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Inspiriert von Blasphemous (Videospiel)
Vergib uns
Ein Seemann kehrte nach langer Abwesenheit nach Hause zurück. Je weiter sich seine Schritte dem Ziel näherten, desto mehr war ihm, als würde ein Vorhang über den Himmel geworfen, der das Sonnenlicht jeglichen Mitgefühls beraubte. So vertraut, wie die Heimat wirkte, kam sie ihm auch seltsam fremd und verändert vor. Die trockene Landschaft knirschte hart unter den Sohlen und der Staub brannte in den Augen. Das schwarze Getreide auf dem Feld brach längs an den Körnern wie Augen auf. Grannen bogen sich wie Stacheln und die Ähren drehten sich mit seinen Schritten mit, doch in der vor Hitze flimmernden Luft hielt er es für eine Sinnestäuschung, der er keine Beachtung schenkte. In der Ferne die Häuser von Paramo standen inmitten dieser Einöde, als wüssten sie nicht so recht, ob sie sich aneinander drängen oder voneinander fernhalten sollten.
Als er gegen Abend sein Haus betrat, lag sein Weib mit geschwollenem Bauch im Bett. Schwer atmend gab sie ab und an Schreie von sich. An der Seite saß der Pfarrer, hielt ihre Hand und leistete flüsternd Beistand. Eine Vettel mit filzigen, grauen Haaren kniete auf der anderen Seite, doch weder Tücher noch Wasser hielt sie bereit. Die Überraschung ließ ihn in der offenen Tür erstarren.
"Was geht hier vor?", verlangte der Seemann in aufkeimendem Zorn zu erfahren, der jede Freude auf das traute Heim vertrieb, denn wie jeder Seemann, der seit länger als einem Jahr nicht das eigene Heim betreten und sein Weib in freudiger Erwartung vorfand, zog er seine Schlüsse. Das Herz verkrampfte sich in seiner Brust ob des Verrats und er hätte ihr die Fäuste ins Gesicht geworfen, wenn es nicht der falsche Augenblick dafür gewesen wäre.
"Lucidio", sprach der Priester und erhob sich, kam mit zur Begrüßung ausgebreiteten Armen auf ihn zu. "Wir haben dich nicht erwartet."
Doch den Angesprochenen verlangte es nach dem Empfang seines treuen Weibs, worauf sie alle Hoffnungen bereits vor Monaten zunichte gemacht hatte. Kein Wort des Priesters konnte den Seelenfrieden wiederherstellen.
Die Hand legte sich drohend auf den Säbel an der Seite und der Priester, empfindlich für die Gefühle, die seine Mitmenschen umtrieben, verstand den Hinweis und verzichtete auf die Vollendung der Geste.
"Raus hier."
Das Weib schrie mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Vettel drückte ihm die Hand. Lucidio erkannte die Notwendigkeit und wiederholte seine Forderung.
"Raus aus meinem Haus! Prudencia darf bleiben."
Der Priester legte die Hände zu einer versöhnlichen Gebärde zusammen und hob zu einer Gegenrede an, doch der Seemann stieß ihn durch die Tür. Am liebsten hätte er sein Weib ebenfalls fortgejagt, doch angesicht ihrer Umstände wollte er die Sache überdenken, daher ging er nur auf und ab. Zornige Gedanken formten sich zu einer Litanei der Beschuldigungen, die immer wieder zerfiel und sich neu zusammensetzte.
"Ich kann nicht glauben, dass du unseren Schwur gebrochen hast. Als ich um deine Hand anhielt, wusstest du, dass ich für lange Zeit fort sein würde." Er holte die Geldbörse hervor, prall gefüllt mit dem Lohn für die letzte Fahrt. Diese öffnete er und ließ Miriam den Inhalt sehen, doch die Niederkommende schaute nicht. "Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt, aber ich fahre nicht zur See, um einen Wechselbalg durchzufüttern."
Die Alte zeigte ob seiner Worte keine Regung, als wäre das Herz wie das Gesicht vertrocknet und nicht imstande, die Schwere der Schuld zu erfassen. Stumm suchte sie Miriams Erlaubnis, für sie zu sprechen, doch deren Lippen bebten nur in Erwartung der nächten Wehe, zu sehr mit den eigenen Empfindungen beschäftigt, als dass sie Raum hätte, den erzürnten Ehemann zu besänftigen.
Doch seine Seele war zu aufgewühlt und verlangte nach Beruhigung und sei es durch Worte. Er setzte sich auf die andere Seite des Betts.
"Wer ist der Vater, wer hat dir das angetan? Einer aus dem Dorf? Ich drehe ihm den Hals um." Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, fühlte er die Wahrheit, die in ihnen steckte. Auch wenn er das Weib mit seinem Zorn verschonen musste, gab es dort jemanden, an dem die Qualen seiner Seele ob dieses Verrats eine Schleuse finden konnten. Jemanden, dem er für diese Erniedrigung die Fäuste ins Gesicht schlagen konnte.
