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Warten auf den Sohn

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06.01.2022
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Warten auf den Sohn

Er schlurft zum Waschbecken und tritt dabei auf seinen Pyjama. Dreißig?... Zweiunddreißig Jahre hat das Leben sie getrennt!
Er starrt in den Spiegel. Sein Sohn hat eine runde Stirn, die genauso aussieht wie seine. Hinter seiner professoralen Brille ist es derselbe Blick, auch wenn der Junge die blauen Pupillen seiner Mutter geerbt hat.
Bei ihr war es ein Misserfolg gewesen. Plaisir d'amour hatte nicht lange gedauert.
Seit seiner Inhaftierung hat er seinen Sohn nicht mehr gesehen. Eine Entführung, die viel versprach. Eine millimetergenaue Operation. Die Sache war in die Hose gegangen. Wie alles, was er unternahm.
Zweimal hat er versucht zu türmen, aber beide Male sind seine Versuche gescheitert. Der zweite Versuch hat das Leben eines Aufsehers gekostet und ihn selbst hat es teuer zu stehen gekommen. Wenn seine Strafen nicht zusammengefasst worden wären, hätte er siebenundsiebzig Jahre gebraucht, um sie abzusitzen.
Seine Frau hat ihn im Stich gelassen. Wäre es mit einem Kerl gewesen, könnte er sich schuldig fühlen; sie hatte ihm ein Horn mit einer anderen von der gleichen Sorte verpasst. Eines Tages wurden sie ein Paar und fuhren nach Paris, wobei sie das siebenjährige Kind bei ihrer Mutter zurückließen.
Anfangs kam seine Schwiegermutter ab und zu ins Besuchszimmer. Durch sie hatte er erfahren, dass der Junge in der Schule fleißig war. Dann war Schluss. Nach dem ersten gescheiterten Ausbruch wurde er in eine andere Region verlegt. Zu weit weg für die Stiefmutter.
Sein Sohn gehört zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart. Das ist nicht sein Verdienst. In einem Fernsehinterview hat der Junge seine Verachtung schmerzhaft geäußert: „Ich weiß, dass ich meinen Vater nie wiedersehen werde und ich sprühe vor Freude.“ Als er das sagte, hatte sein Sprössling einen Tick. Etwas, das er von ihm geerbt hat. Wenn er sich verlegen fühlt, zuckt der kleine Lachmuskel in seinem Mundwinkel.
Also hatte er ihm einen Brief geschrieben, adressiert an den Moderator der Sendung. Nun kommt sein Sohn am frühen Nachmittag an.
Der angekündigte Besuch seines Kindes bereitet ihm Bauchschmerzen. Er geht zur Toilette in der Ecke gegenüber dem Waschbecken und zieht seine Pyjamahose herunter.
Im Grunde ist er zu nichts nütze.
Dieser XXL-Schlafanzug! Er schätzt die Länge der Hosenbeine ab. Jedes ist über einen Meter lang. Er dreht sich um und schaut nach oben. Die Toilettenspülung? Fest an der Wand befestigt! Er könnte auf den Thron klettern, ein Ende an das Wasserrohr binden…
Er zieht seine Hose aus.
Schauspieler verbeugen sich vor ihrem Publikum, bevor sie die Bühne verlassen.
„Leb wohl!“
Er deutet mit dem Finger auf den Spiegel, der sein Abbild reflektiert… Sein Abbild: Er sieht sich nicht! Er hat sich noch nie direkt gesehen:
„Du, das bin ich nicht!“
Jetzt begreift er, was die Worte seines Sohnes in der Sendung bedeuteten. Der Junge hatte gesagt: "Man stirbt nicht jeder für sich selbst, sondern die einen für die anderen."
Der Spiegel setzt ein versonnenes Lächeln aus:
„Es ist an der Zeit, dass wir uns kennenlernen, und wenn du lachst, lache ich mit.“

 

Hallo @Eraclito,

erst mal ein bisschen Textkram:

ihn selbst hat es teuer zu stehen gekommen.
ist es teuer

sie hatte ihm ein Horn mit einer anderen von der gleichen Sorte verpasst.
'Hörner aufsetzen' ist zwar ein feststehender Begriff, doch etwas antiquiert, vor allem drückt er sehr wenig Emotionalität aus. Ich meine ... sie verlässt ihn! Lässt ihn sitzen!

Als er das sagte, hatte sein Sprössling einen Tick. Etwas, das er von ihm geerbt hat. Wenn er sich verlegen fühlt, zuckt der kleine Lachmuskel in seinem Mundwinkel.
Der Sohn hat den Tick nicht nur, "als er das sagte". In diesem Moment zeigt sich der Tick (wieder mal).

Ich weiß, dass ich meinen Vater nie wiedersehen werde und ich sprühe vor Freude.“
Ist das Ironie? Dann:
Nun kommt sein Sohn am frühen Nachmittag an.
wäre das seltsam. Freut er sich über das Wissen den Vater nicht mehr zu sehen?

Der Spiegel setzt ein versonnenes Lächeln aus:
Lächeln auf.

