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»Mir fällt zu Hitler nichts ein«
»Mir fällt zu Hitler nichts ein« -
die Apokryphen der Postmoderne -
(k)eine uralte Geschichte?(!)
„Als der Beredte sich entschuldigte
dass seine Stimme versage
trat das Schweigen vor den Richtertisch
nahm das Tuch vom Antlitz und
gab sich zu erkennen als Zeuge.“
BB
„Die Satire ist die einzige rechtmäßige Form der Heimatkunst.
So war es aber nicht gemeint, wenn man Kraus einen Wiener
Satiriker nannte. Vielmehr versuchte man, solange es angehen
konnte, auf dieses tote Gleis ihn abzuschieben, um sein Werk
dem großen Speicher literarischer Konsumgüter einverleiben
zu können.“ Walter Benjamin, Illuminationen
„Kokoschka hat ein Porträt von mir gemacht. Schon möglich,
dass mich die nicht erkennen werden, die mich kennen. Aber
sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen.“ KK
Krisen -
spenden eher spröde dem Apokalyptiker wie gleichermaßen dem Satiriker Stoff, um sich zugleich Weltverbesserern und Heilsbringern scham- und hemmungslos anzubiedern. Wollte heute wer bezweifeln, dass nicht seit dem Erdbeben von Lissabon Krise und Kritik gleichermaßen sich verschwistert hätten, um sich wohlig in der bürgerlichen und zunehmend rationalisierten Welt auf Dauer einzurichten? Glaubte ich nicht noch kürzlich gelesen zu haben, „Wien wird jetzt zur Grossstadt demolirt“?, und als ich mich umschaute in unseren modernen Großstädten, schauderte mich ob der Allgemeingültigkeit dieser Aussage aus dem November 1896: nicht nur Wien nimmt fortschrittlichen Schaden! Und alle Wetter!, dass selbst die Deutsche Bahn, die jahrzehntelang prahlte, alle redeten von ihm, nur sie eben nicht, auf den Stand von 1908 zurückfällt im „Die mißhandelte Urnatur grollt; sie empört sich … Habt ihr die Unregelmäßigkeiten der Jahreszeiten wahrgenommen? Kein Frühling kommt mehr, seitdem die Saison mit solcher Schmach erfüllt ist!“, wie von der Geschäftstüchtigkeit die zur größeren und stärkeren Berufung denn der eigentliche Beruf wird: „Der Zahn der Zeit ist hohl; denn als er gesund war, kam die Hand, die vom Plombieren lebt“ – dass man Sorge um den Zahnarzt tragen und schier fürchten muss, es werde so bleiben, wie’s immer war, bis hin zur staatlichen Förderung und Pflege des braunen Sumpfes und der Verbreitung dünnpfiffiger Theorien des Herrn Sarrazin durch Medien.
„Im Anfang war das Wort“, lautet nach neuerer Reformation der Rechtschreibung die Übersetzung Luthers, mit der keineswegs die apokalyptische Vision der Offenbarung, sondern das Evangelium des Johannes beginnt, um dann gleich einem vorweggenommenen Kybernetiker fortzufahren „alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist“ [Johannes 1.1 ff.] und Goethe lässt seinen Faust mehr als zweifeln, wenn der sich fragt „Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«“ [Faust 1, 1224], um zu stocken und die rechte Übersetzung zu suchen, denn „Bedenke wohl die erste Zeile, / Dass deine Feder sich nicht übereile!“ [ebd., 1230 f.] Als Lösungen kommen Goethe-Faust „Sinn“, Kraft“ und letztlich „Tat“.
Von dem hier zu berichten gilt, steht ganz in der Tradition des „Logos“, der sowohl das „Wort“ wie die gesamte „Rede“, ja die „Sprache“ selber meint und doch zugleich auf den „Gedanken“ wie den „Begriff“ bis hin zur „Vernunft“ langt und damit Grundlage abendländischer Philosophie wird, ohne dass der „Beredte“ Wissenschaftler oder Philosoph wäre, selbst wenn er’s auf väterlichen Wunsch zunächst mit der Juristerei und dann mit der Philosophie versucht hatte. Nicht, dass er zu blöd gewesen wäre, für eines der Fächer! Vielmehr geht er ohne systematisch zu arbeiten auf in der Heimat des Wortes und der Sprache, wie wir sie schon im Mosesroman des Sigmund Freud erkannt und entdeckt haben, denn die Heimat des Juden ist weniger ein konkretes Land, da Milch und Honig fließen und die Füße festen Boden finden, wie es etwa Zionisten einem vorgaukeln, sondern die Buchreligion und somit
der eigene Verstand. Dabei ekelt er sich vor allem vorm Missbrauch und bringt es aphoristisch auf den Punkt: „Umgangssprache entsteht, wenn sie mit der Sprache nur so umgehn; wenn sie sie wie das Gesetz umgehen; wie den Feind umgehen; wenn sie umgehend antworten, ohne gefragt zu sein. Ich möchte mit ihr nicht Umgang haben; ich möchte von ihr Umgang nehmen; die mir tags wie ein Rad im Kopf umgeht; und nachts als Gespenst umgeht“ auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkrieges 1917, ganz wie es einem an sich irreligiösen Jünger der Buchreligion angemessen ist. Denn trotz eines zeitlich begrenzten Schlenkers zum Katholizismus folgt er zeitlebens in aller Strenge dem Dekalog. Freilich kann manchem der Eindruck entstehen, Karl Kraus könnte auf Grund eines übermächtigen Selbstbewusstseins den Gottesbegriff für sich selbst okkupiert haben, wirken doch elementare Gebote wie „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. / Du sollst dir kein Gottesbild machen … / Du sollst dich nicht vor anderen Göttern niederwerfen und dich nicht verpflichten, ihnen zu dienen. …/ Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen …“ [Exodus 20, 3 - 7] wie für ihn geschaffen.
Doch beginnen wir mit dem Anfang einer Karriere von einem, der eine Generation lang verschollen und verschwiegen wurde, um dann mit den 1967-ern wiederentdeckt zu werden!
Literatur kann schmerzhaft sein!
„Ich war selten verliebt, immer verhasst.“
Karl Kraus 1907 * [F 229, 17]
Keine sechs Wochen nach Gründung der eigenen Zeitschrift unterhält sich der gerade einmal 25-jährige Karl Kraus angeregt mit einem Freund in einem Nebenraum des angesehenen Café Impérial an der Ringstraße zu Wien. Der junge Existenzgründer - Karl Kraus hätte sicherlich seine helle Freude am heutigen Jargon, der eine Existenzgründung von Besitz und Eigentum, vor allem aber dem freien Unternehmen abhängig macht ** -, Herausgeber und Autor hat allen Grund zur Freude: Die drei ersten Ausgaben der Zeitschrift zeigen, dass eine Zeitschrift ohne Werbung auskommen und damit unabhängig bleiben kann. Damals wie heute eine Sensation: Die Fackel – so der Titel des Blattes - trägt sich selbst! Der Titel verrät es: Der Erfolg gründet auch in angesengten Bärten, die dem jungenhaften und schmächtigen Karl Kraus „ein hübsches Sümmchen Feinde eingewirtschaftet hat“, wie das Wiener Tageblatt am folgenden Tage spotten wird, obwohl das „politische Programm dieser Zeitung […] dürftig [erscheint]; kein tönendes »Was wir bringen«, aber ein ehrliches »Was wir umbringen« hat sie sich als Leitwort gewählt. Was hier geplant wird, ist nichts als eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes, …“ [F 1, 1 f.] heißt es seit dem 1. April 1899.
Es ist weit nach 23 Uhr, als ein Autor, dessen neuestes Theaterstück soeben in der Fackel verrissen wurde, und sieben weitere Herren - wie wir vermuten dürfen, zu des heute namenlosen Autors eigenem und besonderen Schutz - das Impérial betreten. Der Autor greift sich den arg kurzsichtigen Rezensenten, prügelt ihn durch bis zur Ohnmacht und verschwindet nach wenigen Minuten wieder mit seiner Korona, ehe andere Gäste des Cafés überhaupt begreifen, was da vorgefallen ist - so das Neue Wiener Tageblatt Nr. 129 v. 12. 5. 1899, S. 2 f., mit detaillierter Schilderung und Namensnennung (!) neben ausführlicher, moralinsaurer Stellungnahme; [Zitat oben aus der Ausgabe vom Tage zuvor, Nr. 128, S. 8, Früh Nm, 17]. Es ist nicht der erste und schon gar nicht der letzte Überfall auf Karl Kraus.
Trotzallem steht Wien entgegen der Identitätskrise der Monarchie zur Jahrhundertwende in kultureller Blüte. In der Metropole haben sich zahlreiche Kreise zusammengeschlossen, von deren Leistungen wir heute noch zehren, wie etwa den logischen Positivisten bis hin zur Psychoanalytischen Vereinigung.
Um den heute vergessenen Hermann Bahr - der einen Spürsinn für geistige und künstlerische Strömungen hat – scharen sich Schriftsteller zum Jungen Wien, das sich selber als Wiener Moderne bezeichnet. Man wendet sich vom Naturalismus der Hauptmann, Ibsen, Strindberg, Zola ab, um einem Ästhetizismus zu frönen, der als literarischer Fin de siècle eines Hofmannsthal und Schnitzler, aber auch eines Felix Salten überleben wird. - Mag sein, dass Ihnen der letztgenannte Name nichts mehr sagt. Und dennoch behaupte ich: wenigstens zwei Titel des Herrn S. kennen Sie! Da wäre zuvörderst zu nennen Bambi, eine Lebensgeschichte aus dem Walde, die 1942 durch Walt Disney verfilmt wird und als Trickfilm (!) gerade zum amerikanischen Staatsschatz mutiert, und als zweites dem nach einem Wort von Oswald Wiener einzigen deutschsprachigen Werk von Weltgeltung in seinem Genre, der Josefine Mutzenbacher.
Die unterschiedlichen Typen Salten und Kraus waren einmal befreundet und wohnten einige Zeit zusammen – bis der eine – Salten – sich in der ersten größeren Satire des andern wiederkennen musste: Am 15. November 1896 erscheint in der Wiener Rundschau mit den Worten „Wien wird jetzt zur Großstadt demoliert“ [Schreibweise nun neuer Rechtschreibung angepasst] bis zum 1. Januar 1897 in vier Folgen die Satire Die demolierte Literatur. Ohne einen einzigen Namen zu nennen, weiß jeder, wer da aus der Literaturclique des Jungen Wien und dem literarischen Klüngel verspottet wird, spätestens wenn Getroffene wörtlich zitiert werden und „Gedankenarmut“, „Unfruchtbarkeit“ von und „Mangel an Talent“ wie „Wahnvorstellungen“ dargelegt werden. Einer „schrieb immer das, woran seine Freunde gerade arbeiteten. […] Die Verwechslung des Dativs mit dem Akkusativ gelingt ihm noch immer mit unverminderter Jugendfrische“ - wie heute der Dativ der Tod des Genitivs ist, was den ertappten Salten veranlasst, dem nunmehr gewesenen Freund eine Portion Prügel zu spenden.
