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Wie oft kommt unverhofft?
Freunde, ich gebe Euch einen richtungsweisenden Tipp. Unterschätzt niemals ein feuchtes Treppenhaus. Oder wählt den Zeitpunkt, an dem ihr den Müll rausbringt, mit Bedacht aus. Besser noch: kumuliert diese beiden Punkte und ihr bleibt gesund. Besonders euer Knie.
Letzten Monat war ich das zweite Mal innerhalb einen Jahres die Treppen hinuntergepurzelt. Wie schafft man so etwas?, fragt Ihr euch garantiert. Das erste Mal würde ich wirklich nur als dummen Zufall bezeichnen. Ich meine, alle Menschen teilen doch ein gewisses Interesse für verblüffend aussehende Tiere. Mir war ein so eine Art Ohrenkneifer über den Weg gelaufen, die ich noch nie gesehen hatte. Dazu hatte der Sportsfreund ein unheimliches Tempo drauf. Ich eilte ihm hinterher und versuchte, mehrere Treppen zu überspringen. Jackpot!
Ehrlich gesagt war der zweite Zwischenfall das Ergebnis eines geistigen Zustandes, den man wohl verschobenen Fokus nennt.
Meine komplette Aufmerksamkeit hatte dem leuchtenden Display meines Handys gegolten. Die Nachricht einer entzückenden Bekanntschaft war hereingetrudelt. Zu der übrigens gleich noch mehr.
Jedenfalls verpasste ich den Treppenabsatz, dachte noch, dass man sich im jungen Alter von vierundzwanzig Jahren immer einer ausbalancierten Lösung bewusst war, verpasste aber den Augenblick, an dem ich das Geländer hätte greifen müssen, und machte den bis dato größten Abflug meines Lebens. Wenn die Nachbarn noch nicht wach gewesen waren, dann aber jetzt. Da bin ich mir bis heute sicher.
Ein Chirurg mit Hang zu einem lauten Organ prophezeite mir irreparable Schäden am Knie; er warte aber noch die nächste Untersuchung ab.
Durch die monatelange Krankschreibung, die mir bevorstehen würde, hatte ich meinen Job bei einem Getränkehersteller verloren. Schöne Schande. Mein bester Freund, Dave (wir kennen uns seit der zweiten Klasse) tat wirklich alles Mögliche, um mich aufzubauen. Selbst wenn er nie genügend Zeit dazu hatte. Aus ihm war nämlich eine zungenfertiger Rechtsanwalt geworden.
Es war Mitte April und wir verabredeten uns für ein Treffen in einer Kneipe nahe des Sunset Boulevard. Bei 27 Grad Außentemperatur muss ich ja wohl kaum erwähnen, dass der Weg dorthin auf meinen Krücken ein Höllenritt war. Aber ich wollte es alleine schaffen. Dave hatte mir zwar angeboten, mich abzuholen, aber mein kleines bisschen Stolz hatte mir das feuchte Treppenhaus dann doch nicht genommen.
Ich fragte Dave, ob es Zufall war, dass sein dunkelblauer Anzug perfekt zu dem Marylin Monroe-Poster passte, das an der Wand neben unserem Tisch hing. Der Schelm machte es sich besonders einfach, und zitierte einfach meine Mutter, die mir immer eine sprühende Fantasie nachsagte.
„Also wenn du so vor Gericht argumentierst, möchte ich nicht dein Mandant sein“, sagte ich.
„Ich habe Feierabend verflucht, was erwartest du von mir?“
„Ich dachte immer, Anwälte hätten nie Feierabend.“
Dave hob eine Augenbraue. „Wer hat dir das denn erzählt?!“
„Horatio von C.S.I. Oder war‘s Gibbs von Navy C.I.S.? Na ja, ist ja auch egal. Deren Wörter klingen immer so bedeutungsschwanger. Das beeindruckt mich, deswegen nehme ich denen jeden Scheiß ab.“
„Jetzt weißt du, woraus mein Arbeitsalltag besteht.“
Mittlerweile kam unsere Bestellung. Ein Whisky Sour für Dave. Ich gönnte mir ein stinknormales Bier.
