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Überirdisch
I.
In ihrem Traum sah sie sich durch die Luft fliegen. Fernab der stickigen Hitze, die viele hundert Meter unter ihr herrschte, war die Luft klar und kühl. Sie blickte auf das Viertel herab, in dem sie mit ihrem Mann in einem der vielen Hochhäuser wohnte, auf die Dächer, die das Sonnenlicht in roten und grauen Sternen reflektierten. Der Wind unter ihren Flügeln gab ihr neuen Auftrieb und sie setzte an, sich noch ein paar Meter höher in die Luft zu erheben, als sich wie aus dem Nichts eine unsichtbare Wand vor ihr erhob.
Nadja blinzelte und hob instinktiv die Arme vor ihr Gesicht. "Du Miststück", schrie Sven. Feine Tropfen seiner Spucke landeten auf Nadjas Stirn. "Wenn du denkst, du kannst dich einfach so aus der Wohnung schleichen und zu deinem dreckigen Liebhaber verschwinden, hast du dich verrechnet." Nadja zog die Arme fester um ihr Gesicht und spürte, wie das Blut aus ihrer Lippe ihre Oberarme benetzte. Ihre Lippe pochte, sie fühlte sich, als schösse alles Blut aus ihrem Körper in ihren Kopf und bannte sich dann einen Weg aus ihrer geplatzten Lippe in die Freiheit. Sie musste versuchen, ihn zu beruhigen, bevor er zum nächsten Schlag ausholte. "Sven, ich weiß nicht wovon du sprichst, aber wenn es wieder um Paul geht...", wimmerte Nadja.
Es ging immer um ihn, Paul, den Hausmeister. Seit sie vor zwei Jahren in das Haus gezogen waren, vermutete Sven hinter jeder zufälligen Begegnung, hinter jedem Gruß, hinter jedem scheuen Lächeln, eine Affäre zwischen Nadja und dem schlaksigen Mann aus dem ersten Stock. Sie hatte versucht, ihren Ehemann vom Gegenteil zu überzeugen - bislang erfolglos, wie ihr in diesem schmerzvollen Moment ein Mal mehr bewusst wurde.
Als Sven seine Hand ein zweites Mal hob, wünschte Nadja, sie wäre die Frau in ihrem Traum, die einfach davonfliegt.
II.
Vorsichtig öffnete sie die Tür. Nadja hatte mehrmals durch den Spion geblickt und ihr Ohr gegen die Tür gedrückt - kein Laut im Treppenhaus, keine Spur von Paul, dem Hausmeister. Wenn sie schnell genug die drei Stockwerke hinunterlief, konnte sie unbemerkt durch die Haustür verschwinden und sich dann ihren Einkäufen widmen. Paul durfte sie nicht sehen, sonst würde es nur wieder Ärger mit Sven geben. Sie musste vermeiden, Aufmerksamkeit zu erregen, Unsichtbarkeit war das Ziel, das sie anstrebte. Ihre Unterlippe war immer noch leicht geschwollen und an einer Stelle mit einem blutigen Schorf überzogen. Sie würde unweigerlich Aufmerksamkeit erregen, dessen war sie sich bewusst.
Sie betrat den Gang, klemmte ihre Handtasche unter ihren Arm und lief auf Zehenspitzen die Treppen hinab. Der schwache Geruch von Reinigungsmittel stieg ihr in die Nase. Kurz bevor sie das Ende der Treppen erreichte, hörte sie Schritte aus dem Keller herauf kommen. Nadja erstarrte, ihre Hand krampfte sich um das Geländer. "Hallo Nadja, wie geht es ihnen?". Nadja sah, wie das freundliche Lächeln in Pauls Augen erstarb, als er in ihr Gesicht blickte. "Was war es dies Mal?", fragte er trocken und ging einen Schritt auf sie zu. Seine helle Haut schien fast transparent, auf seinen Wangen durchbrachen ein paar Sommersprossen die leuchtende Oberfläche. Jetzt wurden sie von hektischen roten Flecken umspült. Nadja fürchtete diesen Anblick, aus dem Wut, Sorge und Enttäuschung sprach. Enttäuschung, wie sie glaubte, über sie und ihre eigene gottverdammte Feigheit. "Ich habe keine Zeit, ich muss einkaufen gehen", flüsterte sie deshalb und trat vorbei an dem Hausmeister, hinaus in die grelle Wirklichkeit, in der in diesem Moment nichts wichtiger war als die Einkäufe für das Abendessen rechtzeitig zu erledigen.