1915 wird Kraus sein Geschick aphoristisch auf den Punkt bringen: „Viele haben den Wunsch, mich zu erschlagen. Viele den Wunsch, mit mir ein Plauderstündchen zu verbringen. Gegen jene schützt mich das Gesetz“ [F 254-55, 35], wobei der Leser selbst entscheiden mag, wer dieser und wer jener wäre. Aber auch dramatisiert bringt er’s auf den Punkt, wenn ein Spekulant und ein Realitätenbesitzer sich auf der Straße unterhalten [D I,25]:
„Ein Spekulant: Wissen Sie, wer vollständig verschwunden is? / Ein Realitätenbesitzer: Ich weiß, der Fackelkraus. / Wie Sie das erraten – oft denk ich, kein rotes Büchl, kein Vortrag – ihn selbst hat man auch schon eine Ewigkeit nicht zu Gesicht bekommen. / Lassen Sie mich aus mit Kraus, ein Mensch, der bekanntlich keine Ideale hat. Ich kenn doch seinen Schwager. / Ich kenn ihn persönlich. / Sie kennen ihn persönlich? / Ob ich ihn kenn, Tag für Tag is er an mit vorbei. / Auf den Umgang müssen Sie nicht stolz sein. Alles in den Kot zerren – alles niederreißen – nix aufbauen – Weltverbesserer, tut sich was! Bittsie ich weiß doch, wie das is. Wie ich jünger war, hab ich auch alles kritisiert, nix war mir recht. Bis ich mir hab die Hörner abgestoßen. Er wird sich auch die Hörner abstoßen. / Er is doch schon sehr gedeftet. / No sehn Sie? Ich hab mir sagen lassen, er wird sich bald zur Ruh setzen. / Warum nicht, er hat gewiss schon hübsch verdient. / Verdient –! So klein is der geworn! Ich sag Ihnen, er is fertig. Verlassen Sie sich auf mich. Da zeigt sichs. Harden hat nicht aufgehört im Krieg. Der hat eben die greßeren Themas – (bleibt stehen.) Fesch sind diese deutschen Offiziere, fescher wie unsere. / Natürlich, jetzt, wo ja zu schreiben wär, schreibt er nicht! / No kann er denn? / Wegen der Zensur? Erlauben Sie mir, da könnte doch eine geschickte Feder, und die muss man ihm lassen – / Nicht wegen der Zensur – er kann von selbst nicht. Er hat sich ausgeschrieben. Verlassen Sie sich auf mich. Und dann – er fühlt jedenfalls, dass jetzt andere Sorgen sind. Das war ja ganz amüsant im Frieden – jetzt is man zu solche Hecheleien nicht aufgelegt. Passen Sie auf, er wirds bald billiger geben. Wissen Sie, was ich ihm gönnen möcht – nehmen solln sie ihn! An der Front! Da soll er zeigen! Was er trefft, is nörgeln. / (Der Nörgler geht vorbei. Die beiden grüßen.) / Der Spekulant: So was von einem Zufall! Also Sie kennen ihn auch persönlich? Wieso? …“
All die Prügel, die Kraus bezieht, sind nichts gegen die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 - auf den Tag genau 34 Jahre nach dem Vorfall im Café Impérial an der Ringstraße zu Wien! Komme uns da keiner, man hätte es nicht gewusst, geschweige denn, es nicht wissen können, was sich da entwickelte! Das Autodafé, - perdonen ustedes!, es werden ja keine Ketzer mehr verbrannt -, die Bücherverbrennung ist so wenig unauffällig wie Dachau! Röche es nicht wenigstens brenzlig, wenn’s andere abschrecken soll? Welchen Sinn hätte ein Judenboykott vom 1. April 1933 gehabt, wenn’s keiner gewusst hätte? Welchen Sinn die Nürnberger Gesetze vom September 1935, hätt’ kein Arsch sich daran gehalten? - Rhetorische Fragen, die sich beliebig fortsetzen lassen …
Ein geradeheraus gnädiges Schicksal verhindert, dass Karl Kraus wie etwa Karl von Ossietzky, Herausgeber der Weltbühne und immerhin ein Friedensnobelpreisträger, Karriere im KZ erleidet: Im düstern Februar 1936 wird Kraus ein letztes Mal niedergestoßen – von einem Radfahrer. Unfall oder Attentat, wir wissen es nicht. Nun leidet der 61-jährige an starken Kopfschmerzen, die der Arzt gar nicht erst zu erklären versucht. Nach beinahe 25.000 Seiten Fackel, von denen achtzig Prozent aus der Feder des Karl Kraus stammen, hat es sich ausgefackelt! Bei einem, der an sich selten vergisst, muss zunehmende Vergesslichkeit erst recht auffallen. Der da scheinbar ins Alzheim flüchtet und dem das Theater der Dichtung das Leben bedeutet, gelingt gleichwohl am 2. April seine 700. Lesung im
Theater der Dichtung
Das Herz unseres Helden schlägt das Leben lang fürs Theater. Als er aber im Januar 1893 in der Rolle des Franz Moor scheitert - vielleicht sogar scheitern muss neben einem künftigen Giganten der Schauspielkunst, einem Spielkameraden namens Max Reinhardt (!) als Spiegelberg - mit den Räubern, bleibt es bei öffentlichen Lesungen, zunächst fremder Texte (erstmals am 21.10.1892 Liliencron, Arno Holz u. a., dann zunächst Gerhart Hauptmann, dessen Weber er trotz Zensur als erster vollständig liest). Seiner Biographie entnehmen wir, dass ihm klar geworden sei, dass der Satiriker sich weniger als der Schauspieler mit der Rolle, „einem Typus“ identifizieren darf, so sehr er sich auch darein vertiefe, müsse er ihn doch zugleich „von außen kritisch sehen“ [Schick, 30] - Karl Kraus’ Theater der Dichtung als Vorläufer des epischen Theater Brechts, appelliert dieses doch wie jenes an den Verstand und weniger ans Gefühl, selbst wenn es durch die Gestaltungskraft des Vorlesers Gefühle des Publikums anspricht.
Der junge Mann wird zudem Kritiker an verschiedenen Zeitungen, verbringt dort quasi eine Lehrzeit des Schreibens von sieben Jahren – und bleibt doch durch und durch Theatermensch: wenn er vorträgt, spielt er Literatur, versteht sich selbst als Epigone - „Ich bin nur einer von den Epigonen, / die in dem alten Haus der Sprache wohnen. // …“ heißt es im Bekenntnis. - So trägt er neben den eigenen Dichtungen alle Großen der Literatur vor und entdeckt die nahezu vergessenen Nestroy und Raimund wieder, vermag die beiden - wie hernach auch Jaques Offenbach - zu aktualisieren, indem er deren Verse ergänzt und (aktuelle) Zeitstrophen anhängt: gelebtes Kabarett! Und wer, wenn nicht der einzige andere deutsche Satiriker dieser Zeit neben Karl Kraus könnte Lesungen besser beschreiben?
Nehmen wir „die Dramatisierung des Dokumentarischen“ [RB] –
„… Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik. Das Dokument ist Figur; Berichte erstehen als Gestalten, Gestalten verenden als Leitartikel; das Feuilleton bekam einen Mund, der es monologisch von sich gibt; Phrasen stehen auf zwei Beinen …“ [D, Vorwort] -
mit ca. 220 Szenen und mehr als 500 zumeist historischen Figuren, im deutschsprachigen Raum nur noch mit dem Faust-Projekt zu vergleichen - Die letzten Tage der Menschheit, das weniger fürs Theater als für den Leser gedacht ist, denn Literatur i. S. v. Kraus wird mit Auge und Ohr geschrieben, Sinne und Phantasie können sich nur dem Leser voll entfalten und „gewiss, der Leser hört auch besser als der Hörer. Diesem bleibt ein Schall.“ [zitiert bei Früh, 225 und Schick, 61]. Spätestens mit diesem Drama ist Karl Kraus in der Weltliteratur angelangt! „Der 1.August 1914 machte aus dem österreichischen Problem für ihn [Karl Kraus] ein Weltproblem, …“ [Simon, 510] – als wäre es scheinbar kein globales Problem, verniedlicht Dietrich Simon 40 Jahre nach Ende des Zweiten Dreißigjährigen (1914 – 1945) und in der Dämmerung des Kalten Krieges mit dem Ende eines sozialdemokratischen Jahrzehntes dem Siegeszug und der Rückkehr des Manchester-Kapitalismus abschließen wird, und erkennt doch darin die „Fortsetzung des imperialistischen Friedens“. [ebd., 510 f.]