Nach zwei großen Schlücken, die Dave unheimlich durstig erscheinen ließen, lehnte er sich etwas vor und fragte mich, wie denn mein Alltag zurzeit aussehe. Daraufhin erwähnte ich das vorgezogene Testament meines Knies, dass mir der Schreihals von Chirurg gab, mir aber Gedanken darüber mache, wie ich meinen alten Arbeitgeber verklagen könnte. Ich war einfach noch nicht über die Art der Kündigung hinweg. Niemand hatte mir dort einmal zugehört. Die Ärsche interessierten sich nicht mal konkret für die Diagnose. Natürlich bat ich Dave um Unterstützung. Doch der hatte abgewunken. Erstens war er Anwalt für Straf- und nicht für Arbeitsrecht, und zweitens, hätte ich nicht die finanziellen Mittel gehabt, einen Prozess stemmen zu können, der über drei Verhandlungsstunden hinausgeht.
Und von der pfiffigen Idee, zu behaupten, deren Saft schmeckt wie abgestandene Milch, riet Dave mir umgehend ab, da solche Unternehmen auf etwaige Behauptungen etwas eigenwillig reagieren – egal ob wahr oder nicht.
„Hast du denn schon was Neues in Aussicht?“, fragte er mich.
„So einen Irren wie mich will doch keiner haben“, sagte ich und kreiste mit dem Finger neben meinem Kopf herum.
Dave nippte wieder an seinem Cocktailglas. Er hatte einen ganz schönen Zug drauf. „Was würde dir denn Freude machen, außer Football-Coach und Krimistar?“
„Nachdem, was du mir eben über deinen Alltag gestanden hast, ist der Job des Rechtsanwalts ganz schön in meiner Gunst gestiegen.“ Ich zwinkerte Marylin zu, und sah sie mit mir auf einer Gummipalme durch den heimischen Pool schippern.
Mein bester Freund lachte. Es hörte sich immer noch wie früher an, als wir zusammen Bonbons geklaut oder Tunnelwände bekritzelt hatten. Das erzähle ich natürlich im Vertrauen; niemand möchte Daves Karriere gefährden, nicht wahr? „Ich kann mir richtig vorstellen, wie deine Mutter dich unter Druck setzt“, meinte er.
„Hallo? Ich bin vierundzwanzig Jahre alt. Ich lasse mich von niemandem unter Druck setzen.“ Gott, war ich ein schlechter Lügner. Das war noch nie meine Stärke.
Dave verzog keine Miene. Er ließ seinen Blick einfach auf mir kleben. Mehr musste er nicht tun, um mich zu entlarven. Das war aber auch ganz schön unfair. Der Mann genoß eine hochkarätige Ausbildung. Ich war nur ein lausiger Krüppel mit zerdepperten Kreuzbändern.
„Alfi, du brauchst langsam mal einen Plan“, imitierte Dave meine Mutter mit einem detailgetreuen Gesichtsausdruck. „Bei mir kannst du nicht mehr unterkommen.“ Er ließ dabei einen Mundwinkel unnatürlich herunterhängen. Das Ergebnis ihres Schlaganfalls vor fünf Jahren. Dazu muss man aber sagen, dass er sie mochte, und ihr diese Art Imitation schon mal vorgeführt hatte, worüber sie herzhaft lachen konnte. Er war eben ein Multitalent.
Da klingelte wieder mein Telefon. Welche ein Segen, dass ich bereits gesessen hatte.
Durch den Hörer klang die cremige Stimme meiner neuen Bekanntschaft. Ihr wisst schon, die, von der böse Zungen nun behaupten würden, dass sie mir dieses Schlamassel eingebrockt hat. Ist natürlich Bullshit.
Ich hatte ihr Gegenüber einen Tag zuvor erwähnt, dass ich mich mit Dave in dieser Kneipe einfinden würde, und sie schlug vor, sich kurz zu treffen, da jenes Etablissement auf ihrem Arbeitsweg läge. So sagte sie das wirklich!
