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Wer sich umdreht
Gregor
Lisa stand vor ihm am offenen Fenster. Aus dem Garten trug der Wind das liebliche Aroma der Orangenblüten herauf, doch Lisas Duft in seinen Armen genoß Gregor mindestens ebenso sehr.
"Ich könnte jedes Jahr hierherfahren!", seufzte er. "Manchmal würde ich am liebsten nach Südfrankreich auswandern!"
Da waren verwilderte Kräuter im Garten, etwas Gemüse, Oleanderbüsche, Bouganville an der Hauswand und ein großer Orangenbaum, durch dessen Zweige das Meer schimmerte. Unter dem Baum standen ein Holztisch und drei Stühle in hellem blau. Weiter hinten, neben einem kleinen Hühnerstall, trug ein zweiter Baum kleinere Früchte. Die alte Frau aus dem Erdgeschoß rief den Hund, streichelte ihm die Ohren und füllte seine Futterschüssel. Ihr Mann erntete Tomaten. Auf der holprigen kleinen Straße neben dem Grundstück fuhr ein Mädchen auf ihrem Fahrrad vorbei. Hinter ihr schimmerten silbrige Olivenbäume. Lisa lächelte, und wieder dachte Gregor, dass er sie endlich gefunden hatte, die Frau, nach der er sich immer gesehnt hatte.
"Ja, es ist traumhaft schön hier", stimmte sie ihm zu. Gregor atmete tief ein.
"Dieses Licht, der Duft, die Ruhe..." Unten knatterte zwei Mopeds vorbei. Sie sahen sich an und lachten.
"Nirgends duftet es so herrlich nach Benzin!", schwärmte Lisa, machte sich los und drehte sich.
"Du verstehst mich immer so gut.“ Gregor grinste und zog sie wieder an sich. Lisa lachte. Sein Handy vibrierte auf dem Tisch.
"Mal abschalten vom Internet und dem ganzen Immer-verfügbar-sein-müssen..." Sein verklärter Blick wanderte von Lisa zum Handy. Sie lachte noch mehr.
"Es wird dein Sohn sein." Sie wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. "Hoffentlich sind sie auch gut angekommen. Grüß ihn von mir!" Keno war vierzehn und nun zum ersten Mal mit seinem Freund und einer Jugendgruppe im Urlaub. Er nahm die Trennung seiner Eltern relativ gelassen, wie es Gregor schien. Vielleicht hatten er und Katja ja einiges richtig gemacht. Sie hassten einander nicht.
Lisa hatte während des Telefonats ein paar Dinge ausgepackt, auf dem Sideboard ausgebreitet und war dabei, sie in die Küchenschränke zu räumen: Kaffee, Müsli, ein scharfes Küchenmesser, Knoblauch, ein kleines Fläschchen Balsamicoessig und eins mit Olivenöl...
"Das hast Du alles mitgenommen?"
"Ja, es ist lästig, alles kaufen zu müssen, was man mal für eine Malzeit hier braucht. Meine Erfahrung!" Sie lächelte und sah sehr jung aus in diesem Moment. Manchmal konnte er sein Glück kaum fassen. Es gab Leute, die rechneten ja gar nicht mehr mit solchen Lebensgeschenken, wenn sie nicht mehr jung waren. Sein Freund David war das beste Beispiel.
"Was, 39 Jahre, schön, witzig, klug und noch nie eine lange Beziehung gehabt?" Er hatte sein Gesicht in besorgte Falten gelegt. Pff. David war seit drei Jahren Single und frustriert.
"Oh, schau mal, was im Kühlschrank steht!" Lisa hielt ein kleines Fläschchen Sekt in die Höhe.
"Na, das passt doch, ein Willkommenstrunk." Gregor suchte zwei Gläser und goss ein. Mit den Sektgläsern in der Hand traten sie wieder vor ihr Gartenfenster.
"Schade, der Orangenbaum verhindert unseren Meerblick fast ganz." Lisa antwortete nicht. Er strich ihr das braune Haar aus dem Gesicht und sah, dass sie traurig war. Oder hatte sie Angst?
"Na, so schlimm finde ich das nun auch wieder nicht!" Gregor hob die Augenbrauen und sah sie an. Wo war der Schalk in ihren Augen? Er suchte ihn, doch da war nur Dunkelheit. Was war los?
