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Windwanderer
Kapitel 1 - Schwanenzug
The trees are in their autumn beauty,
The woodland paths are dry,
Under the October twilight the water
Mirrors a still sky;
Upon the brimming water among the stones
Are nine-and-fifty swans.
Der erste Frost war noch nicht gefallen, aber die Luft roch schon nach dem kommenden Winter. Trockenes Laub knisterte unter Fennas Füßen, als sie zum See hinunter lief. Die Kälte biss sich durch ihre Pelzjacke und der Wind färbte ihre Wangen rot. Ihr Atem ging stoßweise. Lange konnte sie nicht mehr laufen, das wusste sie. Und wenn sie nicht mehr laufen konnte, musste sie sich der Wahrheit stellen.
Ein Häher schoss direkt vor Fenna über den Weg, erschrocken fuhr sie zurück. Mit lautem Kreischen verschwand der Häher tiefer im Wald, doch nun hatte sie schon inne gehalten. Erschöpft stützte Fenna die Hände auf ihre Knie und schnappte nach Luft. Sie spürte ihre Tränen, warm auf ihren kalten Wangen. Ärgerlich wischte sie sie weg. Heulsuse. Du musst jetzt stark sein.
Sie entdeckte einen gestürzten Baum und ließ sich darauf nieder. Die Feuchtigkeit des Mooses drang durch ihre Hose, aber das störte sie nicht besonders. Fenna zog die Beine an den Körper, schlang ihre Arme darum und vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien. Mit Gewalt versuchte sie, die Tränen zurück zu drängen. Herunter zu schlucken. Ganz gelang es ihr nicht. Immer wieder wurden ihre Augen feucht. Schließlich biss sie sich so lange auf die Unterlippe, bis der Schmerz überhand nahm und den Tränen einen Grund gab.
„Hier seid Ihr, Fenna.“ Ingeld, der Berater ihres Vaters, war so leise an sie heran getreten, dass sie ihn in ihrem Kummer überhaupt nicht bemerkt hatte.
„Lass mich in Ruhe!“ Fenna blickte nur kurz auf und wandte dann ihr Gesicht wieder ab. Das fehlte ihr gerade noch, dass Ingeld ihre Tränen sah.
Sanft legte der Berater seine Hand auf Fennas Schulter. „Ihr wusstet doch, dass Euer Vater sich früher oder später eine neue Frau nehmen würde, Fenna.“
Jetzt blickte sie doch auf, Vorwurf in ihren Augen. „Aber doch nicht Thryth! Wie kann er Thryth heiraten. Sie ist ein … ein Trampel. Eine ignorante Kuh!“
Ingeld, der Fennas Stimmungen nur zu gut kannte, lächelte nur sanft. „Thryth wird noch Kinder bekommen, und Euer Vater ist schon alt, Fenna. Er braucht einen männlichen Erben.“
„Ich reiche ihm wohl nicht, was?“ Trotzig starrte sie Ingeld an. Der lächelte nur weiter.
„Fenna, Ihr wisst selber, dass Ihr nicht erben könnt. Aber ich weiß, was euch aufheitern wird. Ich habe mit Eurem Vater gesprochen. Sobald die Heirat vorüber ist, dürft Ihr bei Frawarad in die Lehre gehen.“
Fennas Augen wurden groß. „Ich darf zaubern lernen? Ist das wahr?“ Ihr ganzer Kummer schien von ihr abzufallen wie Herbstlaub. Ingeld lachte leise.
„Euer Vater war der Meinung, dass Ihr sowieso nicht davon abzubringen seid. Und nun kommt nach Hause, Fenna!“
***
Zwei Jahre später
***
„Es ist ungerecht!“ Beinahe hätte Fenna mit dem Fuß auf den Boden aufgestampft, aber sie konnte sich gerade noch beherrschen. Sie war schließlich kein kleines Mädchen mehr.
„Es ist Tradition, Fenna.“ Ihr Vater Breca saß vor ihr auf seinem pelzbespannten Stuhl und zeigte keinerlei Regung. Thryth – die Kuh, wie Fenna sie immer noch heimlich nannte – ruhte an seiner Seite, lächelte dümmlich und schaukelte den kleinen Nilas auf ihren Knien.
„Du bist nun wirklich alt genug, Fenna. Wie sieht das denn aus, wenn ich als Jarl eine unverheiratete Tochter in meinem Haus habe. Und Scyld ist ein guter Mann. Er ist ein Jarl.“
„Er ist zwanzig Jahre älter als ich und hat eine Tochter in meinem Alter!“
„Das zeigt, dass er gesunde Kinder zeugen kann. Hör mal, Fenna, ich habe dir alle Freiheiten gelassen, die du haben wolltest. Vielleicht war das falsch. Vielleicht hätte ich härter zu dir sein sollen. Aber leider erinnerst du mich eben an deine verstorbene Mutter, mögen die Götter ihre Seele aufgenommen haben. Nun möchte ich, dass du einmal etwas für mich tust und dich verhältst, wie eine folgsame Tochter sich verhalten sollte.“
Fenna sah verlegen auf den Boden. Es war ja wahr, ihr Vater tat alles für sie. Und wie dankte sie es ihm? Aber wenn sie an den alten, verbrauchten Scyld dachte, wurde ihr beinahe übel. Sie atmete tief durch. Gut. Sie würde es versuchen. Für ihren Vater. Schließlich musste das doch alles irgendwie zu ertragen sein.