„Ich bin gleich bei dir“, verkündete sie mit fröhlicher Stimme. Man konnte ihr Lächeln förmlich hören.
Gerade als ich zum Ausgang humpelte, gab es einen heftigen Knall. Im Augenwinkel sah ich noch, wie Dave fast seinen Cocktail umgestoßen hätte.
Sich biegendes Blech, kullerndes Metall und zerberstende Fensterscheiben. Alles in einer Millisekunden-Abfolge, die überhaupt nicht zu greifen war. Im Endeffekt klang es wie ein riesiger Haufen lebensbedrohlicher Scheiße.
Man brauchte kein akademisches Verständnis für den Qualm und den Geruch, um festzustellen, was da draußen passiert war. Eine junge Frau, Anfang zwanzig, war mit überhöhter Geschwindigkeit, und einem Blick zu viel auf’s Smartphone, in die Kreuzung gebraust. Mit den Vorfahrtsregeln hatte sie es wohl auch nicht so genau genommen, so sollte es zumindest nächsten Tag in der Zeitung stehen.
Als würde mich ein Spanngurt zu der Kreuzung ziehen, preschte ich auf die Unfallstelle zu. Sogut es zumindest ging. Ich bin der Meinung, Dave noch gehört zu haben. „Wo willst du hin?“ Seine stimme klang jedoch, als käme sie vom Hollywood-Sign, sieben Meilen entfernt.
Ich stand vor dem zerstörten Wagen. Und ich wusste sofort – ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend hatte es mich schon erahnen lassen – dass Jennifer da drin lag. Meine neue Bekanntschaft. Zum Teufel, Bekanntschaft hört sich so beiläufig an. Ich fand Jennifer wirklich toll. Wir hatte uns im Plummer Park kennengelernt. Ich saß auf einer Bank und hatte ein Buch gelesen. Dabei wurde ich irgendwann von einem sabbernden Mischlingshund unterbrochen, dessen triefender Ball gegen mein Fußgelenk gekullert war. Der kleine Racker hechelte, sodass er aussah, als würde er mich anlächeln, und legte mir den Ball für einen alles entscheidenden Wurf parat. Ich packte mein Buch beiseite, da ich ihm nicht widerstehen konnte, und warf den Ball im hohen Bogen von mir weg. Eine geschlagene Minute – und pünktlich zum Kapitelende – kehrte er mit seinem Frauchen zurück. Jennifer entschuldigte sich mehrmals, dass Skipper mich beim Lesen gestört hatte. Sie hatte einen ähnlich süßen Hundeblick wie Skipper und ich lehnte mich ganz lässig auf der Parkbank zurück, während ich ihr zu verstehen gab, dass ich Tiere mag. Konnte mir zwar nicht verkneifen, dass Ganze etwas mit imaginären Hunden, die ich mal gehalten hatte, auszuschmücken, doch als ich das Resultat dieser kleinen Lüge betrachtete, war mir das egal. Wahrscheinlich hatte sie mir das auch nur abgenommen, weil sie mich noch nicht gut genug kannte. Jennifer setzte sich nämlich zu mir. Das Buch hatte sie sogar noch mehr interessiert, als meine “tierische Vergangenheit“.
„Ein toller Krimi“, sagte sie und ihre blonden Haare wehten im Wind.
Skipper machte derweil Anstalten, sich mit auf die Bank zu quetschen, doch Jennifer gab ihm mit ein, zwei Handzeichen zu verstehen, dass er es sich mal lieber auf der Wiese bequem machen sollte. Besser hätte ich “Experte“ das auch nicht hinbekommen.
Jedenfalls sinnierten wir über den Krimi und sie offenbarte mir stolz, dass sie demnächst ein Vorsprechen für eine Filmrolle hätte. Auch etwas “Krimiartiges“ nannte sie es, was auch immer das zu bedeuten hatte. Für mich gab es nur Krimi oder Nicht-Krimi. Aber was wusste ich schon? Ich war ja nicht mal in die Nähe solch einer Rolle gekommen.