Zwei Lesungen hat Tucholsky festgehalten: „Dienstag abend … las Kraus aus seinen Schriften. / Und aus diesen schrecklichen, unerbittlich grausamen Schriften stieg jener Klang auf, der entsteht, wenn ein blutiges Kreuz mit der Welt zusammenstößt – aus jeder Zeile ruft: »Wie weit habt ihr euch von Güte und Liebe entfernt!« – Er las Szenen aus den ›Letzten Tagen der Menschheit‹, einem zyklopischen, unaufführbaren Drama – unaufführbar deshalb, weil der Reichtum, unbekümmert um dramatische Gesetze, über die Ränder der Form quillt. Darin ist Kraus wie Rabelais: unbekümmert um die Wirkung. Man könnte getrost dies und das streichen – aus dem Gestrichenen machte ein anderer ein neues Stück. / Aber was will das alles gegen Form und Inhalt besagen! Form: letzte Schleifung des Wortes, dem jener der treueste Diener ist – die Sprache verrät sich in ihren Bildern selbst, sie enthüllt den Sprechenden und enthüllt eine Epoche, die, unfähig sich neue Formen zu bilden, ihre Embleme aus einer vergangenen Zeit nimmt, ohne ahnen zu lassen, dass sie nicht mehr passen. (»Der Staat zog das Schwert.« Kein Wort wahr: die Büros schrieben eine neue Steuer aus.) Form: Durchblutung des Wortes, feinstes Gefühl für die Nuance, für den Dialekt, für die kleinen Sprachbequemlichkeiten, die sich der oder jener erlaubt. Der norddeutsche Dialekt ist manchmal nur mit einem Wort angedeutet – und der ganze Kerl steht vor einem. / Inhalt. Diese Dinge sind zum allergrößten Teil in den Kriegsjahren geschrieben worden. Dieser infernalische Hass gegen eine große Zeit, diese unbedingte Ablehnung, durch nichts zu erschütternde Ablehnung des Blutvergießens ist damals eine Tat gewesen. Heute schreibt dergleichen die halbe Schweiz und ein Zehntel Deutschlands, und das will nicht viel besagen. Aber damals, als die Wellen der vaterländischen Begeisterung allzu hoch gingen – damals dergleichen gewagt und gesagt zu haben: das will etwas bedeuten. Und er hats gewagt. / Das Wort »Du sollst nicht töten« prallt mit dem andern vom »Gehorsam gegen die Obrigkeit« zusammen – und das große Wort gewinnt Macht über das kleine utilitaristische. Du sollst nicht töten ... ! Und ein so konstruiertes Auge sah sich nun die große Zeit an und zeichnete ihre schrecklichsten Bilder. / Was hier gestaltet ist, mag sich oft erst nach der Gestaltung ereignet haben. Und was sich nicht ereignet hat, das hat nur vergessen, sich zu ereignen – so grauenhaft echt ist das alles. Die großen Worte fallen ab, und es bleibt eine ungeheure Kulturschande, die durch nichts zu entschuldigen ist. / Der Vorleser Kraus ist einer der stärksten Eindrücke. Er sieht fast niemals auf, er liest richtig vor – nur manchmal beschreiben diese seltsamen schmalen Finger einen Halbkreis oder sie zeichnen eine Geste übertrieben auf ... nur die Stimme herrscht. Nein: der Wille herrscht. Seine Stirnader schwillt. Mit ungeheurer Intensität bricht das Geschriebene und Erlebte noch einmal heraus – eine Eruption seltenen Grades. Er darf es wagen, entgegen allen Vortragsgesetzen, fortissimo zu beginnen und andante fortzufahren – weil es wahr ist, in jedem Augenblick wahr. Schrei auf Schrei entringt sich dieser gequälten Brust, Ruf auf Ruf, Klage auf Klage. Und Anklage auf Anklage ... / »Ich habe sie in Schatten geformt«, heißt es einmal. Das hat er. Wie Schemen, aber erschrecklich lebendig, tanzen diese bunten Burschen noch einmal vorbei, wie Schemen kichert das und posaunt und telegrafiert und hält Reden auf einem Bankett – seltsam tot und seltsam lebendig. Es gibt ja schließlich bei diesen Dingen nur ein Kriterium: die Gänsehaut. Und hier ist Pathos, das keinen rationalistischen Witz verträgt, der glatt und matt herunterfallen würde. // Du sollst nicht töten ... ! Das ist eine harte Forderung, eine unbequeme Forderung, eine unrationalistische Forderung. Er vertritt sie, er schreit sie hinaus, er pocht mit ehernem gekrümmten Knöchel an die Tür des Todes, die mit den Landesfarben angemalt ist. Und es klingt hohl ... / Dies ist keine Parteiangelegenheit und keine Landesfrage. Hier ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung, Politik und sein rotes, reines Herzblut.“ [Tucholsky] Und im gleichen Jahr: „Am Freitag las Karl Kraus … aus seinen Schriften – Karl Kraus, der Wiener Herausgeber der Fackel, die im Kriege so vielen dunklen Köpfen vorangeleuchtet hat. Er las künstlerisch Gestaltetes aus der großen Zeit. / Gestank steigt auf, es war, als ob ein geschichtliches Grammophon zurückgedreht wurde, die herrliche, die große Zeit stand noch einmal da im bunten Glanze all ihrer Uniformen – Hurra! Fürsten, Könige, Universitätsprofessoren, Durchhalter aller Kaliber, Presselumpen, Schmöcke, Offiziere und Huren – all das Gelichter ließ er noch einmal erstehen. Und es erstand und war lebendig – Kraus sagt einmal selbst, es sei die tragische Pflicht seiner Figur, vor alles, was wirklich geschehen sei, nur die Anführungsstriche zu setzen, und dann glauben die Leute, er habe es erfunden. So etwas gebe es nicht – so etwas könne man nur erfinden ... Aber es ist immer wahr gewesen. / Tot ist die Zeit, und so lebendig! Hat sich denn etwas geändert? Wenn man diese Vorlesung hörte, muss man sagen: kaum. Kraus las aus seinem gewaltigen Drama »Die letzten Tage der Menschheit« – das in Zeitungsausschnitten, Reden, Zitaten und Presseberichten das Jammerbild dieser großen Jammerzeit in fotografischer Treue wiedergibt. Ein Tosen ging durch den Saal, als Kraus meisterhaft leise und klar von der Audienz vortrug, die Seine Majestät der Kaiser dem Wiener Schriftsteller Hans Müller in der Wiener Hofburg gewährt hatte und nach der beide, hoch voneinander entzückt, geschieden waren: »Dass der Kaiser auf einen Brünner Juden hereinfällt, das ist ja weiter kein Wunder – aber dass ein Brünner Jud auf den Kaiser hereinfällt ... !« Nur eine schüchterne Pfeife sang leise das Lied von der deutschen Mannentreue in den Jubel ... / Aber der Höhepunkt des Abends war doch der Brief, den Rosa Luxemburg im Jahre 1917 aus dem preußischen Weibergefängnis in Luckau an Sophie Liebknecht geschrieben hat. Wie in diesem Brief da das Weh einer ganzen Menschheit klagt, […], der unvergessenen Frau Tränen entlockten – »und ich weinte ihre Tränen!« –, das brannte sich in die Herzen. Und bei diesen Worten: »Und der ganze herrliche Krieg zog an mir vorbei« dachten wir der Toten. / Hat sich etwas gewandelt? Der Saal erbrauste, und Kraus verneigte sich. Hier in Berlin wäre er längst ein toter Mann – er hätte sich sicherlich seiner – ungesetzlichen – Verhaftung durch die Flucht entzogen und wäre unterwegs auf einem Transport abhanden gekommen. Wohl ihm, dass er in Wien lebt. / Hat sich etwas gewandelt? Nein. Und wir schieden von Karl Kraus, im Ohr diese Worte: / »Und Kaiserreiche haben Präsidenten an der Spitze!«“
Die Bedrohung, die im Satz „Hier in Berlin wäre er längst ein toter Mann …“ mitschwingt, erkennt nicht nur Tucholsky. Bereits jetzt sieht Kraus, wie die Niedertracht unsterblich bleibt, die dem zweiten Reich ein Drittes folgen lassen wird und gerade erst den Ersten überdauert, um den Zweiten Weltkrieg vorzubereiten, wenn die „Hakenkreuzottern“ [F 601-607, 41] „das Hakenkreuz über den Trümmern des Weltbrands“ [F 557, 59] im Januar 1921 als „Weihnachtsgeschenke“ [ebd., 58] erkennt. Man lese nicht nur Karl Kraus, man lese auch das Nachwort des Eckart Früh zur Theaterfassung! Aber die Tendenzen werden schon im Drama selbst angeführt, wenn der bereits weiter oben genannte Nörgler – der durchaus mit der Person des Karl Kraus gleichgesetzt werden kann - auf den Einwand des Optimisten, „jeder Krieg wurde doch noch durch einen Frieden beendigt“, argumentiert: „Dieser nicht. Er hat sich nicht an der Oberfläche des Lebens abgespielt, sondern im Leben selbst gewütet. Die Front ist ins Hinterland hineingewachsen. Sie wird dort bleiben. Und dem veränderten Leben, wenns dann noch eines gibt, gesellt sich der alte Geisteszustand. Die Welt geht unter, und man wird es nicht wissen. Alles was gestern war, wird man vergessen haben; was heute ist, nicht sehen; was morgen kommt, nicht fürchten. Man wird vergessen haben, dass man den Krieg verloren, vergessen haben, daß man ihn begonnen, vergessen, dass man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.