„In Ordnung, Vater.“ Sie brachte kaum die Kraft auf, es auszusprechen. Ihre Stimme klang heiser und ungewohnt in ihren Ohren. „Sobald ich meine Ausbildung abgeschlossen habe, werde ich Scyld heiraten.“
Ihr Vater seufzte schwer. „Das wird nicht möglich sein, Fenna. Scyld will nicht noch ein Jahr warten. Wenn du ihn jetzt nicht heiratest, wird er sich eine andere Frau suchen. Und wenn du deine Ausbildung abgeschlossen hast, bist du schon sechzehn. Die meisten werden das zu alt für eine Heirat finden.“
Wieder stieg der Zorn in ihr hoch. „Aber ich will Zauberin werden!“
„Frauen sollten eigentlich gar nicht dieses Handwerk lernen“ Die Kuh mischte sich ein. „Es schickt sich nicht für ein Mädchen.“
„Meine Mutter war Zauberin, warum darf ich keine sein?“, Fenna schrie jetzt. „Das ist ungerecht“
„Deine Mutter war auch eine Vagabundin. Du kannst froh sein, dass ein so feiner Mann, wie Breca sie geheiratet hat, sonst wärst du dein Leben lang ein kleiner heimatloser Bastard geblieben! Schließlich legt sich nicht jeder Mann ein fremdes Ei in sein Nest.“ Thryths Stimme war kalt, wie Eis.
Plötzliches Schweigen legte sich über den Raum. Völlig verblüfft starrte Fenna den Mann an, den sie immer für ihren Vater gehalten hatte. Ihr war es, als hätte man sie mit einem Kübel voller Eiswasser übergossen.
„Fenna…“ Brecas Stimme klang unnatürlich laut in die Stille der Halle. Doch Fenna wollte nicht hören, was er zu sagen hatte. Abrupt drehte sie sich um.
„Wenn ich also nur ein herrenloser Bastard bin, dann hat mir auch keiner etwas zu sagen.“ Damit verließ sie die Halle. Erst auf ihrem Zimmer gestattete sie es sich, zu weinen, während sie rasch das Nötigste an Gepäck in ihren Rucksack stopfte. Eine Vagabundin war ihre Mutter gewesen? Gut, dann wollte sie auch eine sein.
Sie verließ das Haus um die Mittagszeit. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken, aber niemand machte Anstalten, sie aufzuhalten. Die kennen mich ja jetzt schon nicht mehr, dachte sie und schluckte weitere Tränen hinunter. Den Kopf stolz erhoben schritt sie den Pfad hinunter.
Der See, schon immer ihre Zuflucht, wenn es ihr schlecht ging, lag still im Herbstsonnenlicht. Ein klarer eisblauer Himmel spannte sich über ihm und lieh ihm seine Farben. Nur einige welke Blätter störten die Ruhe seiner Oberfläche. Und im Schatten des Dickichts trieben zwei Schwäne.
Fenna hielt inne und starrte die Vögel an. Sie lagen so ruhig im Wasser, dass sie keine einzige Welle verursachten. Erst, als sie sich einige Schritte näher ans Ufer wagte, drehten sie die Köpfe in ihre Richtung und blickten sie aus klugen schwarzen Augen an.
Schwäne. In ihrer Lehre bei Frawarad hatte Fenna gelernt, ihre Seele zu erkennen, und das Tier, das in ihr wohnte. Sie hatte ihrem Lehrer erzählt, es sei ein Hund, treu und stark. Aber was sie tatsächlich gesehen hatte war der unruhige Flügelschlag eines Schwans gewesen. Schwäne, die im Wind trieben. Immer und immer wieder.
„Windwanderer“, flüsterte sie. „Führt mich. Bringt mich nach Hause!“
Einen langen Moment lang starrten die beiden Schwäne sie nur an. Dann begannen sie, mit den Flügeln zu schlagen, die stille Oberfläche des Sees wurde von heftigen Schlägen durchbrochen, kräftige Muskeln spannten sich unter weißen Feder und dann waren sie in der Luft, zogen einen weiten Kreis über dem See und wandten sich dann gen Norden. Zu den ewigen Wäldern.
Fenna lächelte ihnen hinterher, wischte sich eine Träne aus dem Gesicht und zurrte die Gurte ihres Rucksacks enger. Dann machte sie sich auf den Weg, den Schwänen zu folgen.