"Bitte, mäßige dich. Wir sind genug gestraft. Alle hier." Ihre schwache Stimme flüsterte und ließ die Erschöpfung erkennen. Im Seemann kämpfte das Verlangen danach, diese Schwäche für sich zu nutzen und weiter in sie zu dringen mit dem versöhnlichen Gedanken, ihrem Wunsch nachzukommen. In einem Akt der Einigung vertagte er die Angelegenheit auf morgen und er spürte die eigene Erschöpfung und den Hunger von der Reise. Kaum hatte er sich dazu entschlossen, brachen zornige Gedanken wie frische Triebe zurück an die Oberfläche, sobald sich die Wölbung des Bauchs unter der Decke zusammenzog und ihn an die Schande erinnerte.
Mit der Geldbörse verließ er das Haus, das sein trautes Heim hätte sein sollen und ihn so fremd empfangen hatte.
Das Wirtshaus wirkte gealtert in den Jahren der Abwesenheit des Seemannes. Wo vormals Gelächter und das Aneinanderstoßen von Krügen die ausgelassene Atmosphäre füllten, saßen die Männer nun stumm und vorgebeugt an den Tischen, als wollten sie nicht die Aufmerksamkeit der draußen hereinbrechenden Nacht auf sich ziehen. Spröde Würfel klackerten auf moderigem Holz und schmutzige Finger schoben Getreidekörner und Brotkrümel über den Tisch.
Die traurigen Gestalten richteten sich auf. Im Licht der Talgkerzen schälten sich die Umrisse aus dem Zwielicht und die alten Nachbarn erkannten einander. "Lucidio!", riefen sie seinen Namen in einer Mischung aus Begrüßung und Furcht - alle bis auf den Schmied, der den Mund zusammenkniff und sich ein Lächeln abrang, verzerrt zu einer Grimasse.
Der Bauer, mit Ohren fellbesetzt und spitz, sodass sie mit der braunen Färbung denen eines Hundes glichen, murmelte so leise, dass Lucidio es nur mit Mühe verstand: "Es wäre besser für dich, du wärst fortgeblieben."
Er schob dem Jäger, der nun an der Reihe war, die Würfel zu, nach denen dieser greifen wollte, doch der Ast, der diesem statt eines Arms aus dem Ellenbogen wuchs, schlug nutzlos Holz auf Holz, sodass der Empfänger sich daran erinnerte, die Linke zu nutzen.
Über allem lag das ständige Gemurmel des Knechts, der die meisten Getreidekörner des Tisches vor sich aufgehäuft hatte, unablässig Ziffern vor sich hinmurmelte und beim Nähern Lucidios die Stimme hob, als ob er sie als Begrüßung meinte.
"Was ist mit euch geschehen?" Obgleich der Seemann mehrere Jahre fortgewesen, blieb die Heimat in der Erinnerung die selbe, sodass ihm beim Anblick der alten Bekannten erst bewusst wurde, dass die Zeit auch vor diesem Ort keinen Halt gemacht hatte.
Das Gemurmel des Knechts dämpfte die Hand, die versuchte, den Redeschwall zu verhindern, der unablässig aus ihm hervorbrach.
Der Schmied würgte ein Wort heraus: "Nichts." Beim kurzen Moment des Öffnens der Lippen blitzten zwei winzige Augen den Seemann aus der Mundhöhle an und ein Zischen unterstrich das Wort.
Schultern rückten zusammen. Die Gestalten beugten sich über ihr Spiel und schoben mit schwachen Händen Getreidekörner herum.
Die Geldbörse, die sich in der Tasche gegen den Seemann wölbte, erschien ihm unwillig, Gerste aufzunehmen, sodass dieser seinem Plan getreu den Weg zum Tresen fortsetzte.
Der Wirt, weder blind noch taub gegenüber dem Eintreffen dieses unerwarteten Gastes, erwartete ihn bereits. "Lucidio, dich wohlbehalten heimgekehrt zu sehen erfüllt mein Herz mit Freude und Abscheu zugleich. Mein bescheidenes Dach sieht sich außerstande, dich gebührend zu verköstigen und verlangtest du nicht mehr als das einfachste Mahl, das den Hunger stillt, oder das schnödeste Getränk gegen den Durst."
"Alonzo, meine Dienste auf See wurden wohl bezahlt und mehr verlange ich nicht, weder Ruhm noch Ehre. Wenn du mir erlaubst, einen Teil des Lohns für die Produkte deiner Stätte einzutauschen, will ich zufrieden durch die Tür hinaus treten."
Der Seemann nahm auf einem schmierigen Schemel platz, wo er seine Mahlzeit einnehmen wollte und dabei die Gedanken nach vorne gerichtet halten, auf dass sie nicht zurückkehrten zum abscheulichen Bild der alten Bekannten.
