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Dies ist die erste Kurzgeschichte, die ich schreibe. Gerade Tipps zum Gesamtergebnis sind willkommen.
Wintersonne
Finn spazierte stolz erhobenen Hauptes die Straße entlang und genoss seine Freiheit. Die Sonne schien und wärmte den Asphalt, schmolz den Schnee und das Eis. Der Himmel schimmerte strahlend blau. Die Weihnachtsfeiertage waren fast vorbei und die Stimmung der Menschen hob sich, denn bald war Silvester und da würden sie wieder feiern. Der Junge scherte sich kein Bisschen darum; was Erwachsene taten und warum kümmerte ihn wenig. Ihn interessierten vor allem die Bonbons, die Früchte, die Kekse und die Geschenke, denn so sind Zwölfjährige nun mal. Es schien, als hätte der liebe Gott höchstpersönlich diesen Tag gesegnet, dachte sich Finn. Als würde jeder Sonnenstrahl das, was er berührte, segnen.
Doch die Sonnenstrahlen reichten nicht bis in den Hinterhof und längst nicht bis in das staubige Zimmer, in dem der gerade eintreffende Finn, sein kleiner Bruder und die Mutter lebten.
Heiß war die Stirn der Mutter als der Junge sie, sich über das Bett der Kranken beugend, berührte. Kalt war der Schauer, der ihm über den Rücken lief, als sein kleiner Bruder wimmerte und die Realität ihn schlagartig einholte. Im Grunde genommen waren die Buben schon in diesem Moment gottverlassen. War’s das schon, mit der Kindheit, der Freiheit, die er eben noch so genüsslich verkostete? Die Sterbende flüsterte etwas, bat den Jungen, näher zu rücken und röchelte: „Sohn, du musst jetzt tapfer sein.“ Sie schloss die Augen und war für immer weg. Etwas zerbrach. Der Kleine schrie. Der Große schwieg und wollte die Schreie nicht mehr hören. Die Nachbarn auch nicht und es wurde heftig an die Wand gedonnert und mitleidslos gebrüllt, dass man ja nicht mal an einem so schönen Tag seine Ruhe haben könne. Der Große befahl dem Kleinen, still zu sein, woraufhin dieser noch lauter weinte. Finn drehte sich schwungvoll um und verpasste ihm eine befriedigend schallende Ohrfeige. Das durfte er von nun an, da ihm das Schicksal die Verantwortung für den Bruder aufgezwungen hatte. Weiteres hilfloses Heulen, Tränen und Rotz. Nicht einmal Gewalt half ihm bei dem unnützigen Viech weiter. Wut stieg in seiner Brust hoch. Warum wollten alle immer etwas von ihm? Er konnte und wollte es nicht einsehen. Und so umarmte er den Kleinen, um sich für den Hieb zu entschuldigen. Er erhob sich und verließ das Zimmer, ließ den Knaben zurück. Denn er war ein trotziger Bengel, der nicht akzeptierte, dass man ihm Aufgaben aufzwang. Kurz bevor Finn den Bürgersteig betrat verschwand die Sonne, blutrot, hinter den Dächern.
Riesige, dunkle Wolken verdeckten den Mond. Nasse Schneeflocken legten sich auf Finns vereiste Haare. Vor Kälte bibbernd schlurfte er ziellos durch die Straßen, die Gassen, die Parks und an dunklen Hauseingängen und düsteren Gestalten vorüber. Er vermisste die Mutter und den Kleinen. Sein Trotz wuchs und war ihm ein guter Gefährte.
Auf einmal kam er im wohlhabenden Viertel seiner Heimatstadt vor einem wunderschönen, altmodischen Anwesen an. Er wusste nicht, wie er hierhergefunden hatte, aber er kam oft in dieses Viertel und genoss die missbilligenden Blicke auf seine etliche Male zusammengeflickte Hose, die zerzausten Haare, den Dreck im Gesicht oder die von blauen Flecken, Schürfwunden und sogar von ersten Narben übersähten Arme und Beine. Wie sie ihn alle mit einer Mischung aus Ekel und Mitgefühl anglotzten ließ seinen Stolz immer auflodern. Das hohe, eindrucksvolle Gebäude ragte in die niedrig hängenden Wolken, sodass Finn nicht erkennen konnte, wie groß es in Wirklichkeit war. Nicht, dass das für Finn eine Rolle gespielt hätte. Seine Aufmerksamkeit war, vom Überlebensinstinkt gesteuert schon woanders hin gelenkt. Hinter einem der riesigen, verzierten Fenster erblickte er eine Familie vor einem Kamin. Nein, es war ein altes Ehepaar mit einem Kind; wahrscheinlich ihrem Enkel. Was für ein verwöhnter Bengel er sein muss, hörte Finn seinen Stolz flüstern. Vor dem Kamin stand ein Tisch mit vielfarbenen Kerzen, Bonbons, Früchten, Keksen, Geschenken. Seine Augen weiteten sich. Für einen kurzen Moment ließ ihn der Anblick dieser Köstlichkeiten alles um ihn herum vergessen und der Ansatz eines seligen, honigsüßen Lächelns stahl sich auf seine Lippen. Der in Samt gekleidete Junge drehte sich um und lachte. Finn stockte, hustete und rang nach Luft. Er sah den Kleinen, seinen Kleinen, wie er, hinter dem Fenster, im Warmen, an dem Tisch stand und warme Speisen, süße Früchte, kunterbunte Süßigkeiten und warmen Punsch bekam. Er lächelte, kaute und ließ es sich gut gehen.
Da schrumpfte Finns Stolz, bis er ihn nicht mehr vor der Dunkelheit und der Kälte schützte. Endlich auf sich und seine Vernunft gestellt und ohne nachzudenken hämmerte er an die Tür, wütete, heulte, jaulte, er wolle auch reinkommen. Aber niemand hörte oder beachtete ihn, so viel von seiner überbleibenden Kraft er auch in die Hiebe steckte. Er bereute es schrecklich, den kleinen zurückgelassen zu haben.
Finns Arme wurden müde, seine Stimme bröckelte, zerbrach, seine Lider schwächelten. Er sank langsam, aber unaufhaltbar auf die Knie. Mit der Stirn glitt er an dem hölzernen Tor hinab. Es zog ihn weiter in die Tiefe, bis, so wie er zusammengekrümmt da lag, sein Geist und das Funkeln in seinen blauen Augen erloschen. Der Ausdruck eines zwölfjährigen Bengels, der seiner Mutter widerwillig, beschämt und jammernd eine Dummheit beichtet, erstarrte auf seinem Gesicht. Aber diesmal würde er nicht mit einer Moralpredigt davonkommen.
Trotz Finns traurigem Ende drehte sich seine Heimatstadt weiterhin den lieblichen Sonnenstrahlen entgegen, unaufhaltsam, mit über 1600 Kilometern pro Stunde. Trotzdem rückte Silvester mit jeder schmelzenden Schneeflocke näher, und da würde schon niemand mehr um sein Schicksal und noch weniger um ihn trauern. Und sich so die Stimmung verderben; nein, auf gar keinen Fall. Solche Geschichten kommen an Weihnachten nicht vor.
Es war in diesem Moment schon fast so, als hätte es ihn nie gegeben. Und rasch war auch sein Leib unter dem Schnee verschwunden.