Der Optimist: Aber wenn nur erst der Frieden da ist*– / Der Nörgler: – so wird man vom Krieg nicht genug kriegen können! / Der Optimist: Sie nörgeln selbst an der Zukunft. Ich bin und bleibe Optimist. Die Völker werden durch Schaden*– / Der Nörgler: – dumm. …!“ [D V,49]
Die postum veröffentlichte dritte Walpurgisnacht verrät trotz aller Irrtümer, dass man zwar nicht alles, aber doch schon vieles erkennen konnte, als wehte die Windfahne aus dem Walpurgisnachtstraum in diese und jene Richtung: „Gesellschaft wie man wünschen kann. / Wahrhaftig lauter Bräute! / Und Junggesellen, Mann für Mann, / Die hoffnungsvollsten Leute. // Und tut sich nicht der Boden auf / Sie alle zu verschlingen, / So will ich mit behendem Lauf / Gleich in die Hölle springen.“ [Faust 1, 4295 - 4302]
„Mir fällt zu Hitler nichts ein“
schreibt unser Held im Mai 1933 [Schick, 128] nieder und es ist die vielleicht bekannteste Aussage Kraus’ und zugleich der geniale erste Satz der Dritten Walpurgisnacht - auch hier im Titel der Verweis auf den Faust. Selbstverständlich ist es nicht die ganze Wahrheit, was bei einem Mann wie Karl Kraus, der ein Leben lang über Sprache, Literatur und Lüge gearbeitet hat, auch nicht verwundern darf. Als nämlich Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wird und Nationalsozialisten im romantischen Fackelzug durch das Brandenburger Tor marschieren, verstummt der Publizist auf über dreihundert Seiten (wie wir seit der postumen Veröffentlichung von 1952 dank Heinrich Fischer wissen) seines letzten großen Werkes und während alle Welt hämisch „Nachrufe“ und „Grabreden“ auf ihn verfasst – Kraus selbst hat eine Auswahl daraus zu einem Band der Fackel im Juli 1934 [F 889] zusammengefasst. Allein Bert Brecht äußert Verständnis:
„Als das dritte Reich gegründet war / kam von dem Beredten nur eine kleine Botschaft. / In einem zehnzeiligen Gedicht / erhob sich seine Stimme, einzig um zu klagen / dass sie nicht ausreiche. // Wenn die Gräuel ein bestimmtes Maß erreicht haben / gehen die Beispiele aus. / Die Untaten vermehren sich / und die Weherufe verstummen. / Die Verbrechen gehen frech auf die Straße / und spotten laut der Beschreibung. // Dem, der gewürgt wird / bleibt das Wort im Halse stecken. / Stille breitet sich aus und von weitem / erscheint sie als Billigung. / Der Sieg der Gewalt / scheint vollständig …“ [BB]. Die zehn Zeilen Kraus' lauten: „Man frage nicht, was all die Zeit ich machte. / Ich bleibe stumm; / und sage nicht, warum. / Und Stille gibt es, da die Erde krachte. / Kein Wort, das traf; / man spricht nur aus dem Schlaf. / Und träumt von einer Sonne, welche lachte. / Es geht vorbei; / nachher war’s einerlei. / Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“ [F 888, 4]
Dann doch noch - im Sommer 1934, endlich, begründet Kraus seine Haltung in dem Essay Warum die Fackel nicht erscheint [F 890 – 905], sich dessen bewusst, hinter den Erwartungen auf die abgelaufenen Ereignisse zurückzubleiben und er zitiert aus der Einleitung zur Walpurgisnacht: „Mir fällt zu Hitler nichts ein. Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem Resultat längeren Nachdenkens und vielfacher Versuche, das Ereignis und die bewegende Kraft zu erfassen, beträchtlich hinter den Erwartungen zurückbleibe. Denn sie waren vielleicht höher gespannt als jemals gegenüber dem Zeitpolemiker, von dem ein populäres Missverständnis die Leistung verlangt, die als Stellungnahme bezeichnet wird, und der ja, sooft ein Übel nur einigermaßen seiner Anregbarkeit entgegenkam, auch das getan hat, was man die Stirn bieten nennt. Aber es gibt Übel, vor denen sie nicht bloß aufhört, eine Metapher zu sein, sondern das Gehirn hinter ihr, das doch an solchen Handlungen seinen Anteil hat, sich keines Gedankens mehr fähig dächte. Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen, und wenn ich, bevor ich es wäre, mich gleichwohl nicht begnügen möchte, so sprachlos zu scheinen, wie ich bin, so gehorche ich dem Zwang, auch über ein Versagen Rechenschaft zu geben, Aufschluss über die Lage, in die mich ein so vollkommener Umsturz im deutschen Sprachbereich versetzt hat, über das persönliche Erschlaffen bei Erweckung einer Nation und Aufrichtung einer Diktatur, die heute alles beherrscht außer der Sprache.“ In allem Pessimismus klingt jedoch auch ein makabrer Optimismus an, wenn die Frage gestellt wird, was nach dem Grauen käme. „Es wird vorübergehen wie eine Marschkolonne; aber die Frage ist, was zurückbleibt.“ [ebd., 138]
Kraus erkennt den Hitlerfaschismus - 15 oder mehr Jahre vor Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung! durch Adorno und Horkheimer - als Zivilisationsbruch: der Anspruch einer fortschrittsgläubigen Aufklärung schlägt um in Irrationalismus und fällt in Barbarei zurück. Aus ihm bekanntgewordenen Ereignissen der ersten Monate schließt er, dass „was hier geschah, wahrlich nach dem Plan geschehen, die Menschheit unter Beibehaltung einer Apparatur, die Schuld an ihrer Entartung trägt, auf den Zustand vor dem Sündenfall zurückzubringen und das Leben des Staats, der Wirtschaft, der kulturellen Übung auf die einfachste Formel: die der Vernichtung“ [W,11] von wohldefinierter, weil unliebsamer Konkurrenten - siehe dem Judenboykott vom 1. 4. 1933, mit dem man sich mühe- und vor allem gefahrlos fremdes Eigentum aneignen und gleichzeitig erfolgreiche Karrieren zerstören konnte. „Um zu sagen, was geschah, kann es die Sprache nur stammelnd nachsprechen. Denn es ist ein Moment im Völkerleben, der insofern Größe nicht entbehrt, als bei elektrischem Licht, ja mit allen Behelfen der Radiotechnik an den Urstand angeknüpft wird und ein Umschwung in allen Lebensverhältnissen eintritt, nicht selten durch den Tod. Der Mensch holt vom Himmel seine Rechte, und davor sei Gott behütet; Blut beweist sich durch Blut; knechtischer Befehl bricht in Leben, Freiheit und Besitz, denn ihm sind Gesinnung und Geburt verantwortlich; über Nacht geschah es; und jede weitere Nacht lebst du in Erwartung; »nach berstandener Gewalt versöhnt ein schöner Aufenthalt«. Viele Berufene kamen über wenige Auserwählte, und sind nicht alle befriedigt; doch Ideale nahmen sie dazu, ihr Hand werk zu veredeln; vom Grunde kam es, zu Grunde geht es, von einem mystischen Punkt ist der soziale Ausgleich regiert. Ordnung beginnt zu herrschen: hält man sich die Ohren zu, hört man kein Stöhnen mehr.“ [ebd., 5 f.] Und zugegeben: es überfordert das schlichte Gemüt des Ohnemichels: „Gleichzeitigkeit von Elektrotechnik und Mythos, Atomzertrümmerung und Scheiterhaufen, von allem, was es schon und nicht mehr gibt! Rings nichts als Staunen vor dem Wunder einer Staatswirklichkeit, die bis zum Paragraphen aus dem Rausch geboren ward, für die Volkswirtschaft versorgt mit dem Judenboykott und darüber hinaus mit den Weisungen der Norne Verdhandi, welche das Seiende regelt. Ich frage mich, wie solche Erhebung nicht deprimieren sollte, was an geistiger Entschlusskraft in einem Gemüt noch vorhanden und von den Strapazen der Kriegs- und Nachkriegsjahre nicht verbraucht war. Beim Weltuntergang will ich privatisieren“, [ebd., 18 f.] aber doch auf den Bruch hinweisen! Eher 400 denn nur bescheidene 300 Gesetze - Statistiker mögen mir die Grobheit verzeihn!, Nasen- und Erbsenzähler mögen’s mit Aschenputtel oder sonst wem treiben - sichern und legalisieren in den ersten eineinhalb Jahren den kommenden Staatsterror - „wie der Wahn Normenhaft waltet und das Chaos täglich die Einrichtung besorgt – teils glaubt man dem Wunder, teils ist man davon überwältigt. »Wie konnte das geschehn?« Es konnte, weil eine Minorität sich der vorhandenen Waffen bemächtigt hat, um neue zu schaffen, und nun jeweils als Mehrheit den bezwungenen Gruppen und den wehrlosen Einzelnen gegenübersteht“ [ebd., 338], was klingt, als wär’s von heute, da eine Horde von Finanzhaien der Welt diktiert, wie sie zu gestalten sei und die Medienwelt spielt mit, wenn sie z. B. den Börsen Sondersendungen gewährt zum Lobe eines bescheidenen Prozentes der Bevölkerung, das zudem Hungerlöhne in die Welt setzt.
Ein letztes Mal wird er sich zu seinem Schweigen in einer Offenbach-Lesung am 11. November 1935 äußern, wenn er zur Kreolin eine zusätzliche Strophe anfügt: „Dass mir zu Hitler nichts fiel ein, / schuf manchem Trottel Kopfzerbrechen. / Er schien von mir sich zu versprechen, / ich würde die Welt vom Wahn befrein. / Europas Macht gleicht einem Wurm, / der kriecht, bevor der Tritt ihn trifft. / Es starb das Wort, es starb die Schrift, / vielleicht erleben wir’s, dass jener Wahn zerstiebet / wie Spreu im Sturm.“ [Schick, 134 und S, 525] Aber zu schweigen ist einem, der mit dem Wort verantwortlich umgehen will ein legitimes Mittel und hat bei Kraus ein kleine Tradition.
Danse macabre und Endzeitprosa des Dreißigjährigen Krieges
„Der Fortschritt macht Portemonnaies aus Menschenhaut.“ [F 287,11]
Zwischen dem Selbstmord des (liberalen) Kronprinzen Rudolf 1889 (Stichwort: Mayerling) und der doppelten Ermordung seiner (ausgleichenden) Mutter Elisabeth 1898 und späterhin durch die Medien Gemeuchelte bürgerliche Rosemarie Albach (Stichwort: Sissi), über die vielfachen Kriegsanlässe um die Jahrhundertwende nicht nur auf dem Balkan bis hin zum Mord an Franz Ferdinand 1914 gibt die Doppelmonarchie wenig Anlass zu Optimismus, dass trotz der anfänglichen Kriegsbegeisterung selbst dem kleinen Mann bewusst sein kann, in einer Endzeit zu leben. In dieser Zeit ist Kraus nicht der einzige, aber der wortgewaltigste Apokalyptiker, der freilich jeder Geschichtsphilosophie abgeneigt ist.