"Lucidio, ich muss denken, du missverstehst."
Der Gastgeber begab sich zu einem Weinfass hinter dem Tresen, doch mit seltsam steifen Bewegungen und seine Schritte klapperten wie Pferdehufe auf dem Holzboden. Die soeben verdrängten Bilder kehrten zurück und Lucidio musste dem Impuls widerstehen, sich vorzubeugen und den Ursprung der Geräusche zu prüfen, als würde er seinen Augen mehr trauen als den Ohren, obwohl er das Zwielicht im Raum und das Flackern der Kerzen, das Schatten über die Wände tanzen ließ, für eine weitere Ausflucht heranziehen würde.
"Die Dürre lässt die Reben am Strauch vertrocknen und was daraus gärt, gleicht weder Wein noch Wasser."
Zäh tropfte dunkle Flüssigkeit in den bereitgehaltenen Becher. Einen Finger breit geduldete sich der Wirt, bevor er Lucidio das Getränk zur Ansicht reichte.
Dieser nahm einen Tropfen mit der Fingerspitze auf und zerrieb diesen, dass er verkrustete. Einen weiteren setzte er sich auf die Zunge und schmeckte metallische Süße. Blut!
"Das Bier aus dem verfluchten Getreide gebe ich nur tropfenweise gegen den Durst aus, sonst raubt es einem den Verstand." Er ließ von der dunklen, trüben Flüssigkeit in einen weiteren Becher ein, den er auf Armeslänge von Lucidio abstellte, wie eine Empfehlung, sich davon fernzuhalten und ihm gleichzeitig die Wahl zu überlassen, ob er sich daran zu versuchen wagte.
"Das einzige, was ich dir anbieten kann, was das Dorf am Leben hält, ist die Suppe von Prudencia."
Der Wirt rief nach der Küchenhilfe, ein junges Weib mit verfilzten Haaren. Lucidio hätte sie anziehend finden können, das Gesicht hübsch genug, würde es nicht fratzenhaft lächeln wie eine räudige Straßenkatze und dabei schiefe Zähne enthüllen. Sie stellte eine Schale lauwarmer Flüssigkeit, in der ein paar Fleischbrocken schwammen, vor dem Seemann ab und entfernte sich.
"Was ist das?" Lucidio präsentierte seiner Nase die Dämpfe, auf dass sie es erraten möge, doch es misslang.
"Wenn du an diesem Ort verweilen willst, isst du besser, ohne einen Gedanken daran aufzuwenden."
Der Seemann dachte an Ratten und erschauderte. Mit Maden und Schimmel, mit denen sich die Seeleute gelegentlich den Zwieback teilten, pflegte er die Bekanntschaft zu meiden oder, wenn das nicht möglich war, sie gegenüber sich selbst zu leugnen. Der Hunger ermöglichte ihm zuversichtlich die Selbsttäuschung, er würde Schweinefleisch genießen.
Er griff sogar zum Bier und konnte sich nicht recht entscheiden, welchen Geschmack er sich am glaubhaftesten machen konnte, bevor er ein paar bittere Tropfen die Kehle hinunterrinnen ließ.
Als das Licht des Tages seine Augen traf, fand sich der Seemann an keinem bekannten Ort wieder. Die Wände schwankten wie die einer Koje um ihn, doch das Stroh stach wie eine all zu irdische Schlafstätte. Das Verlangen, sich zu erleichtern und den bitteren Geschmack auf der Zunge hinfortzuspülen, weckten einen Antrieb, stark genug, um es mit dem Unwohlsein des Leibes aufzunehmen und mit dem Schaukeln, dass sich beim Erheben von dem Raum auf ihn selbst übertrug. Der hölzerne Flur, an dessen Ende eine Treppe hinabführte, beschwor vor langer Zeit vergessene Erinnerungen an die Unterkünfte des Wirtshauses herauf.
Im leeren Schankraum regte sich kein Lüftchen in der abgestandenen Luft. Ohne ausreichend Getränke zu verzechen, ersparte es dem Wirt den Aufwand, sie am kommenden Morgen aufzuwischen.
Der Seemann griff sich in die Tasche, um den Wirt für Speis und Unterkunft mit einer Silbermünze zu entlohnen, die er ihm hinter dem Tresen zurücklassen wollte, doch alas! Die vertraute Wölbung war verschwunden und es fand sich nichts als Staub in der Tasche.