Dave stand mit einmal neben mir und hob die scharfkantige Autotür an, unter der sie, Jennifer, lag. Allem Anschein nach war sie nicht angeschnallt, denn es waren keine Striemen eines Gurtes an ihrer nackten Schulter zu sehen. Und ihrer jetzigen Position nach zu urteilen, konnte sie dort nur hingelangen, wenn sie nicht gesichert war. Keine Ahnung, woher ich das wusste, aber ich wusste es einfach.
Ich schmiss die Krücken beiseite und versuchte, irgendwie zu ihr ins Auto zu kriechen. Dave hielt mich aber gerade noch am Fußgelenk fest. „Mach das nicht. Da müssen Experten ran. Nachher machst du es noch schlimmer.“
„Was soll denn noch schlimmer werden?“, fragte ich wütend, obwohl ich wusste, dass er recht hatte.
Kurz nachdem Dave den Notruf gewählt hatte, hörte man bereits die Sirenen aus der Ferne kommen. Jedoch bezweifelte ich, dass es schon die für uns zuständigen waren. Und wer schon mal einen Film gesehen hat, der in Los Angeles spielt, wird wissen, das Sirenengeheule gehört genauso zur Stadt wie der strahlende Sonnenschein.
Und jetzt kommt der merkwürdigste Teil der Geschichte. Ich würde ihn sogar etwas bizarr nennen. Zuerst einmal, ich konnte hinsehen. Ich meine, so richtig draufschauen. Das ganze Blut, die Fleischwunden, die ausgerissenen Haare, alles beeindruckte mich nicht. Mein erstes Erlebnis mit einem Schwerverletzten lief komplett anders ab, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber ist da nicht meistens so? Dass die Dinge anders erscheinen, als man sie sich ausgemalt hatte?
Irgendwann trafen dann auch der Krankenwagen und die Polizei ein. Sie stellten mir Unmengen an Fragen, was ich an erste Hilfe geleistet hatte. Woher ich die Frau kannte und so weiter. Natürlich hielt ich mich bei Letzterem kürzer, als ich es eben tat, aber das war jetzt auch nicht der springende Punkt.
Ich empfand Freude. Klare, greifbare, mir eine Gänsehaut verpassende Freude. Ich hatte gelegentlich sogar Probleme damit, mein Grinsen vor den Sanitätern, den Polizisten und den Schaulustigen zu unterdrücken. Ergötzte ich mich tatsächlich am Unglück anderer? War ich ein Tier? Eine Bestie? Herzlos?
Letzteres konnte ich anhand meiner Zuneigung in Richtung Jennifer schon mal ausschließen. Ich meine, mein Herz pochte fast die ganzen drei Stunden, die Dave und ich bei ihr im Krankenhaus verbracht hatten. Als die Ärzte, die Gott sei Dank beruhigender als so mancher Chirurg auf einen einreden konnten, uns mitteilten, dass Jennifer wieder wird, begann mein Herz sogar richtig zu hüpfen. Angenehm zu hüpfen.
Um etwas runterzukommen, lud Dave mich noch auf ein Bier bei sich zu Hause ein. Wir saßen auf seinem Balkon und genossen den Sonnenuntergang. Er fragte mich: „Siehst du irgendwas, das ich nicht sehe, oder warum grinst du so?“
Ich erklärte ihm, was ich fühlte. Der Unfall am Sunset Boulevard war nun fünf Stunden her und ich war mir sicher, was sich aus meinem tiefsten Inneren immer mehr herauskristallisierte. „Ich weiß nun, wie mein neuer Alltag aussehen soll. Ich hatte solch eine Freude daran zu helfen, etwas zu geben. Ich werde Sanitäter.“
„Salut“, sagte Dave und hob sein Bier.
Wir stießen an und saßen noch bis tief in die Nacht auf seinem Balkon.