Edward Timms hat aus den archetypischen, mythischen und literarischen Bezügen im Werk Karl Kraus’ einige Denkmuster herausgearbeit: „Das erste Paradigma ist das Motiv der Maskerade und des Karnevals. Der Zyklus des Karnevals vor der Fastenzeit weist auf das unausweichliche Näherkommen des Aschermittwochs hin, des Augenblicks der Wahrheit, wenn die Masken abgelegt werden und die Sünder wieder Sack und Asche tragen müssen. Das zweite Grundmotiv ist das des Gerichts. Das Leben stellt sich - für Kraus wie für Kafka – als langwieriges Gerichtsverfahren dar, das freilich zu einem endgültigen Urteilsspruch führen wird, so willkürlich die Verschleppungen durch die Justiz auch sein mögen. Das Motiv des Urteils hängt wiederum mit dem dritten, fundamentalsten Archetypus zusammen, der Kraus' Weitsicht prägt: mit der Vorstellung eines durchgängigen kosmischen Plans, von der biblischen Schöpfungsgeschichte bis zur unmittelbar bevorstehenden Apokalypse.“ [Timms, 95]
Schon mit dem ersten Heft der Fackel ist Kraus’ selbstgestellte Aufgabe, die Schrift an der Wand zu lesen „Dem durch keine Parteibrille getrübten Blick muss doppelt deutlich sich das Mene Tekel zeigen, welches dräuend in unserer durch Altarkerzen verstärkten Finsternis zuweilen aufleuchtet. Aber die Sprachgelehrten wissen es nicht zu deuten, …“ [F 1, 2, nach Daniel 5,26] Was mit Enthüllungen im „kleinem Maßstab - mit der Demaskierung von Heuchlern, der Aufdeckung von Korruption, der Kritik an der österreichischen Maskerade“ im April 1899 beginnt, steigert sich zur Offenbarung und apokalyptischen Vision. Die Zivilisation, wie wir sie kennen, wird durch schrankenlose technologische Entwicklung in die Lage versetzt, sich selbst zu vernichten. „Der Mythos von der Apokalypse erweist sich damit als ein zuverlässigeres Leitbild als jene rationalen historischen ErklärungsmodelIe“, die in jener Zeit im Schwange sind. [Timms, 97] Im Mai 1918 ahnt Kraus schon voraus, dass das „technoromantische Abenteuer“ schon bald ermöglichen werde, ganze Städte auf Knopfdruck auszulöschen [F 474-83, 43]. Er formuliert zugleich eine Kritik am (bloß technischen) Fortschritt, wenn der moderne Mensch Homo sapiens sapiens noch als der alte „Troglodyt“ [F 781-86, 22] mit Harry Potter im Gepäck und dem iPod in der Hand durchs Neandertal stapft - freilich dann einem entlaubten Gebiet zwischen Düsseldorf und Wuppertal, dass Kraus moderner und aufgeklärter als alles elektronische Gepiepse und Gepupse läute: „Wenn ich nur ein Telephon habe, der Wald wird sich finden! Ohne Telephon kann man nur deshalb nicht leben, weil es das Telephon gibt. Ohne Wald wird man nicht leben können, auch wenn's längst keinen Wald mehr geben wird. Dies gilt für die Menschheit. Wer über ihren Idealen lebt, wird doch ein Sklave ihrer Bedürfnisse sein und leichter Ersatz für den Wald als für das Telephon finden. Die Phantasie hat ein Surrogat an der Technik gefunden; die Technik ist ein Surrogat, für das es keines gibt. Die Andern, die nicht den Wald, wohl aber das Telephon in sich haben, werden daran verarmen, dass es außen keine Wälder gibt. Die gibt es nicht, weil es innen und außen Telephone gibt. Aber weil es sie gibt, kann man ohne sie nicht leben. Denn die technischen Dinge hängen mit dem Geist so zusammen, dass eine Leere entsteht, weil sie da sind, und ein Vakuum, wenn sie nicht da sind. Was sich innerhalb der Zeit begibt, ist das unentbehrliche Nichts“, [F 445-53, 4] Die Phrase und mit ihr der Sumpf, in dem sie versinkt und hoffentlich ersäuft, ist Ausgeburt der Technik: der Medienwelt, die zu bestimmten Zeiten ihren angestellten oder freien Mitarbeitern, der Journaille am Tage Material verlangt über alles, was zwischenzeitlich gleich wo und wie in allen Lebensbereichen vorgefallen ist, muss journalistisch und ggfs. als Sensation aufbereitet sein. Die Phrase gleicht dem überflüssigen Ornament und Schnörkel, kurz: dem Staubfänger am Design. „Da Ornament und Redeblume am liebsten von einer Zeit getragen werden, deren Wesen dem verlorenen Sinn dieser Formen widerstrebt, und umso lieber, je weiter sie jenem Sinn entwachsen ist, ihr eigener Inhalt aber nie imstande sein wird, neue Ornamente und Redeblumen zu schaffen, so wird ein Staat noch »zum Schwerte greifen«, wenn es ihm schon längst geläufig sein wird, zum Gas zu greifen. Kann man sich denken, dass solcher Entschluss je zur Redensart werden könnte? Es sollte Aufschluss über die Technik geben, dass sie zwar keine neue Phrase bilden kann, aber den Geist der Menschheit in dem Zustand belässt, die alte nicht entbehren zu können. In diesem Zweierlei eines veränderten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform lebt und wächst das Weltübel. Die Zeit ist nicht phrasenbildend, aber phrasenvoll; und eben darum, aus heillosem Konflikt mit sich selbst, muss sie immer wieder zum Schwerte greifen. Die neue Begebenheit wird keine Redensart hervorbringen, wohl aber die alte Redensart die Begebenheit!“ [ebd., 15], oder wie er’s vordem auf einen Punkt bringt: „Die Entwicklung der Technik ist bei der Wehrlosigkeit vor der Technik angelangt“ [F 406-12, 163], nicht nur ein Bushranger konnte inzwischen Herr der stärksten Militärmacht der Welt werden, derweil man sich über unbotmäßige Satrapen und bestochene Strauchdiebe erregt, da sie den freien Markt und somit das Geschäft stören - eine Erkenntnis, die Karl Kraus am 19. November 1914 trotz Zensur vorträgt (und keine drei Wochen später in F 404 veröffentlichen kann). Mit einem „offenen Brief an das Publikum“ im Oktober 1908 [F 261–62,] hatte er schon die Apokalypse aufgegriffen, nach der die Menschheit in der Auflehnung wider die Natur unterliegen muss (hieraus stammen zwei der Eingangszitate).
„In dieser großen Zeit,
die ich noch gekannt habe“, heißt es im November 1914, „wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht —; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Missdeutung bewahrt“ [F 404, 1] - die Strategie also, die er in der dritten Walpurgisnacht dann konsequent praktizieren wird gegenüber dem Publikum, hier wird sie bereits begründet, selbst wenn er hier aber beredt bleibt, sich nicht fragen lässt, sondern Fragen stellt und Antworten findet, für die man keineswegs Marx studiert haben muss und die doch heute Bundespräsidenten stürzen ließen, wenn sie die denn aussprächen, die aber auch für einen Bourgeois, der er von der Herkunft her ist, selbst wenn er Citoyen sei, ungewöhnlich sind: „Ich weiß genau, dass es zuzeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit aus diesen wieder Absatzgebiete werden“, bis dahin heiße „Menschheit … Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft“ - als die sich die ökonomischen Theorien zu verkleiden wissen - „die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist nackt erschaffen und wird erst, wenn er Kleider verkauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu leben, kann philosophisch nicht bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit dieser Verrichtung von einem unablegbaren Mangel an Schamgefühl zeugt. Kultur ist die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter den Lebenszweck abtreten zu lassen.“ Und wieder die aphoristische, aber treffende Zuspitzung: „Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter das Lebensmittel. … Die äußerste Bejahung des Fortschritts gebietet nun längst, dass das Bedürfnis sich nach dem Angebot richte, dass wir essen, damit der andere satt werde, und dass der Hausierer noch unsern Gedanken unterbreche, wenn er uns bietet, was wir gerade nicht brauchen. Der Fortschritt, unter dessen Füßen das Gras trauert und der Wald zu Papier wird, aus dem die Blätter wachsen, er hat den Lebenszweck den Lebensmitteln subordiniert und uns zu Hilfsschrauben unserer Werkzeuge gemacht. Der Zahn der Zeit ist hohl; denn als er gesund war, kam die Hand, die vom Plombieren lebt. Wo alle Kraft angewandt wurde, das Leben reibungslos zu machen, bleibt nichts übrig, was dieser Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die Individualität leben, aber nicht mehr entstehen. Mit ihren Nervenwünschen mag sie dort gastieren, wo im Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne Gesicht und Gruß vorbei und vorwärts schieben. Als Schiedsrichter zwischen Naturwerten wird sie anders entscheiden. Gewiss nicht für die hiesige Halbheit, die ihr Geistesleben für die Propaganda ihrer Ware gerettet, sich einer Romantik der Lebensmittel ergeben und »die Kunst in den Dienst des Kaufmanns« gestellt hat“, was wir heute Neudeutsch Sponsoring nennen. „Die Tyrannei der Lebensnotwendigkeit gönnt ihren Sklaven dreierlei Freiheit: vom Geist die Meinung, von der Kunst die Unterhaltung und von der Liebe die Ausschweifung. Es gibt, Gott sei gedankt, noch Güter, die stecken bleiben, wenn Güter immer rollen sollen. Denn Zivilisation lebt am Ende doch von Kultur. Wenn die entsetzliche Stimme, die in diesen Tagen das Kommando übergellen darf, in der Sprache ihrer zudringlichen Phantastik den Reisenden auffordert, …“ – kann man dort nicht schon den kommenden Touristenstrom erahnen? – „ … die Fühlhörner auszustrecken und im Pulverdampf die Kundschaft abzutasten, wenn sie vor dem Unerhörten sich den heroischen Entschluss abringt, die Schlachtfelder für die Hyänen zu reklamieren, so hat sie etwas von jener trostlosen Aufrichtigkeit, mit der der Zeitgeist seine Märtyrer begrinst. Wohl, wir opfern uns auf für die Fertigware, wir konsumieren und leben so, dass das Mittel den Zweck konsumiere. Wohl, wenn ein Torpedo uns frommt, so sei es eher erlaubt, Gott zu lästern als ein Torpedo! Und Notwendigkeiten, die sich eine im Labyrinth der Ökonomie verirrte Welt gesetzt hat, fordern ihre Blutzeugen.“ [alle Zitate F 404, 4 ff.] Erkenntnisse, die auch in den letzten Tagen der Menschheit surreal und apokalyptisch umgesetzt werden, wenn zwei deutsche Kriegsgewinnler ein luxuriöses Leben in der neutralen Schweiz genießen und doch gleich Wesen aus der Offenbarung des Johannes auftreten. Konsequent werden die deutschen Namen der Kompagnons durch alttestamentarische ersetzt: der eine, Siegfried, heißt nun Gog. Gog hieß nach Ezechiel ein mythischer König im Norden, dessen Reich Magog geheißen wurde. Wie das Reich heißt nun der Kompagnon.
Die Kompagnons, „zwei riesenhafte Fettkugeln, deren unbeschreibliche Formen mit menschlichen Maßen nicht bestimmbar sind“, nebst einer (des genannten Siegfried) Gattin finden wir in der Schweizer Hochbahn vor einer strahlenden „Schneelandschaft mit tiefblauem Himmel“ als Hintergrund. Als sich am Ende der Szene die kleine Gruppe bewegt, „ist es für einen Augenblick, als ob die Riesensilhouette eines schwarzen Flecks das in Weiß und Blau strahlende Weltall verdeckte.“ Die beiden Männer schwadronieren mit Berliner Schnauze über Vernichtungskapazitäten moderner Waffensysteme wie ihre Kunstsammlung so gut als über eine künftige Friedensordnung und Absatzgebiete zu ihrem Wohle. „Wer in diesem Kriege nicht reich wird, verdient nicht, ihn zu erleben“, behauptet Magog. Kriegstreiber sind – selbstverständlich – die andern! Selbsttäuschung führt zu Größenwahn und Absurditäten. „Gog: …Wir müssen die Schweiz säubern! Auf der Zürcher Straßenbahn hat einer neulich französisch jesprochen! Da habe ich denn jleich Krach jemacht und dem Mann auf den Kopf zujesagt, daß Neutralitätsbruch vorliege. Hätten Se ooch bei sein mögen. Der Bengel schwieg betroffen. Na und Elschen hat in Bern in 'ner Konditorei drauf bestanden, daß die Vakäuferin statt Crême Sahne sage. Die Sahne war zwar alle, aber Elschen ließ doch nicht locker. …“
Als aus dem Nebencoupé französisch gesungen wird, kommt diese Haltung noch einmal durch: „Gog: Unvaschämtheit! In 'nem neutralen Lande! Na die Jungen soll'n uns kennen lernen!“, und man singt das Deutschlandlied, bis der Gesang nebenan verstummt.