Wie jeder gewöhnliche Mensch durchlief der Seemann bei dieser Entdeckung einige Geisteszustände, die ihn von der Erkenntnis der Wahrheit trennten. So glaubte er erst, er hätte nicht gründlich nachgesehen oder hätte das Geld in eine andere Tasche gesteckt, bevor ihm wie das Durchfahren einer Geistererscheinung mit Schrecken bewusst wurde, dass er den Lohn von mehreren Jahren Arbeit verloren hatte. Er schalte sich selbst mit stummen Worten, was für ein Esel er gewesen sei, das Getränk anzurühren, vor dem der Wirt ihn gewarnt hatte, doch nein, davon war seine Schuld nicht abzuleiten, besann er sich. Er musste die Börse verloren haben, entweder am Platz der Erfüllung seiner Bedürfnisse oder oben im Bett.
Wäre es die winzige Börse einer Maus gewesen, er hätte sie finden müssen, so gründlich suchte er die verdächtigen Orte ab und dann nochmal, ohne Erfolg. Die nächste Stufe, die er erreichte, ein dauerhafter Begleiter der letzten Tage, sodass er sie kaum noch wahrnahm, war Wut. Jemand hatte ihn bestohlen.
Seine Faust traf das morsche Holz des nächsten Tisches und hinterließ eine Delle. Wer konnte es gewesen sein? Mit allen Einwohnern des Dorfes war er von Kindesbeinen an bekannt und gerade in den Zeiten von Hunger und Entbehrung hatten sie Brot miteinander geteilt, aus der naheliegenden Erkenntnis heraus, dass keiner ohne die Gemeinschaft bestehen konnte. Es gab hier nichts, wofür der Reichtum einer Geldbörse es wert gewesen wäre, den wertvolleren und beständigeren Zusammenhalt dagegen einzutauschen.
Andererseits kam er sich nach den Jahren der Abwesenheit wie ein Fremder vor, der im Zustand einer Erinnerungstäuschung eine vertraut vorkommende Gegend aufsucht, doch bei jedem Schritt mehr und mehr erkennen muss, dass er sich irrt und die Dinge anders verhalten, als erwartet. Wenn das Getreide auf den Feldern verdorrt und die Brunnen austrocknen, als wäre es das Land selbst, dass sich von den Bewohnern zu entledigen sucht wie von einem Geschwür, würde am Ende der letzte Funken Zusammenhalt erlöschen, wenn die Möglichkeit bestünde, auf Kosten eines Fremden den Tod der eigenen Familie hinauszuzögern, und trüge dieser Fremde einen vertraut klingenden Namen?
Eine Eingebung formte sich im Seemann und nahm bildlich Gestalt an, als handle es sich um Erinnerungen und nicht um eine spontan auftretende Inspiration. Er sah sich auf dem Boden liegen, in die Arme des Morpheus geworfen von dem Bier aus dem verfluchten Getreide. Der Wirt, ob um das Wohlergehen dieses einen Gastes besorgt oder um mit diesem bedauernswerten Anblick den anderen Gästen nicht die nahtote Stimmung endgültig unter die Erde zu bringen, trug Lucidio in eines der freien Zimmer. Dabei berührte er die pralle Börse und während er sich ihrer alten Freundschaft erinnerte, die Freundschaft mit einem viel jüngeren Mann, der zumindest den gleichen Namen trug, ein Grünschnabel, der nichts von der Welt wusste, das Gesicht glatt und bubenhaft, nicht rauh und hart wie das des Besuchers, ging ihm auf, dass es in Wahrheit zwei verschiedene Personen waren. Er dachte an die Predigten der Kirche, dass es nicht schicklich war zu stehlen, an den schwarzen Schundfleck der Schuld in der Seele, der ihn des nachts um den Schlaf bringen und tagsüber die Gedanken betrüben würde, aber auch an Weib und Sohn, die zwischen die Wahl gestellt, jeden Tag die gleiche, wässrige Suppe zu essen und auf bessere Zeiten zu hoffen, während sie Tag für Tag die Kraft verließ, hätten sie nur etwas Geld, um auf dem Markt der nächstliegenden Stadt etwas Nahrung zu erstehen, die ihnen den Leidensweg bis zu den besseren Zeiten etwas verkürzen würde.
Ja, der Wirt musste es genommen haben.
Sogleich begab sich der Seemann zurück in das obere Geschoss, wo ihm eine ferne Erinnerung verriet, dass sich der Schlafraum des Wirts und dessen Familie dort befand. Obschon das Stampfen seiner wütenden Schritte genügte, das Haus zu erschüttern, schlug er gleich dem Läuten einer Kapellenglocke an die Tür. Weder Vorsatz noch Höflichkeit vermochten, ihn länger als einen Augenblick zurückzuhalten und er ließ sich selbst hinein.
Die Familie schrak in langen Nachthemden wie Gespenster aus den Laken auf und riss bei der Flucht in alle Richtungen an der Decke.
Der Wirt landete mit einem Satz auf dem Holz, sodass die Hufe klapperten und stand dort mit all der Pracht seiner Pferdeläufe.
"Wo ist mein Geld!"