Es war nicht das erste Mal, dass sie melancholisch wurde, wenn alles besonders schön war. Er hatte schon öfter darüber gegrübelt. Es war das einzig Merkwürdige an ihr. Schweigend standen sie nebeneinander. Langsam färbte der Abend den Himmel rosa und gelb.
„Das Haus, es erinnert mich an ein anderes Ferienhaus, in dem ich mit meinen Eltern war. In Griechenland. Ich war sieben.“ Lächelnd sah sie ihn an, doch ihre Stirn bildete in der Mitte eine zarte, senkrechte Falte.
„War es ein schöner Urlaub?“, fragte Georg und versuchte ihren Blick zu enträtseln. Abrupt drehte sie sich um.
„Ich mache mich nur schnell frisch, dann können wir ein Restaurant zum Abendessen suchen.“ Sie verschwand im Bad. Die Gardine wehte direkt vor ihm ins Zimmer. Er zog sie zur Seite und blickte zum Himmel. Sollte es heute noch ein Gewitter geben?
Sie fanden ein kleines familiengeführtes Restaurant mit nur drei Außentischen auf einem kleinen Platz, der von einer blühenden Seidenakazie überdacht wurde. Lisa erzählte von ihrer Arbeit und den Kollegen. Sie lachten den ganzen Abend viel und tranken noch mehr Rotwein. Lisa war so überzeugend aufgedreht wie sie kurz vor dem Ausgehen traurig gewesen war. Gregor genoss den Abend und wunderte sich doch.
Lisa
Sie hatte ihn schon gesehen, als sie mit den Koffern ins Wohnzimmer hereingetreten waren. Ganz hinten, hinter der Tür zum Schlafzimmer hatte er gestanden und neugierig hervorgeguckt. Schon als sie auf das Haus zugelaufen waren, war ihr wieder alles so vertraut vorgekommen. Sie kannte das Hühnergegacker, die Orangenbäume, den bellende Hund, die Katze, die auf der Stufe zum Eingang lag.
Das war nicht das erste Mal, einige Male und auch im letzten Urlaub war es schon so ähnlich gewesen, mit ihrer Freundin Greta auf Sizilien. Sie hatten den Urlaub vorzeitig abgebrochen, weil es ihr immer schlechter gegangen war. Aber obwohl Greta ihre Freundin war, hatte Lisa nicht mit ihr darüber reden können. Greta war nicht die Richtige dafür, fand sie. Seit diesem Urlaub hatten sie nicht mehr oft telefoniert.
Zuhause hatte sie eigentlich zu einem Arzt gehen wollen, doch dort war alles wieder normal gewesen und sie hatte sich erholt. Ihr immenses Arbeitspensum war schon immer ihre beste Therapie. Sie schaute nicht gern zurück und deshalb redete sie auch mit keiner anderen Freundin über ihre Erlebnisse. Trotzdem hatte sie deshalb dieses Jahr eigentlich in die Berge oder nach London fahren wollen, nur zur Vorsicht. Doch dann hatte sie Gregor kennen gelernt und er hatte sie überredet. Sie erinnerte sich noch an jedes Wort. Es war beim Frühstück in ihrer Küche gewesen:
„London kann man doch mal ein verlängertes Wochenende machen."
"Ich denke, man kann auch ein, zwei Wochen gut in London und Umgebung verbringen, ich hatte es mir halt schon länger vorgenommen. Es ist eine tolle Stadt, es gibt wunderbare Museen..."
"Na klar, das ist so, ich weiß. Aber es ist eine Großstadt. Und wo leben wir hier? In einer Großstadt. Und in England regnet es ständig. Wenn ich mir vorstelle, meinen Sommerurlaub im Regen inmitten von herumhetzenden Menschenmassen zu verbringen..." Er zog ein säuerliches Gesicht. Dann setzte er sich plötzlich auf und seine Augen funkelten. "Wäre es nicht viel schöner, in der Abendsonne am Strand spazieren zu gehen? Morgens steigen wir auf irgend einen schönen kleinen Berg mit toller Aussicht, sammeln dabei wilden Thymian, kaufen auf dem Rückweg ein paar süße Tomaten auf dem Markt und kochen uns dann ein kleines Mittagessen damit. Dann gehen wir ein bisschen an den Strand oder bummeln durch eine hübsche Altstadt. Und auch an der Côte d’Azur gibt es tolle Museen..."