Als sie aussteigen, freuen sie sich über die frische Luft. „Nee, da braucht man keene Jassmaske! Hach – Jesundbrunn*–! Da hat doch Deutschland mal seinen Platz an der Sonne! 's is jut! 's is jut! (halb singend) Sie sollen ihn nicht ha-a-ben*–! Na Elschen? Biste froh, daß Männchen nich vatalandvateidchen muß, wat?“, schließt Gog. [D V,50]
Zur Orientierung sei gesagt, dass das Reich Gogs am Ende der Welt gegen das Volk Gottes kämpfen und untergehn wird. [Hezekiel 38 f.]
Walter Benjamin benennt „die Dreiheit: Schweigen, Wissen, Geistesgegenwart“ als konstutitiv für den Polemiker. „Sein Schweigen ist ein Stauwerk, vor dem das spiegelnde Bassin seines Wissens sich ständig vertieft. Seine Geistesgegenwart lässt sich keine Frage stellen, sie ist niemals willens, Grundsätzen, die einer ihr entgegenhält, zu entsprechen. Ihr erstes ist vielmehr, die Situation abzumontieren, die wahre Fragestellung, welche sie enthält, zu entdecken und sie statt aller Antwort dem Gegner zu präsentieren“ [Benjamin, Karl Kraus, I.] und beleuchtet Eitelkeit als Dämon des Karl Kraus als Selbstdarsteller, dem freilich nicht Selbstironie und somit Selbstkritik abgesagt werden kann, wie es Reich-Ranicki in der Nachfolge von Benjamin unterstellt [MRR].„Ich bin vielleicht der erste Fall eines Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt“ [F 389-90, 42 ] und hat doch erkannt, dass „das Lachen über Schauspielereitelkeit, Applausbedürfnis und dergleichen ist lächerlich. Die Theatermenschen brauchen den Beifall, um besser zu spielen; … Kaum einer wäre ein großer Schauspieler geworden, wenn das Publikum ohne Hände auf die Welt gekommen wäre“ [F 251-52, 38], eingeschlossen Karl Kraus, der auch eher rhetorisch anfragt „würde ich darum einem andern Schauspieler meinen Text anvertrauen?“ [F 389-90, 42 ], und vordem schon die Antwort gegeben hat: „Ich traue der Druckmaschine nicht, wenn ich ihr mein geschriebenes Wort überliefere. Wie kann ein Dramatiker sich auf den Mund eines Schauspielers verlassen!“ [F 272-73, 45]
Am zehnten Jahrestag des Kriegsausbruchs greift Kraus im Vortrag auf seine Novemberrede von 1914 zurück, wenn er anhebt „In dieser kleinen Zeit / die ich noch gekannt habe, wie sie so groß war; die wieder groß werden wird, wenn alle Seelenarmut, die ihr geblieben ist, aufstehen wird, dem unbesiegten Wahn zu opfern, ziemt dem Gedenken des Anbruchs ihrer heldischen Tage der Hinweis: Die »schauerliche Symphonie der Taten, die Berichte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden«, sie war in den vier dröhnenden Jahren, mit der Donnerstimme der vier apokalyptischen Tiere, nicht imstande, das Wort, das ihr entgegendrang, unhörbar zu machen. Es geschah, was man sich nicht mehr vorstellen konnte, und weil man es nicht mehr konnte, musste es geschehen. Aber die Sprache, in Subordination vor dem Unglück, konnte, als es begann, nur sagen, dass es unsäglich sei. Und so sagte ich, im November 1914 vor Lesern und vor Hörern, dass es eine große Zeit sei […] Den Weg von der Phrase zur unvorstellbaren Wirklichkeit sind jene nie gegangen, die ihn immer gewiesen haben, und der Zutritt zum Erlebnis ihrer Parolen blieb ihnen erspart. Dies verleiht ihnen die Kraft, stets von neuem der Überlebenden habhaft zu werden, die dem Erlebnis nichts als die Schwäche verdanken, es noch einmal erleben zu können, ja zu wollen. […] Längst wird im Ernstfall die Erde ein einziger Operationsraum für Todesstrahlen sein, aber dem Signal, das den Prinzen Eugen dazu hinüberrucken lässt, wird die Menschheit den Respekt nicht weigern. Denn ihre Verdummung durch Schaden, die in dem Riesenmaß der Entfernung technischer Errungenschaften von den Ornamenten zunimmt, ist eine so sinnfällige Tatsache, dass es geradezu rätselhaft scheint, wie diese Erfahrung noch kein Sprichwort absetzen mochte; … Wäre es anders, so wäre der Versuch des Teufels, ihnen das Hakenkreuz einzubrennen, am ersten Tage gescheitert. […] Denn sie tun nur, was sie sich befehlen lassen, nicht was sie freiwillig tun müssen, und sie entrinnen dem Zwang der Freiheit in Sklaverei. Keines der Feste, mit denen dieser Friede als die Wiedereinsetzung der Menschenehre zu weihen war, hat stattgefunden, und vor allen nicht das schönste: der Massenübertritt aus der Kirche zu Gott.“ [F 657-67, 1-6] Der Aufschrei endet mit Versen, die folgerichtig Pandora bezeichnet werden:
„Neues freut mich nicht, und ausgestattet
Ist genugsam dies Geschlecht zur Erde.
Freilich frönt es nur dem heut’gen Tage,
Gestrigen Ereignens denkt’s nur selten;
Was es litt, genoss, ihm ist’s verloren.
Selbst im Augenblicke greift es roh zu;
Fasst, was ihm begegnet, eignet’s an sich,
Wirft es weg, nicht sinnend, nicht bedenkend,
Wie man’s bilden möge höh’rem Nutzen.
Dieses tadl’ ich; aber Lehr’ und Rede,
Selbst ein Beispiel, wenig will es frommen.
Also schreiten sie mit Kinderleichtsinn
Und mit rohem Tasten in den Tag hin.
Möchten sie Vergangnes mehr beherz’gen,
Gegenwärt’ges, formend, mehr sich eignen,
Wär’ es gut für alle; solches wünscht’ ich.“
Hase, Igel und die Sprachprozessordnung
„Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“ [F 309-10, 40]
„Kunst ist das, was Welt wird, nicht was Welt ist.“ [F 338, 17]
„Zwei Läufer laufen zeitentlang,
der eine dreist, der andre bang:
Der von Nirgendher sein Ziel erwirbt;
der vom Ursprung kommt und am Wege stirbt.
Der von Nirgendher das Ziel erwarb,
macht Platz dem, der am Wege starb.
Und dieser, den es ewig bangt,
ist stets am Ursprung angelangt.“
Diese acht einfachen, aber genialen Zeilen aus dem April 1910 [F 300, 32] verbinden Mystik und Märchen, es variiert das Bild des Lebens als Wettlauf mit dem nicht zu erwartenden Ende wie in der Fabel von Hase und Igel. Man kann aber soziologische Kategorien wie den innen- und außengeleiteten Typ eines David Riesman sehen - der innengeleitete Läufer, der sich von Normen leiten lässt und eher vorsichtig agiert und dennoch an äußeren Zielen scheitert, der Außengeleitete wirkt erfolgreich, solange er sich anpasst und mitläuft - oder in motivationspsychologischen Kategorien in Anlehnung an C. G. Jung [so bei Timms, 317 f., hier auch weitere Varianten der Interpretation] – der Introvertierte, in sich selbstversunkene, Gefühl und Phantasie lebende, im äußeren Umgang mit den äußeren Dingen oft hilflose Mensch, und der Extravertierte, mit einer außen gewandten, weltoffenen und äußeren Einflüssen zugänglichen Einstellung. Selbst religiöse Motive lassen sich hineinlesen bis hin zur christlichen Verheißung, dass die Letzten die Ersten sein werden.
Man kann aber auch – wie sein Biograph [Schick, 65 ff.] – im Bild der zwei Läufer das Prinzip herausarbeiten, nach dem Kraus den künstlerischen Wert beurteilt., insofern ihm „Ursprung“ als Inbegriff der Schöpfung gilt. Ethik und Ästhetik sind da unzertrennlich, jeder ist für sein Tun verantwortlich. Eine Kunst, die nicht gegen, sondern nur für heute ist, dient dem Zeitvertreib, ohne dass sie die Zeit vertreibt. Anpassung an den Betrieb bedeutet künstlerisch den Tod. „Steht die Kunst tagsüber im Dienste des Kaufmanns, so ist der Abend seiner Erholung an ihr gewidmet. Das ist viel verlangt von der Kunst, aber sie und der Kaufmann schaffen es“ [F 445-53, 17], oder zuvor sarkastischer formuliert, dass der reine „Ästhet […] sich zur Schönheit [verhält] wie der Pornograph zur Liebe und wie der Politiker zum Leben.“ [F 406-12, 138]
Ein nächster Zusammenhang tut sich auf, wenn wir bedenken, dass Kraus ganz in der literarischen Tradition lebt. Wie spricht doch noch Faust zu Wagner: „Faust: Du bist dir nur des einen Triebs bewusst, / O lerne nie den andern kennen! / Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt, mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust, / Zu den Gefilden hoher Ahnen. / …“ [Faust 1,1110 ff.]