Das Herannahen des Zornigen hätte keinen Kläpper schneller in die Flucht geschlagen. Alonzo, den Geschrei und Angst vor Züchtigung in Feuer und Wasser getrieben hätte, sprang die Hufe voran durch das Fenster. Gleich dem ersten Eis auf dem See zerbrach das brüchige Glas in grobe Scherben, die seinen kurzen Flug begleiteten, dann vernahm Lucidio verklingendes Galoppieren.
Weib und Sohn, die sich in der Ablenkung zum Ausgang schieben wollten, erstarrten, als der Besucher nach neuen Empfängern seiner Forderung suchte.
"Wer von euch hat mein Geld gestohlen?"
Dürre Arme pressten den Jungen an sich, ob zum Schutz von ihm oder sich selbst vermochte keiner zu sagen.
"Welches Geld? Wir haben kein Geld."
Im Raum fand sich außer der üblichen Einrichtung kein Hinweis. Der Seemann öffnete die Kiste mit den Habseligkeiten der Familie und erwartete, das Gesuchte obenauf zu entdecken, allein die Suche blieb erfolglos. Er fuhr zurück zu dem Paar, bevor es den Fluchtweg erreichte.
"Wer ist es dann gewesen, wer? Antwortet!"
Von dem Zorn des Zänkers entsetzt, waren die Bewohner erbleicht und kaum von den Nachthemden zu unterscheiden, die sie trugen. Das Weib streckte die zitternden Hände aus, von tüchtiger Arbeit gegerbt wie Leder und doch unversehrt.
"Wir waren es nicht, siehst du? Komm heute Abend in die Kirche und der Dieb wird sich offenbaren, sofern es einer von uns ist."
Lucidio schnaubte, vermochte der Logik jedoch nicht mit Gewalt zu begegnen und fühlte die Wahrheit in den Worten. Wie ein Sturm verließ er den Raum, auf dass sein Zorn nicht die Familie des Wirts treffen würde, der er weder Schuld hatte nachweisen noch ein Geständnis abringen können.
Sein eigenes Heim fand er in unerwarteter Stille vor. Miriam schlief die Anstrengung der letzten Nacht aus, doch kein hohes Stimmchen atmete an ihrer Seite, kein kleiner Leib begleitete ihre Ruhe.
Die gewaltsam aufgerissene Tür ließ sie aufschrecken und sie sank beruhigt zurück, als sie ihren Mann erkannte.
"Es ist still geboren", beantwortete sie die stumme Frage mit ausbleibender Gefühlsregung. Im Angesicht der Dürre, die das Land heimsuchte, kam dieser Ausgang ohne Überraschung einher.
Lucidio konnte sich nicht erwehren, bei dem Gedanken Erleichterung zu empfinden. Es milderte das Verbrechen durch das fehlende Ergebnis, auch wenn es jenes nicht ungeschehen machte.
Im Ringen, ob er seinen eigenen Verlust beichten wollte, gewann die Scham die Oberhand und er machte sich an seinem Bündel zu schaffen, so als würde er die Geldbörse dort verstauen, wo er sie tags zuvor entnommen.
Gerade wollte er seine Aufgaben im Haus wahrnehmen, da klopfte es an der Tür. Draußen stand ein Mädchen mit einem Krug und flehendem Blick.
"Milch, bitte. Für meine Familie."
"Wir haben keine Milch", sagte der Seemann schroff und wunderte sich im nächsten Moment über die Anfrage. Sie besaßen keine Tiere und sein Weib ...
"Aber ich bekomme sonst jeden Tag ..."
"Verschwinde." Er schlug die Tür zu, ohne eine Reaktion abzuwarten.
"Miriam", sprach er sein Weib mit lauter Stimme an, doch eine Reaktion blieb aus und das gleichmäßige Atmen zeugte davon, dass seine Worte die Empfängerin nicht erreicht hatten. Er zog dem schläfrigen Weib die Decke fort, schob das Hemd hinauf und griff hart an den Busen.
"Lucidio!" fuhr sie erschrocken auf, der Blick ein stummes Flehen um Erbarmen und ein Protest, den sie nicht wagte auszusprechen. Sie hatte keine Milch.
"Blanca hat eben nach Milch gefragt. Sie sagte, sie würde jeden Tag welche bekommen."
Das Verlangen nach einer Erklärung stand in der Stille des Raums, das dem Weib die Worte von den Lippen sog.
"Prudencia hat die letzten Tage meinen Schlaf bewacht. Sie beantwortete die Tür, während ich in den Armen des Morpheus ruhte."