"Ja, sicher, ich weiß... Die Côte d`Azur ist sehr schön..." Gregor nahm ihre Hand und küsste sie.
"Ich verspreche Dir, dafür fahre ich mit Dir auch für mindestens eine Woche nach London, noch dieses Jahr. Wir nehmen uns dann einfach nochmal Urlaub, wenn Du nicht bis zum Herbst warten willst, dann eben noch Ende des Sommers."
"Im Herbst regnet es mir zu viel in London."
"Oh ja, dann also noch im August." Sie hatte gelächelt. Was hätte sie ihm auch sagen sollen, wie sollte man so etwas erklären? Gregor tat ihr gut, er war feinfühlig und warmherzig. Und eigentlich liebte auch sie die südliche Sonne. Sie wollte es mit ihm noch einmal versuchen. Sie hatte genug von Halbherzigkeit und Flucht. Vielleicht hatte sich in ihr ja auch durch diese Beziehung inzwischen alles verändert, vielleicht würden diese Dinge nicht wieder passieren. Sie wollte, dass es so war.
Heute Abend im Restaurant, nachdem sie schon eines Besseren belehrt worden war, hatte sie mehr Rotwein getrunken als sie sollte und wider ihrer Befürchtung hoffte sie nun, einfach schnell einschlafen zu können. Erschöpft fiel sie ins Bett. Ihr Kopf war schwer und das war gut so. Sie rollte sich zusammen und regte sich nicht mehr, auch nicht als Gregor sie sanft auf die Schläfe küsste. Sie versuchte, an nichts zu denken außer an eine weiße Wand. Manchmal gelang es ihr so, schnell einzuschlafen. Ihr Liebster seufzte ein paar Mal enttäuscht und auch vorwurfsvoll, doch dann war er eingeschlafen, schneller als sie.
Fast unmittelbar im nächsten Augenblick stand das Kind an ihrem Bett, ein fünfjähriger Junge, blond, leicht gebräunt und mit Sommersprossen. Er trug eine blaue Badehose und ein weißes T-shirt mit einem grinsenden Bären darauf.
„Was willst du?“, flüsterte sie. Doch das Kind schwieg. Immer schwieg es. Sie griff nach ihm, doch es wich zurück.
„Wenn du nicht redest, lass mich in Ruhe!“, verlangte sie und schloss die Augen, doch sie spürte, dass er sich nun über sie beugte. Entsetzt riss sie die Augen auf und blickte direkt in sein liebes Gesicht. Sie schrie auf und setzte sich.
Gregor knipste das Licht an.
Gregor
„Hey Lisa, was ist denn los?“ Lisa starrte zur Wand, als stünde dort ein Geist.
„Siehst du ihn nicht?“, fragte sie mit Augen voller Tränen.
„Wen soll ich sehen?“
„Den Jungen dort.“ Sie zeigte auf die Fensterfront, als würde dort jemand laufen. Doch Gregor sah nur, wie die Gardine sich ein wenig bewegte. Es war noch immer windig draußen.
„Lisa, was ist los? Da ist niemand.“ Gregor setzte sich ebenfalls auf und fasste Lisa am Arm.
„Dieses Haus ist ein Geisterhaus, ich hatte es mir gleich gedacht!“, stieß sie hervor und blickte ihn trotzig an.
„Du glaubst doch so etwas nicht, oder? Hör mal, du hast schlecht geträumt!“ Gregor versuchte zu lächeln und stricht ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
„Du glaubst so etwas nicht, natürlich nicht!“, rief Lisa und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Gregor schüttelte ganz leicht den Kopf und es war ihm, als sähe er Lisa ganz neu. Eine andere Lisa, traurig und voller Angst.
„Bist du krank…, Lisa?“, fragte er sehr leise. Sie antwortete nicht, sah sich im Zimmer um, als hätte sie es gerade erst betreten, blickte ihm in die Augen und legte ihren Kopf dann auf ihre angezogenen Knie.
„Ich glaube nicht.“ Wieder schwieg sie. „Zumindest normalerweise nicht. Letztes Jahr im Urlaub mit meiner Freundin habe ich ihn zum letzen Mal gesehen.“
„Wen?“
„Den Geist.“
„Den Jungen?“
„Ja.“
Lisa
Gregors Blick tauchte ganz unerträglich direkt in ihre Seele. Wie konnte sie ihn loswerden? Er war zu dicht, er sah zu viel! Lisa hielt die Hände vor ihre Augen, doch Gregor schwieg. Als sie vorsichtig durch ihre Finger schaute, wanderte Gregors Blick plötzlich durch sie hindurch. Irgendwo stieß er auf etwas. Dann wanderte dieser Blick wieder zurück zu ihr.