Besonders am Anfang deiner Geschichte gibt es viele "hat", das Ganze liest sich recht unflüssig. So, als wenn der Text immer wieder neu beginnt.

Zum Inhalt: Mieses Leben, Selbstmord, Spiegel - das ist, für mein Empfinden, eine unglückliche Kombination, zu oft benutzte Ansätze einem Text vermeintliche Tiefe zu geben (immerhin kein zerbrochener Spiegel).

Man weiß einfach zu wenig vom Leben, den inneren Kämpfen der Personen, um an ihrem Schicksal Anteil nehmen zu können.

"Man stirbt nicht jeder für sich selbst, sondern die einen für die anderen."

Das ist ein interessanter Satz. Wenn du dem Leser noch zeigst, warum das zutrifft und welche Bedeutung das für die beiden hat ...

Leider heute keine besseren Nachrichten.

LG,


Woltochinon

 

Hallo @Eraclito,

dein Text liest sich schnell und ist doch so voll mit Konflikten. Entführung, Gefängnisleben, Trennung, Ausbruch …
Ich hätte sehr gerne von jedem dieser Konflikte mehr erfahren. Was mir in Erinnerung bleibt, ist, dass sich einer im Gefängnis aufgehängt hat, der einen Sohn zurücklässt, zu dem er nie Kontakt hatte.
Ich teile den Leseeindruck von @Woltochinon und habe nur wenig hinzuzufügen.

Hinter seiner professoralen Brille ist es derselbe Blick, auch wenn der Junge die blauen Pupillen seiner Mutter geerbt hat.
Pupillen sind immer schwarz. (Eigentlich haben sie gar keine Farbe, das Licht macht sie schwarz.) Du solltest entweder Augen schreiben oder die Iris.
Ich weiß, dass ich meinen Vater nie wiedersehen werde und ich sprühe vor Freude.“
Hier habe ich mich gefragt, warum er sich da so sicher war und warum er vor Freude sprüht.
Also hatte er ihm einen Brief geschrieben, adressiert an den Moderator der Sendung. Nun kommt sein Sohn am frühen Nachmittag an.
Was stand in diesem Brief, wenn sein Sohn sich umentschieden hat?
Hat er seinem Sohn nie aus dem Gefängnis geschrieben?
"Man stirbt nicht jeder für sich selbst, sondern die einen für die anderen."
Diesen Satz verstehe ich nicht.

Zu viele Fragezeichen für mich.

Liebe Grüße
CoK

 

Hallo @Eraclito

Eine Entführung, die viel versprach. Eine millimetergenaue Operation. Die Sache war in die Hose gegangen. Wie alles, was er unternahm.
Zweimal hat er versucht zu türmen, aber beide Male sind seine Versuche gescheitert. Der zweite Versuch hat das Leben eines Aufsehers gekostet und ihn selbst hat es teuer zu stehen gekommen.
Ich habe etwas Mühe damit, dass eine Entführung eine milimetergenaue Operation sein soll. Sind bei einer Entführung nicht eher andere Faktoren wichtig, bspw. das Timing oder so? Bei einer 'milimetergenauen Operation' stelle ich mir eher vor, wie er einen Safe aufbohrt o.ä., aber vielleicht bin das nur ich.

Ja, ist Flash Fiction, aber hier würde sich doch anbieten, eine "ganze Story" daraus zu machen, also damit man mit dem Eingesperrten irgendwo mitfühlen kann, damit sein Schicksal für mich als Leser interessanter wird. Was da genau passiert ist, bei dieser Entführung etc., darüber hätte ich gerne mehr erfahren. So wie es hier steht, einfach als ganz kurze und schmucklose Abhandlung, erreicht mich das leider nicht und ich zucke nur mit der Schulter. Ich denke es ist vielleicht etwas schwierig, ein ganzes (und so bewegtes) Leben in diese kurze Form zu giessen. Spannend wäre es auf jeden Fall, wenn Du das noch entsprechend erweitern würdest.

„Ich weiß, dass ich meinen Vater nie wiedersehen werde und ich sprühe vor Freude.“
Nun kommt sein Sohn am frühen Nachmittag an.
Ich finde, das ist ein Widerspruch. Wenn er das in aller Öffentlichkeit gesagt hat, wieso kommt er ihn dann trotzdem besuchen? Wollte er ihn einfach nur demütigen, ihm ein schlechtes Gewissen machen?

"Man stirbt nicht jeder für sich selbst, sondern die einen für die anderen."
Hier schliesse ich mich den anderen KommentatorInnen an: Ich glaube schon ungefähr zu verstehen, was Du damit sagen willst, aber nicht wirklich im Kontext der Geschichte. Ich finde, da fehlt was.

Der Spiegel setzt ein versonnenes Lächeln aus:
'auf' statt 'aus'. Und ist es nicht eher das Spiegelbild, welches das Lächeln aufsetzt? Der Spiegel selbst kann das ja nicht.

Trotzdem gerne gelesen.

Beste Grüsse,
d-m

 

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