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Wo kommst Du denn her? (Gefühlvolle Schilderung)
„Was heulste denn schon wieder?“ Immer, wenn der Vater ihm diese Frage stellte, musste Jacob noch mehr weinen. Weil er dem Vater nie etwas recht machen konnte, weil der immer so unfreundlich mit ihm sprach und weil Jacob ihm nicht mal sagen konnte, warum er weinte. Er wusste es ja selbst nie. „Spinnst du? So´n Vieh kommt mir nicht ins Haus!“. Lisamaries getigerte Tabby hatte vor vier Wochen Junge bekommen und Jacob hätte gerne eines gehabt. Die waren so weich und es machte so viel Spaß, mit ihnen zu spielen. Gestern Nachmittag hatte er ein Stück Papier an einen Bindfaden gebunden und die kleine Schwarzweiße damit gelockt. Immer wieder hatte sie versucht, das Papier zu fangen, aber Jacob konnte den Bindfaden jedes Mal rechtzeitig wegziehen. Gekratzt hatte sie ihn auch und das war gar nicht schlimm gewesen. Das machten kleine Katzen eben so.
„Gib mir noch´n Kuss!“, sagte der Vater jeden Morgen zum Abschied. Und es klang immer genauso, wie wenn er sagte: „Räum´Dein´Scheiß hier weg!“ Deswegen wollte Jacob dem Vater nie einen Kuss geben, aber er tat es trotzdem.
Jacob schlurfte genüsslich mit seinen Turnschuhen über den Asphalt, ganz langsam von einer Seite des Bordsteins zur anderen, die Schultasche auf dem Rücken. Die Jacke in seiner linken Hand schliff über den staubigen Boden. Auf dem Nachhauseweg ließ er sich immer besonders viel Zeit. Da konnte man so gut nachdenken.
An der Hofeinfahrt der Vogels sah Jacob eine Katze. Sie saß ganz ruhig da, den Schwanz vor ihrem Körper eingerollt. Jacob blieb stehen. Er warf seine Jacke und seinen Schulranzen neben sich auf den Boden und hockte sich hin. „Komm, Katze, komm!“ Vorsichtig streckte er die Hand aus und lockte sie mit leiser Stimme: „Komm her!“ Jacob pirschte sich langsam an. "Hey, du siehst genauso aus wie Tabbys kleines Kätzchen. Nur größer." Jetzt war er schon bis auf zwei Meter an das Tier herangekommen und noch immer rührte es sich nicht. „Ich will auch eine Katze haben, aber Papa sagt, das kost´bloß Geld. Und Mama sagt gar nix. Die sagt nie was dagegen, wenn Papa was sagt.“ Jacobs Hand näherte sich vorsichtig. Er streichelte der Katze den Kopf und freute sich. Sie war überhaupt nicht scheu, sondern schmiegte sich zutraulich in seine Hand. „Ich kenn´dich gar nicht. Sonst kenn´ich hier alle Katzen.“ Das Tier stand auf und rieb seinen Kopf an seinem Oberschenkel. „Oooch, wenn du meine wärst. Das wär toll. Dann könntest du nachts immer bei mir schlafen. – Ach nee, das darfst du eh nicht. Papa schreit bloß rum, dass Tiere nicht ins Bett gehören.“ Jacob lachte, weil die Katze jetzt ganz laut schnurrte. „Aber wir könnten zusammen fernsehen.“
Klinnnng! Klinnng! Jacob blickte sich um und drückte sich an die Grundstücksmauer der Vogels, weil Karsten mit seinem neuen Fahrrad von oben angerauscht kam. In der Schule hatte ihnen ein Polizist erklärt, dass Kinder ohne Fahrradführerschein nur auf dem Gehweg fahren durften. Und nur mit Helm. Weil das sicherer war. Weil Autofahrer oft mal nicht aufpassten, und weil Kinder dann oft mal überfahren wurden. „Idiot!“, rief Jacob Karsten hinterher.
Die Katze war nicht auf die sichere Seite gesprungen. Jacob streckte den Arm zur Straße hin aus. „NEEEEIN!“ Aber sie wollte nicht auf ihn hören. Das machten Katzen nie. Die hörten eben nicht auf Menschen.
Ganz langsam ließ Jacob den Arm sinken. Er drehte sich um und ging zurück zu seinem Schulranzen und seiner Jacke. Er blickte nicht noch einmal auf die Straße. Das blutende Fellbündel da liegen zu sehen, das konnte er nicht ertragen. Er mochte sowieso kein Blut. Aber die Katze, die hatte er gemocht. Und sie hatte ihn gemocht. Und jetzt war sie tot. Jacob nahm seine Sachen und schlurfte nach Hause. Alle Katzen waren irgendwann tot. Tränen liefen über sein Gesicht.