„Kennst du diesen Jungen?“ Er nahm jetzt eine ihrer Hände und legte sie in seine. Seine Stimme klang sanft, so sanft, dass sie sich gestreichelt fühlte.
„Ja“, antwortete sie und folgte den verschlungenen Linien des Musters auf der Bettdecke. „Ich kenne ihn.“ Gregor war da. Er hörte ihr zu. Er hielt ihre Hand. Von draußen drang das Zirpen der Zikaden herein, von fern grollte Donner.
„Er ist mein Bruder.“
„Was war damals in diesem Urlaub in Griechenland mit deiner Familie, als du sieben warst?“ Wieder war Gregors Stimme sehr leise. Sie wünschte, er wäre lauter gewesen, erschrockener, desinteressierter, hilfloser, abweisender. All dies hätte ihr ermöglicht zu fliehen. Sie war auf der Flucht seit ihrem 7. Lebensjahr. Die Freundinnen, die Therapeutin, niemand hatte sie einholen können. Vielleicht hätten es ihre Eltern gekonnt, doch die waren selbst auf der Flucht seitdem, auf ihre Weise. Doch diese Stimme und diese warmen Augen ließen sie nicht fliehen. Erschöpft sank sie auf ihr Kopfkissen zurück.
„Er ist ertrunken in diesem Urlaub, im Meer beim Spielen, direkt hinter mir. Er war fünf. Ich habe es beim Spielen nicht gemerkt, mich nicht umgedreht. Ich habe ihm nicht geholfen.“
Gregor sah ihr in die Augen. Dann zog er sie in seine Arme und streichelte sie. Hier wollte sie bleiben. Wann hatte je ein Mann so gut gerochen wie er.
„Aber jetzt hast du dich umgedreht ... und ihn gesehen“, flüsterte er. „Vielleicht wollte er nicht vergessen werden?“ Lisa weinte.
„Hat er dir Vorwürfe gemacht, wenn er als Geist zu dir kam?“
„Nein. Wir hatten damals einen schönen Nachmittag zusammen gehabt, bevor es passierte. Wir hatten im Ferienhaus mit der Katze gespielt und dann am Strand, unsere Sandburg mit Muscheln und schönen Steinen geschmückt. Er trug diese blaue Badehose und das weiße Shirt. Ich habe ihn so lieb gehabt!“ Heftig schluchzte sie nun. „Genauso kam er immer zu mir, letzten Sommer und heute wieder, so wie wir damals waren, als würde er mit mir weiterspielen wollen.“ Gregor ließ sie weinen. Als sie sich etwas beruhigt hatte, lauschten sie der Stille, die Lisas vorherige Worte einwickelte wie in schönes Geschenkpapier.
„Er muss dir schrecklich gefehlt haben damals.“ Lisas Tränen liefen jetzt lautlos. Irgendwann sprach sie weiter.
„Ich konnte nicht an diesen Urlaub zurückdenken. Ich habe es nicht getan. Ich wäre verrückt geworden.“
Draußen regnete es jetzt sehr heftig und der Donner war näher gekommen. Der frische Duft von nasser Erde erfüllte den Raum.
"Es war als könnte ich nicht zurückblicken, genauso wie ich mich damals nicht nach ihm umgedreht hatte", flüsterte sie. "Aber jetzt, jetzt sehe ich wieder alles." Ganz klar und deutlich lag der ganze schöne Urlaub in Griechenland vor ihr, schön, bis zu diesem Tag des Grauens. Morgens waren sie johlend in den Betten herumgesprungen. Zum Hochzeitstag ihrer Eltern hatten sie von ihrem Taschengeld eine kleine Melone gekauft, ihr Inneres ausgehöhlt und gegessen. Anschließend hatten sie ein paar Blumen von einer Rabatte geklaut und dieses blühende Arrangement den Eltern morgens auf den Frühstückstisch gestellt. Sie sah sich mit ihm zusammen am Strand herumtollen. Von ganz tief innen drängten Gefühle aus ihr heraus, viele, große Gefühle. Der Regen prasselte und wusch den Staub von allem weg.
„Er fehlt mir immer noch so sehr!“