Es waren Worte, die die Wissbegier des Seemanns nicht zu befriedigen vermochten. Die Vettel, alt und vertrocknet wie der Boden, hatte seit Jahrzehnten keine Milch gegeben. Es sei denn, sponn Lucidio den Gedanken weiter, sie hätte ... doch ihm kamen die traurigen Gestalten im Wirtshaus in den Sinn und was sie getan haben mochten, um diesen Zustand zu verdienen und ließen ihn erschaudern. Wenn sie von einem ähnlichen Schicksal geschlagen war, wollte er den Gedanken weit von sich weisen.
Der Seemann begann, sich um das Haus zu kümmern, reparierte ein Loch im Dach und den Zaun des kleinen Gartens, auch wenn die Früchte des Apfelbaums aus Holz wuchsen und sich die Blätter der Rüben vor Trockenheit zusammenzogen, bis ihre Spitzen Dornen oder Zähnen glichen.
Mühevoll erhob sich das Weib und fegte das Haus, dabei stützte sie sich von Zeit zu Zeit auf dem Besen ab und hielt sich den Bauch.
"Du solltest ruhen."
"Ich muss die Zeit nutzen, sonst werde ich mich nie mehr erheben."
Er bestand auf seinem Entschluss, schreckte allerdings davor zurück, ihn mit Gewalt gegen das Weib durchzusetzen und sei es doch zu ihrem Wohl, so drang er mit mitfühlenden Worten in sie, doch erfolglos.
Gegen Mittag klopfte es an der Tür des trauten Heims und ehe er sich versah, hatte das Weib den Besucher empfangen und füllte zwei Schüsseln mit Suppe aus einem Krug, den Prudencia gebracht, die gleiche Suppe, die der Seemann im Wirtshaus nicht umhin gekommen war, zu genießen. Die gleichen unbestimmbaren Fleischfibern schwammen in der mageren Brühe, doch es war das einzige Mittel gegen den Hunger, das zur Verfügung stand.
Am Nachmittag kam es dem Seemann vor, als würde dem Weib erneut der Bauch schwellen und gegen Abend wurde ihr die Arbeit so mühselig, dass sie sich zum Spinnen ans Feuer setzte und jeden Zweifel vertrieb.
"Was ist dir geschehen?"
"Ist dir die Fülle meines Leibes nicht Antwort genug?"
Gewiss, doch obschon ihm die alten Freunde im Wirtshaus allein durch Gestalt ihren Teil der Geschichte erzählten, vermochte er das Ausmaß der Strafe, die sein Weib getroffen hatte, mit Gedanken nicht zu erfassen. Obgleich er im Zorn beschwören würde, sie hätte es verdient, erschauderte er nüchtern betrachtet vor der Vorstellung der Qual.
"Ich schwöre, ich bringe ihn um, der dir das angetan hat."
Sie verneinte im stummen Bitten und presste die Lippen aufeinander, sodass das Blut aus ihnen wich.
An diesem Sonntag Abend fand eine heilige Messe statt und obwohl der Seemann die Predigt der Kirche für leeres, gottfernes Geschwätz hielt, begleitete er heute sein Weib, um bei der Gelegenheit die Gemeinschaft versammelt anzutreffen.
Der Pfarrer erwartete die Gemeinde vor der Statue des Gewundenen: diese stellte einen jungen Mann dar, dessen Arme und Beine in Wurzeln endeten, die den Stamm hinter sich umschlangen und mit diesem verwuchsen.
Die Bewohner füllten kaum die Hälfte der Bänke und drängten sich für gewöhnlich in den vorderen Teil. Der Seemann wählte zwei Sitzplätze am Gang, damit sie rasch nach Hause zurückkehren konnten, sollte sein Weib von Wehen erfasst werden - er wusste nicht, dass sie andere Pläne hatte.
Der Jäger trug ein Licht herum und entzündete die Kerzen. Beim genaueren Studieren stieg Übelkeit in Lucidio auf und er fühlte Schmerzen, wo keine waren, in der rechten Hand, denn bei dem Licht handelte es sich um den Arm des Jägers selbst, der ihm als Ast aus dem Ellenbogen wuchs. Gerade entflammten die glimmenden Zweige den Docht der letzten Kerze, da schüttelte der Jäger die Hand, als wollte er Wassertropfen abwerfen, und die Glut erlosch. Sanfter Rauch kündete vom Sterben der Flamme und zeichnete den Weg des Mannes bis zu dessen Sitzplatz nach.
Der Wirt, der sich bis zum letzten Moment um irgendeinen Gast kümmerte, traf überpünktlich ein, erstarrte, als er Lucidio entdeckte und nahm mit seiner Familie die Plätze ein, die dem Ausgang am nächsten lagen. Dieser ging die Gründe durch, die es vor ihm selbst rechtfertigen würden, Hand an den alten Freund zu legen, doch solange dieser weder Hand an sein Weib noch an sein Geld gelegt hatte, zeugte dieser Zug von nichts als Feigheit und er trug den Pferdefuß zurecht.