III.
Ein paar Wochen ging alles gut. Nadja hoffte, das Leben mit ihrem Ehemann würde sich einpendeln, zurück ins Gleichgewicht finden, so wie es am Anfang war. Damals hatte sie keine Angst gehabt, wenn sie hörte, wie sich sein Schlüssel im Schloss drehte. Sie fürchtete nicht um ihr Gesicht, wenn er ein Messer in der Hand hatte, sie schlief nicht ein mit dem Gedanken, sie würde am nächsten Tag vielleicht nicht mehr aufwachen, weil er ihr mit den Händen um den Hals die Luft nahm. Nein, sie hatte sich sicher gefühlt und beschützt. Das konnte auch ein herablassender Kommentar über ihr Gewicht nicht ändern, ein giftiger Blick, wenn sie den Mann an der Tankstelle zwei Sekunden zu lang in die Augen geschaut hatte. War Eifersucht nicht auch ein Ausdruck von Liebe, zeigt sie nicht, wie leidenschaftlich Sven sie liebte? Und leiden würde Sven, sobald sie ihn verließ, das hatte er ihr oft genug gesagt, auch wenn sie nur ein Wochenende ihre Eltern besuchte. Seit Sven in ihr Leben getreten war, war es Nadja, als ob sich die Welt um sie herum verkleinert hatte, als ob jemand plötzlich beschlossen hatte, das kleine Fleckchen Erde, auf dem sie sich befand, loszulösen vom Rest der Welt und sie allein auf einer Insel zurückließ. Ab und zu kamen Menschen vorbei, versuchten, sie zurückzuholen in ihre frühere Welt, aber etwas hielt Nadja in ihrer neuen Heimat und spiegelte ihr vor, dass das Leben, wie sie es von früher kannte, nur noch in ihrer Erinnerung existierte.
IV.
Der Sommer neigte sich langsam dem Herbst. Als Nadja eines Abends den Müll zu den Tonnen trug, spürte sie eine feuchte Kühle in der Luft, die das Atmen nach der vorangegangenen Schwüle der letzten Wochen wieder etwas leichter machte. "Nadja, warten Sie", hörte sie Paul rufen, als er ihr auf dem Weg zurück ins Haus entgegenkam. "Paul, ich muss wieder rein, ich habe Essen auf dem Herd", antwortete Nadja. Er zog sie zu den Fahrradständern an der Ecke des Hauses. Mit einem Griff in seine Hosentasche holte er ein Kärtchen heraus. "Ich habe etwas für Sie, Nadja, das ich Ihnen schon lange geben wollte", sagte Paul und streckte ihr eilig das Kärtchen entgegen. "Paul, ich muss wirklich wieder gehen, Sven wartet", flehte Nadja, ohne einen Blick auf die Karte zu werfen. "Bitte Nadja, schauen Sie es sich doch wenigstens an, es wird Ihnen gefallen." Um ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden, nahm Nadja die Karte aus seiner Hand und hob sie im Dämmerlicht des zu Ende gehenden Tages gegen ihre Augen. Eines konnte sie sofor klar und deutlich erkennen: das Bild eines aufgespannten, bunten Fallschirms, der durch die Luft segelte. "Sie hatten vor ein paar Monaten erwähnt, Sie würden das gerne ausprobieren", sagte Paul und sah sie schüchtern an. "Es ist ganz in der Nähe und ich habe mit dem Besitzer einen Freundschaftspreis für Sie ausgehandelt. Was sagen Sie?" Nadja starrte auf die Karte, gerührt, aber dennoch erschrocken über so viel Achtsamkeit. Ohne ein weiteres Wort zerknüllte sie die Karte in ihrer Faust, machte einen Schritt um Paul herum und lief zurück ins Haus. "Tun Sie es jetzt, warten Sie nicht noch einen Winter", rief Paul ihr nur nach.
