“, überlegte Geda. „Und wenn ihr Bauch dann ganz doll rumort, dann ist das ein Erdbeben.“ Beide kicherten.
„Und wenn sie dann pupsen“, fügte Tesim an, „dann ist das ein Vulkanausbruch!“
„Iiih!“, lachte Geda. „Das muss denen doch wehtun. Ich glaube, ich möchte kein Berg sein!“
Die beiden dachten noch ein wenig über die komischen lebenden Berge nach, grinsten und kicherten in die Nacht und schliefen schließlich ein.