Und Timms – den die unterschiedlichen Deutungen nicht befriedigen – leuchtet ein, dass beide Läufer widerstreitende Impulse ein und derselben Person sind! „Das Tempo des modemen Lebens, das im Bild des Wettlaufs anschaulich wird, verschärft die Spannung noch. Die gesellschaftliche Rolle, die man gezwungenermaßen übernehmen muss, erscheint einem fremd, von »nirgendher« kommend; dennoch ist sie ein not-wendiges Mittel zum Zweck, und der Zweck heißt Erfolg. Sie sichert einem eine Position, in der das unterdrückte innere Selbst seine alten Ansprüche endlich durchsetzen kann. Psychologisch gesehen ist Kraus' Allegorie der modemen Kultur damit auch ein Gleichnis der Ich-Spaltung, des geteilten Selbst.“ [Timms, 320] Während aber anderen Autoren im Doppelgängermotiv das geteilte Selbst thematisiert wird, suche Kraus das „Beisichsein“, genauer: bei sich zu bleiben, und suche Zuflucht im Schweigen – wie es schon Walter Benjamin diagnostiziert hat -, selbst wenn das Theater der Dichtung und damit die öffentliche „Bühne dem frechen und aggressiven öffentlichen Selbst überlassen bleibt. Kraus' Reaktion auf die Zwänge der Entfremdung ist tragisch im Ton, nicht ironisch. Die Spaltung des Ich ist ihm nicht bloß literarisches Thema, sie wird zu einer Überlebensstrategie“ [ebd., 321 f.], mit Konsequenzen für seinen Glauben und die Liebe. Der Schlenker hin zum Katholizismus und nach der Erfahrung des Dogmengebäudes – „Religion, Moral und Patriotismus sind Gefühle, die sich erst dann bekunden, wenn sie verletzt werden. Der Sprachgebrauch, welcher sagt, dass einer, der leicht zu beleidigen ist, »gern« beleidigt ist, hat recht. Jene Gefühle lieben nichts so sehr wie ihre Kränkung, und sie leben ordentlich auf in der Beschwerde über den Gottlosen, den Sittenlosen, den Vaterlandslosen. Den Hut vor der Monstranz zu ziehen, ist bei weitem keine so große Genugtuung wie ihn jenen vom Kopf zu schlagen, die andersgläubig oder kurzsichtig sind.“ [F 267-68, 6] Und trotz zahlreicher Beziehungen zurückschreckt, eine Familie zu gründen. Sie wäre ein Eingriff in das Privatleben, so „dass ein Dichter keine Familie gründen dürfe“, [Schick, 74] – schließlich habe „das Wort »Familienbande« … einen Beigeschmack von Wahrheit.“ [F 237, 6]
Vielleicht hat ein solcher Aphorismus mit dem Beigeschmack bitterer Wahrheit das Interesse der Margarete Mitscherlich „als Psychoanalytekerin“ an Karl Kraus gestärkt, um nach einem Wort Adornos „gewiss den Nagel nicht auf den Kopf" zu treffen [zitiert nach Deubzer]. Gleichwohl ist der Aufsatz Mitscherlichs nicht Ursache des Gerüchtes, Kraus wäre einer der erbittertsten Gegner der Psychoanalyse. Timms hat m. W. als erster die Beziehung richtig dargestellt. Kraus wie Sigmund Freud stellen die viktorianische Auffassung von Sittlichkeit in Frage – beiden erweitert sich die Analyse der Beziehungen der Geschlechter zur Kritik der Zivilisation - und diagnostizieren – wenn auch mit anderen Mitteln – die Psychopathologie des Alltagslebens, die sich vor allem in der Sprache und im Jargon der Medien wiederfindet. Mit dem Schreiben vom 2. Oktober 1904 „Ein Leser, der nicht sehr oft Ihr Anhänger sein kann, beglückwünscht Sie zu der Einsicht, zu dem Mute und zur Fähigkeit, im Kleinen das Große zu erkennen, …“ [F 257-58, 40] gibt sich Freud als regelmäßiger Leser der Fackel zu erkennen.
Tatsächlich schafft Freud mit seiner Psychologie auch der Kunst und ihrer Kritik subtile Hilfsmittel der Analyse. Allein der Begriff der unbewussten Motivation schenkt der Kritik angewendet auf literarische Gestalten bisher ungewohnte Feinheiten der Deutung, beim schöpferischen Prozess ein anderes Verständnis des Spiels der Phantasie; freilich: auf Autoren angewandt wird die Kreativität auf neurotische Impulse / pathologische Symptome zurückgeführt [Vgl. hierzu etwa den an anderer Stelle bereits besprochenen Bd. X der Studienausgabe Freuds]. Wenn Werk oder Autor wie ein Patient behandelt wird, verstößt die neue Psychologie gegen ein Axiom Freuds, nach dem der Zugang zum Unbewussten nur möglich sei, indem der Patient aktiv beteiligt werde. Pathographen, die sich Jünger Freuds schelten, ziehen her über Kleist, Grillparzer, Lenau, C. F. Meyer als auch Wagner her. Kunst psychopathologisch zu erklären, pervertiert die Freud’sche Theorie. „Die Empfindung, dass Kunst nicht aus Verdrängung, sondern aus der Freisetzung erotischer Impulse entsteht, rückt Freuds Auffassung vom Künstler in die Nähe der Einstellung Kraus'. Der Unterschied ist eher graduell als prinzipiell“ [Timms,161], und beide erregen Ärgernis, wobei der kühle wissenschaftliche Ton die Leser „womöglich noch mehr als Kraus durch seine satirische Heftigkeit“, beiden ist sprachlicher Witz „ein Mittel , den Deckmantel der selbstgefälligen Rationalität ihrer Epoche zu durchlöchern.“ Darum bewundert Kraus nicht nur die Traumdeutung, sondern erst recht den Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, deren Beobachtungen „eine Fülle von Beobachtungen [enthält], die für die Strategie der Satire von Belang sind.“ [aaO, 162] Verdichtung und Mischwortbildung treffen ebenso auf Kraus’ Arbeitsweise zu wie der Hinweis beim tendenziösen Witz, bei dem der Erzähler sich nicht nur auf ein bestimmtes Ziel richtet, sondern Zustimmung einer dritten Person erlangen will. Witze zu Institutionen oder Moral gelingen, sofern sie Zwänge der Erziehung erfolgreich unterlaufen. „Sie bewirken eine wohltuende Befreiung von Hemmungen und ermöglichen so die Erkenntnis von Wahrheiten, denen der logische Verstand sich widersetzt hätte.“ [aaO, 163] Das „launige Spiel mit der Sprache“ vermag Verdrängtes wieder hervorzuholen. Was beim Witz bewusst vorgeht, ist im Traum ein unbewusster Vorgang, doch allemal geht es darum, den Zensor zu überlisten.
Beide, Freud wie Kraus, stehen in der Tradition der Buchreligion und erliegen der Magie der Sprache.
„Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß.“ [272-73, 48] So begegnet uns in der Beziehung der Geschlechter die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft. Doch will da die Magd überhaupt Herrin werden? Dass die Herren an ihren Stühlen kleben, ist bekannt und überrascht weniger, als dass einer sich zum Knecht seiner Magd mache – weil es dem gemeinen Volk, das mit der Magd ja nur so umgeht, als Erniedrigung erscheinen muss. Aber wie, wenn es ein utopisches Verhältnis wäre und keiner dem andern untertan? Das hieße ich Gleichberechtigung! Simon hat recht, in der Kraus’schen Reflexion über Wort und Sprache vom „Philosophieren“ [Simon, 515 f.] zu sprechen. So unvollkommen diese Sprachphilosophie auch sein mag, in dem postum veröffentlichten Sammelband Die Sprache mit Aufsätzen aus der Fackel der Jahre 1915 bis 32 verdichten sich grammatische, sprach- und geschichtsphilosophische wie ästhetische Auslassungen und Deutungen zu einer Poetologie. Lyrik gilt ihm dabei als „höchste Form der Sprachkunst, weil nur in ihr Realität und Sprache durch das Subjekt vollständig zur Deckung gebracht werden können, was be- deutet, daß die Realität hier am vollständigsten in die Sprache hineingeholt werden kann.“ [ebd., 517] Sprachreflexion und lyrische Produktion hängen voneinander ab. „Stets und in jeder Form machte er sich einen Reim auf Ungereimtheiten des Weltgeschehens: ein Zeitkritiker, kein bloßer Zeitgenosse, ein Literatur-Durchschauer, kein bloßer Literatur-Liebhaber“ [Hartl, 5], was in einem Aufsatz vom April 1927 zu einem (da schon poetologischen) Gedicht vom November 1917 dargelegt werde: „Der Reim / Er ist das Ufer, wo sie landen, / sind zwei Gedanken einverstanden. / Hier sind sie es: die Paarung ist vollzogen. Zwei werden eins im Verständnis, und die Bindung, welche Gedicht heißt, ist so für alles, was noch folgen kann, zu spüren wie für alles, was vorherging; im Reim ist sie beschlossen. Landen und einverstanden: aus der Wortumgebung strömt es den zwei Gedanken zu, sie ans gemeinsame Ufer treibend. Kräfte sind es, die zueinander wollen, und münden im Reim wie im Kuss. Aber er war ihnen vorbestimmt, aus seiner eigenen Natur zog er sie an und gab ihnen das Vermögen, zu einander zu wollen, zu ihm selbst zu können. Er ist der Einklang, sie zusammenzuschließen, er bringt die Sphären, denen sie zugehören, zur vollkommenen Deckung. So wird er in Wahrheit zu dem, als was ihn der Vers definiert: zum Ziel ihrer spracherotischen Richtung, zu dem Punkt, nach dem die Lustfahrt geht. Sohin gelte als Grundsatz, dass jener Reim der dichterisch stärkste sein wird, der mit dem Klang zugleich der Zwang ist, zwei Empfindungs- oder Vorstellungswelten zur Angleichung zu bringen, sei es, dass sie kraft ihrer Naturen, gleichgestimmt oder antithetisch, zu einander streben, sei es, dass sie nun erst einander so angemessen, angedichtet scheinen, als wären sie es schon zuvor und immer gewesen. Ist diese Möglichkeit einmal gesetzt, so wird der Weg sichtbar, wie es gelingen mag, dem Reim eine Macht der Bindung // zu verleihen, die jenseits des bisher allein genehmigten Kriteriums der »Reinheit« waltet, ja vor der solche Ansprüche überhaupt nicht geltend gemacht werden könnten. Denn nicht das Richtmaß der Form, sondern das der Gestalt bestimmt seinen Wert.