Der Seemann betrachtete jedes Gesicht und versuchte den Nebenbuhler darin zu erkennen. Zu jung. Zu alt. Zu unansehnlich. Ihn bestürzte, wie viele der alten Freunde geschlagen waren und fragte: "Was ist dem Bäcker geschehen?" Denn diesem fehlte auf schauderhafte Weise die Nase und verlieh dem Gesicht ein gespenstisches Aussehen, als wäre der Körper vom leibhaftigen Tod bewohnt.
"Er hat Brot aus dem verfluchten Getreide gebacken und die Laibe kamen ihm mit Krallen und schwarzen Flügeln aus dem Ofen ins Gesicht geflogen."
Der Seemann stellte sich den Nebenbuhler vor und ihm kam der Gedanke, dass sich dessen Vergehen in ähnlicher Weise abzeichnen musste, so formte sich der Plan, ihn daran ausfindig zu machen. Das verlieh dem Vorsatz, Rache an diesem zu verüben, neue Nahrung.
Doch noch grübelte er darüber, was dieses Merkmal sein sollte. Der Astarm des Jägers? Das Gemurmel des Knechts? Die Hundeohren des Bauern? Konnte eins der Merkmale auf Unzucht schließen lassen?
"Wie ergeht es meinem Nebenbuhler?" Lucidio entschloss sich, gerade heraus zu fragen, um durch Verblüffung eine unbedachte Antwort hervorzurufen. "Trägt er nun das Gemächt eines Stieres mit sich herum?"
Das Weib, eben noch aufrecht und bereit, Auskunft zu erteilen, sank im Sitz zusammen. "Frag mich nicht mehr."
"Ist es der Holzfäller? Ich sehe keine Strafe an ihm."
Doch Miriam schwieg und errötete unter Schamgefühl.
Der Pfarrer bat um Ruhe und nur noch das Gemurmel des Knechts war zu vernehmen, das dieser mit einer Hand auf dem Mund zu dämpfen suchte, dann erhob der Priester die Stimme.
"Einst betete ein Sünder zum Herrn: 'Vergib meine Sünden' und der Herr vergab ihm. Doch den Sünder quälten die Blicke der Menschen, denen er Unrecht getan und so betete er wieder: 'Lass die Menschen mir vergeben.' Auch sie vergaben ihm und Friede kehrte ein. Doch der Sünder erinnerte sich an alles, was er getan, und betete erneut: 'Herr, bitte gebiete, dass ich mir selbst vergebe.' Doch der Herr sprach: 'Das ist der Stein, den ich nicht zu heben vermag.' Darum bat der Sünder stattdessen um Strafe, auf dass seine Seele von Schuld gereinigt werde. Der Stumpf, auf dem er saß, wuchs und wand sich um den Körper des Sünders, der niemals sein Leid beklagte und an dem Ort verstarb."
Die Gemeinschaft war in Ergriffenheit verstummt und der Priester ließ seine Worte für einen Moment wirken.
"Lasst uns nun beten."
Die Worte wurden vorgesprochen, die um Strafe für die eigenen Vergehen baten. Ein Gemurmel hob an, das sich zu einem Summen verband und in der Luft schwebte.
Neben dem Seemann verschränkte das Weib die Hände, die Worte fügten sich als zarte Note in das Orchester aus vielerlei Kehlen ein.
"Hör auf damit", befahl Lucidio, doch Miriam schüttelte den Kopf und Tränen glitzerten auf der Wange, bevor sie auf den geschwollenen Bauch fielen. "Es tut mir leid, es tut mir leid", wiederholte sie und jedes Wort schien den Schmerz eher zu verschlimmern als die erwünschte Erlösung herbeizuführen.
Da stieß lautes Schluchzen wie ein Misston durch die Melodie des Gebets. Nach und nach, wie die Mitglieder auf die Störung aufmerksam wurden, verstummte das Gemurmel, bis nur noch panisches Weinen in der Kirche erklang.
Es war die Küchenhilfe, deren rechte Hand zu purem Gold erstarrt war, noch immer in der Gebetshaltung mit verschränkten Fingern eingefroren, wenn auch nun ohne die andere Hand als Gegenstück, daher nun einer Klaue gleich mit in der Luft gekrümmten Fingern. Das Mädchen schrie und weinte vor Entsetzen und konnte die Augen nicht von der Verzauberung lösen.
Die Schritte des Priesters hallten den Weg entlang, soweit es die Aufteilung der Sitze zuließ, in die Nähe der Sünderin zu gelangen.
"Was hast du getan?", fragte er, die Stimme voller Überraschung, Neugier und Mitgefühl, wie es seiner Rolle angemessen war.
"Ich habe ... ich wollte doch nur ..." Das Mädchen weinte und wollte die Augen bedecken, allein die Rechte konnte diese Funktion nicht mehr ausführen und stieß hart und skurril vor das zarte Gesicht.
