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Vom Abstieg und Fall einer Wüstenrennmaus
Er hatte noch nie durch das Montmartre gehen können ohne nicht wenigstens ein bisschen melancholisch zu werden. Das Mindeste war, dass er sich gedankenversunken auf die Treppe zur Sacre Coeur setzte und ins Leere starrte. Aber auch einen Tränenausbruch hatte er schon zustande gebracht. Und zwar gerade da, während er sich in einem Anfall von Selbsterkenntnis von einem Straßenmaler als Comicfigur hatte zeichnen lassen. Das Leben war einfach zu viel für ihn. Und der Tod auch. deshalb grübelte er oft, ob es nicht noch etwas gab, das weniger kompliziert war. Vielleicht wäre es für ihn genau das Richtige, als primitiver Geist herumzufliegen und Leute zu erschrecken.
Manchmal wünschte er sich, er würde zu der Zeit leben, als die Menschen noch Affen waren und keine überentwickelten lebenden Computer wie heute.
Er blieb vor dem Karussell stehen und starrte den hüpfenden und sich scheinbar endlos im Kreis drehenden Pferden hinterher. Diese Pferde sind das Abbild der Menschen, dachte er. Sie meinen, sie kommen vorwärts, obwohl sie sich nur immer wieder im Kreis drehen. Vielleicht meinen sie sogar eher überhaupt nichts...Ha!
Er drehte sich ruckartig um und bog in die Rue Gabrielle ein. Hier hatte er immer gesessen und musiziert. Auf seiner Mundharmonika. Wie hatte er sie geliebt! Inzwischen lag sie entweder im Müll oder dort, wohin alle Dinge früher oder später von der Zeit und der Vergänglichkeit verscheppt werden: in einer verstaubten Kiste auf irgendeinem dunklen Dachboden.
Dieses verfluchte Gaunerpack!
Sie war damals ein Teil von ihm gewesen. Und obwohl sie so klein war, war sie das Großartigste, das er je besaß... Sie war nicht nur eine Harmonika für den Mund, sie war eine Harmonika für sein ganzes Leben gewesen. Er war ein sehr harmoniebedürftiger Mensch.
Sogar im tiefsten Winter hatte er dort gesessen, halb erfroren. Aber die Kälte hatte er kaum bemerkt, weil sein Geist stets woanders unterwegs war als sein Körper wenn er spielte: im heißen Sand der Wüste. Als Wüstenrennmaus. Als kleine Maus mit flinken Beinen flitzte er durch die Weite der Wüste, der Freiheit. Aber dann war er plötzlich in einem Käfig gelandet. Jetzt rannte er nicht mehr durch die unendliche Weite der Wüste, jetzt strampelte er sich in einem Laufrädchen aus Plastik ab und kam trotzdem nicht vom Fleck.
Aus einer Rennmaus war eine "Flennmaus" geworden, die nicht mehr durchs Leben rennt, sondern flennt. Bald schmeckte ihr sogar das extra vitaminreiche Trockenfutter nicht mehr.
Aus dem freiheitsliebenden Lebenskünstler war zuerst ein Aktentaschen tragender Börsenheini und dann ein Versager geworden. Ein Versager, der Nachtschicht in der Abteilung für Verlängerungskabel einer Kabelfabrik arbeitet. Alles, was er für seinen lächerlichen Lohn tun musste war, graue Verlängerungskabel, die auf einem grauen Fließband an ihm vorbeiziehen, in graue Plastiktaschen zu stecken. Nacht für Nacht.
Er hätte gerne mit einem dieser grauen Kabel getauscht. Das Grau war immer noch lebensfroher als er selbst. Außerdem wäre er dann auch für was nützlich gewesen. Ein Verlängerungskabel ist sogar ziemlich wichtig.
Er kickte eine zerbeulte Coladose vom Gesteig auf die Straße. Diese Dose war wahrscheinlich genauso unwichtig wie er selbst. Sie wurde von nichts und niemandem mehr gebraucht außer von der Pariser Müllhalte. Und selbst die hatte wahrscheinlich schon mehr als genug Coladosen.
Er wusste, dass das Leben wundervoll sein konnte, er hatte es ja selbst einmal erlebt. Aber er hatte es verpatzt, er war ein Versager. Alles, was er noch tun konnte war jammern und heimlich hoffen oder sich umbringen. Wenn der Tod nur nicht so kompliziert wäre...
Er ging weiter. Wenigstens hatte er kapiert, dass es nichts brachte, in diesem verdammten Laufrädchen aus Plastik rumzurennen.
Diese Geschichte entstand aus den Wörtern: Rennmaus
Nachtschicht
Verlängerungkabel
erfroren
musizieren