“ [Nr. 757—58, 1 f.] „Der Reim ist nur dann einer, wenn der Vers nach ihm verlangt, ihn herbeigerufen hat, so dass er als das Echo dieses Rufes tönt. Aber dieses Echo hat es auch in sich, den Ruf hervorzurufen. Die zwei Gedanken müssen so in ihm einverstanden sein, dass sie aus ihm in den Vers zurückentwickelt werden könnten. Herz — Schmerz, Sonne — Wonne: dergleichen war ursprünglich ein großes Gedicht, als die verkürzteste Form, die noch den Gefühls- oder Anschauungsinhalt einschließen kann. Wie viel sprachliches Schwergewicht müsste nunmehr vorgesetzt sein, um dem Gedanken die Befriedigung an solchem Ziel zu gewähren! Doch gerade an der Banalität eines akustischen Ornaments, zu dem das ursprüngliche Gedicht dem Durchschnittsverstand geworden ist, am abgenützten Wort kann sich die Fähigkeit des Künstlers erweisen: es so hinzustellen, als wäre es zum ersten Male gesagt, und so, dass der Genießer, der den Wert zum Klang erniedrigt hat, diesen nicht wiedererkennt. Die Vorstellung, dass der Reim in nichts als in ihm bestehe, ist die Grundlage aller Ansicht, die die lesende und insbesondere die deutschlesende Menschheit von der Lyrik hat.“ [ebd., 6] Es kann hier nicht der Ort sein, die Beispiele aufzuführen (bemerkenswert unter allen aufgeführten literarischen Größen ist das Portrait Else Laske-Schülers, die selbst der bräunliche Gottfried Benn die größte deutsche Lyrikerin nennt, obwohl sie jüdischer Konfession ist), die eigentliche Pointe – wie könnte es bei einem Satiriker auch anders sein!? – findet sich schon nach der Einleitung: „Der Reim muss geboren sein, er entspringt dem Gedankenschoß; er ist ein Geschöpf, aber er ist kein Instrument, bestimmt, einen Klang hervorzubringen, der dem Hörer etwas Gefühltes oder Gemeintes einprägsam mache. Die gesellschaftliche Auffassung freilich, nach der der Dichter so etwas wie ein Lebenstapezierer ist und der Reim ein akustischer Zierat, hat an ihn keine andere theoretische Forderung als die der »Reinheit«, wiewohl dem praktischen Bedürfnis auch das notdürftigste Geklingel schon genügt. Aber selbst eine Kritik, die über den niedrigen Anspruch des Geschmackes hinausgelangt, ist noch weit genug entfernt von jener wahren Erkenntnis des Reimwesens, für die solches Niveau überhaupt nicht in Betracht kommt. Wenn man den ganzen Tiefstand dieser Menschheit, über den sie sich mit ihrem technischen Hochflug betrügt, auf ihre dämonische Ahnungslosigkeit vor // der eigenen Sprache zurückführen darf, so möchte man sich wohl von einer kulturellen Gesetzgebung einen Fortschritt erhoffen, die den Mut hätte, die Untaten der Wortmissbraucher unter Strafsanktion zu stellen und insbesondere das Spießervergnügen an Reimereien durch die Prügelstrafe für Täter wie für Genießer gleichermaßen gefahrvoll zu machen.“ [ebd., 2 f.] Schändung des Wortes und Martyrium der Sprache erklären laut Benjamin Kraus’ Feindschaft zum Betrieb. Niemals argumentiert er halbherzig, immer mit der ganzen Person, was seine Autorität ausmacht. „Kennzeichen solcher unumschränkten Autorität ist seit jeher die Vereinigung legislativer und exekutiver Gewalt. Sie ist aber nirgends inniger als in der »Sprachlehre«.“ Alles wird und ist somit Sprache. „Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht erkennt, dass mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos alles, Sprache und Sache, für ihn sich in der Sphäre des Rechts abspielt. Seine ganze feuerfressende, degen*schluckende Philologie der Journale geht ja ebenso sehr wie der Sprache dem Recht nach. Man begreift seine »Sprachlehre« nicht, erkennt man sie nicht als Beitrag zur Sprachprozessordnung, begreift das Wort des anderen in seinem Munde nur als corpus delicti und sein eigenes nur als das richtende.“ [Benjamin, I.]
Simon verweist auf einen jüngeren Zeitgenossen Kraus’, der Probleme der Wissenschaft und Philosophie auf sprachliche Probleme zurückführt. Von Wissenschaftssprache und formaler Logik her kommt der Wittgenstein des Tractatus logico-philosophicus (1921 veröffentlicht) zu ähnlichen Ergebnissen wie Kraus. Selbst wenn sich kein direkter Einfluss nachweisen lässt wären „Gleichzeitigkeit, Gleichartigkeit und gemeinsame österreichische Herkunft aufschlussreich [… Und] beide waren davon durchdrungen, dass die Sprachlogik Kriterium der Wahrheit sein müsse, dass die Sprache jener menschliche Bereich sei, der, sofern er seinen eigenen Gesetzen folge, die Entfremdung des Menschen im Spätkapitalismus, die sich wesentlich in Verwirrung und Vergewaltigung der Sprache äußert, nicht nur nicht widerspiegele, sondern sogar geeignet sei, diese Entfremdung im Erkenntnisprozess und durch ihn aufzuheben.“ [Simon, 518]. Sie hantieren mit quantitativen Realitätsbestimmungen und sehen die Beschreibung der Welt als die Aufgabe der Sprache. „Dieser Versuch, der Welt durch eine Registratur und logische Überprüfung aller Aussagen über sie auf die Schliche zu kommen, wurde überall dort in den verschiedensten Variationen durchgespielt, wo die Verallgemeinerung der Bewegungsgesetze der Natur, der Gesellschaft und des Denkens aus Mangel an einer tragfähigen // historischen Basis nicht geleistet werden konnte, und wo hätten solche Versuche gründlicher und verbissener diskutiert werden können als in Österreich-Ungarn, wo Bewegung, statt verallgemeinert zu werden, unaufhörlich und prinzipiell paralysiert wurde.“ [ebd., 518 f.] Schweigen wir darüber, dass sich unter den von Simon aufgeführten Gemeinsamkeiten, die vielleicht eher als Parallelitäten zu bezeichnen wären, eine ganz wichtige nicht findet, die Benjamin als konstituierend für Kraus ausgemacht hat, und doch auch im Werk Wittgensteins offensichtlich ist.
Wie schon bei Gottfried Keller gibt’s ein gutes Dutzend von Gedichten, die einen umhauen. Inmitten des Krieges, im Oktober 1915 erscheint jenes Gedicht, das im Folgejahr die Sammlungen(en) Worte in Versen eröffnen wird und mir Gänsehaut verursachte, denn auf französisch wäre das –
der auferstandene Rimbaud!, nun nicht als Waffenhändler und Nutznießer einer heillosen Welt unter kapitalistischen Bedingungen - wären sie nun monarchistisch, parlamentarisch oder autoritär bestimmt. Dietrich Simon hat es definiert: „Dieses Gedicht [Verwandlung] träumt aus dem Herbst des Krieges in den Frühling der Zeitlosigkeit.“ [aaO, 508]:
„Stimme im Herbst, verzichtend über dem Grab
auf deine Welt, du blasse Schwester des Monds,
süße Verlobte des klagenden Windes,
schwebend unter fliehenden Sternen –
raffte der Ruf des Geists dich empor zu dir selbst?
nahm ein Wüstensturm dich in dein Leben zurück?
Siehe, so führt ein erstes Menschenpaar
wieder ein Gott auf die heilige Insel!
Heute ist Frühling. Zitternder Bote des Glücks,
kam durch den Winter der Welt der goldene Falter.
Oh kniet, segnet, hört, wie die Erde schweigt.
Sie allein weiß um Opfer und Träne.“
Anhang:
*
Um den Lesefluss nicht zu stören, wird wie folgt vereinfacht zitiert:
Die Fackel Heft Nr. 229, S. 17 = [F 229, 17]
Verwendete Schriften von Karl Kraus:
D
Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit,
das erste Zitat stammt aus Szene 25 des ersten Akts und wird wie folgt verkürzt zitiert [D I, 25]
F
Die Fackel, hgg. von Karl Kraus von 1899 bis 1936
Vollständig eingestellt unter http://corpus1.aac.ac.at/fackel/
S
Karl Kraus: Theater der Dichtung. Schriften Bd. 14, hgg. v. Christian Wagenknecht, Ffm. 1992
W
Karl Kraus: Die Dritte Walpurgisnacht, nach der von Heinrich Fischer herausgegebenen Fassung München: Kösel, 1967 Satz: Wolfgang Hink, Berlin 2010, eingestellt im Internet unter Kraus_Dritte_WalpurgisnachtA5v2.pdf
Andere Autoren:
BB, Bertolt Brecht: Über die Bedeutung des zehnzeiligen Gedichtes in der 888. Nummer der Fackel (Oktober 1933)
Benjamin, Walter, Karl Kraus, I. Allmensch, in: Ausgewählte Schriften I.(1920-1940), unter textlog im Internet
Deubzer, Franz: Die Sprachkritik von Karl Kraus,
wo auch Mitscherlichs Aufsatz besprochen wird, und wie auch unter
Weigel, Andreas: »DER PROPHET UND DER APOKALYPTISCHE REITER«.KARL KRAUS UND DIE PSYCHOANALYSE (SIGMUND FREUDS)
Früh, Eckart, Nachwort zu Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit, hgg. v. Eckart Früh, Ffm. 1992
Früh Nm, Früh, Eckart: Der doppelt geprügelte Fackel-Kraus, Wien Juni 2006
ausführlich und liebevoll zusammengestellt durch Eckart Früh in der im Internet veröffentlichten Reihe „Noch mehr, hier:“
Hartl, Edwin: Poetischer Antipode. Vorwort zu Karl Kraus: Aphorismen und Gedichte / Auswahl 1903 – 1933, hgg. v. Dietrich Simon, Wien Köln Graz 1985, S. 5 ff.
MMR Fragen Sie Reich-Ranicki Was halten Sie von Karl Kraus? Vom 6.12.2005 unter http://www.faz.net/aktuell/feuillet...ki-was-halten-sie-von-karl-kraus-1282691.html
RB: http://www.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/lesebuch/kkraus100.html
Schick, Paul: Karl Kraus, Reinbek 40. - 42. Tausend März 1989
Simon, Dietrich: Nachwort zu Karl Kraus: Aphorismen und Gedichte …
Timms, Edward: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874-1918. Eine Biographie Aus dem Englischen von Max Looser und Michael Strand, Ffm. 1999
Tucholsky, Kurt: Karl Kraus liest, im Berliner Tageblatt, 22.01.1920, Nr. 39 und als Ignaz Wrobel am 31. 5.1920 in der Freiheit. Beide Rezensionen im Internet verfügbar.
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Dieser Jargon ist Ausdruck der Entsolidarisierung: an die Stelle der trade union / Gewerkschaft tritt wieder eine scheinbare Verselbständigung mit einer (mittelalterlichen) Handwerkermentalität, in der der eine den andern überbietet, indem er sich ggfs. unter Preis anbietet, also unterbietet, übrigens eine Mentalität junger „Selbständiger“ besonders in den kreativen Branchen, die sich bis zur Selbstausbeutung im Betrieb anbiedern. Da müssen diese was im Begriff des Reichs der Freiheit was falsch verstanden haben.