V.
Die Welt unter ihr verlor langsam an Kontur. Wie ein Weichzeichner nahm die Höhe die Schärfe aus der Umgebung, von der Nadja vor ein paar Minuten noch ein Teil war. Alles war verschwommen, beim Blick aus dem kleinen Fenster der weißen Cessna erkannte sie nur noch die großen Landmarken, die Vororte, die sich durch große Bundesstraßen und Autobahnabschnitten voneinander abgrenzten, und die zusammen ihre Stadt bildete. Das Flugzeug ließ die vertrauten Wohneinheiten hinter sich und machte eine kleine Drehung hin zu den weniger dicht besiedelten Landschaften, die die Stadt umgaben. "Von dort haben wir eine grandiose Aussicht über die Seenlandschaft", hatte ihrer Guide gesagt, der in diesem Moment fest hinter ihr geschnallt war. Sie war ihm so nah, wie sie schon lange keinem anderen Mann gewesen war - außer Sven.
Auf über 4.000 Metern angekommen, rutschten sie gemeinsam bis zur Luke des kleinen Flugzeugs. "Bist du bereit?" Nadjas Beine baumelten in der Luft, der Wind schoss ihr ins Gesicht und verzog ihre Haut zu einer straffen Fratze, ihre Hände krallten sich fest an den Rand des Flugzeugs. "Bereit" war das letzte, das sie sagte, bevor sie sich gemeinsam in die Tiefe stürzten.
Paul war gerade dabei, einen Aushang an der Haustür anzubringen. Ein paar Tage später musste das Wasser im Haus für einige Stunden abgestellt werden, die Bewohner sollten frühzeitig darüber informiert werden. Er kämpfte mit dem Tesafilm, der partout nicht seine Pflicht erfüllen wollte, als ihm eine leise Stimme von hinten ins Ohr zischte "Das war ein schwerer Fehler, Paul". Sven drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, krallte seine Hand in Pauls Haar und knallte seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Glastür. "Das hättest du nicht tun sollen". Ein weiterer Aufprall mit dem Kopf ließ Paul benommen zurück. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten, sein Körper wurde von Paul gehalten, der ihn mit seinem ganzen Körper vom Fallen abhielt und seinen Kopf gegen die Tür drückte. "Ich hab dir gesagt, Du sollst sie in Ruhe lassen". wie im Akkord knallte Pauls Kopf jetzt auf das Glas. "Aber sie ohne meine Erlaubnis zu diesem verschissenen Fallschirm springen zu bewegen, war das bisher Dämlichste in deinem erbärmlichen Leben". Sven holte aus und hämmerte Pauls Kopf noch ein letztes Mal gegen die Tür. Dann ließ er los, drehte sich um und ging, während Pauls Körper bewegungslos zu Boden fiel.
Fallen. Nadja breitete die Arme aus, drückte den Kopf in den Nacken und fiel durch die Luft. Der Wind rauschte in ihren Ohren, die Geschwindigkeit machte sie wie berauscht. Nur ein paar Sekunden, bevor sich der Fallschirm öffnete. Der Schwindel verflog langsam, doch die Welt, wie sie sie kannte, existierte in diesem Moment, aus dieser Distanz nicht mehr. In der Höhe erkannte sie neue Blickwinkel, andere Wendungen, fremde Abzweigungen. Sie spürte eine Freiheit in sich, die sie schon lange vermisst hatte. Als sie immer tiefer durch die Luft segelten, stieg ein unbändiges Glücksgefühl in ihr hoch, das sich langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
Dieses Gefühl, davon musste sie unbedingt Paul erzählen.