Vor der Tür beriet sich die Wirtsfamilie im Flüsterton, doch die Kirche riss ihnen die Worte von den Lippen und verteilte sie im Raum, sodass der Seemann seinen Teil erhielt. Zusammen mit dem Zeichen ergab es eine Eingebung und er erhob sich, auf dass die Gemeinde ihn vernehmen konnte.
"Sie hat meine Geldbörse gestohlen."
Die Miene des Priesters nahm nun doch anklagende Züge an und fragte: "Ist das wahr?"
Zitternde Finger griffen unter den Rock und brachten den verlorenen Gegenstand zutage. Der Arm war zu kurz, die Sitzreihen zu weit, um den Priester vor sich zu erreichen, daher erlaubte sich der Zimmermann, die Börse abzunehmen und nach vorne zu geben.
Der Priester trug diese zum Seemann und überreichte sie mit einer dezenten Verneigung und der Bitte, der Sünderin zu vergeben. Lucidio wusste nicht, ob er Zorn, Freude oder Mitleid empfinden sollte und schwieg.
Die Küchenmagd wollte sich aus den Sitzreihen hinausdrängen in dem Anliegen, sich an einem einsamen Ort zu verbergen und die Hand zu beweinen, die sie schwer mit der anderen an sich presste, und die ersten Mitglieder erhoben sich, um dem bedauernswerten Geschöpf den Weg freizugeben.
Nur der Holzfäller in der Reihe davor kehrte im Sitz herum und packte das Gelenk der vergoldeten Hand.
Neben ihm murmelte der Knecht seine Zahlen vor sich hin, diesmal auf das gestrafte Körperteil vor sich konzentriert, welches der Holzfäller langsam zu sich heranzog, um das verängstigte Mädchen nicht zu einer unbedachten Tat zu reizen.
"190 Komma 620 Unzen, 23 Komma 084 Goldmark, 23084 Komma 039 Kreuzer, 7694 Komma 680 Schilling, 28 Komma 4988 Silbermark, 235 Komma 334 Unzen Silber bei einem aktuellen Preis von 2 Komma 414 Unzen Silber pro Scheffel Roggen macht das 194 Komma 929 Scheffel, macht das etwa ein Jahr, die diese Hand unser Dorf ernähren könnte, gegeben dass die Dürre ein volles Jahr anhält, doch 12 10 im Herbst sollte Regen gefallen sein, in der Zeit für eine kleine Späternte, plus was wir an Pflanzen und Kleintier in der Umgebung finden, mach zwei Jahre draus."
In schrecklicher Vorahnung zog das Mädchen zaghaft an der Hand, doch gefangen in dem starken Griff des Holzfällers hätte ein kräftiger Mann sich mit all dessen Masse gegen die Gefangenschaft legen können, ohne Aussicht darauf, sich ohne die Gnade seines Häschers zu befreien.
Dieser verkündete, sodass der Bass durch die Kirche dröhnte: "Wir sollten diese Hand gegen Getreide eintauschen."
"Nein, bitte nicht, es tut mir leid ..."
Doch ihre Worte wären nutzlos verklungen, wäre es nicht der Priester, der seine Schäfchen zur Ordnung mahnte.
"Meine Kinder, wir vergreifen uns nicht an unseren Brüdern und Schwestern. In diesen Zeiten bleibt uns nichts als der Zusammenhalt und wenn wir untergehen, so gemeinsam als Menschen und nicht als Tiere, die übereinander herfallen."
Als wollte sie die Gemeinde von dem Mädchen ablenken, hätte Miriams Schrei zu keinem besseren Zeitpunkt durch den Raum hallen können. Der Holzfäller ließ das Gelenk fahren und die Raubkatze kletterte über Schöße hinweg, deren Besitzer nicht rasch genug den Weg freigaben. Schon verschwand sie hinaus in den Abend.
Den Seemann überkam ein Gefühl der Hilflosigkeit, als Geburtswehen sein Weib erfassten und er die leeren Hände hob, als würde in ihnen ein Werkzeug für diese Aufgabe fehlen, doch die Gemeinde streckte von allen Seiten hilfsbereite Hände aus, sodass Lucidio lediglich den Weg freigab. Er nahm an, sie würden der Erwartenden nach Hause behilflich sein und sie in Begleitung der Vettel alleine lassen. Stattdessen führten sie diejenige, die sich alle paar Schritte unter Schmerzen krümmte, nach vorne zum Altar, auf dem sie sich niederlegte. Der Seemann wollte eine Frage an irgendwen richten, der ihm zuhören würde, allein die Ahnung, die bereits die Antwort kannte, ließ ihn wissen, dass er die Wahrheit nicht zu kennen wünschte, hätte er in der Angelegenheit nur irgendein Sagen.
Die Vettel war als erste zur Stelle, hielt die Hand des ein Kind tragenden Weibs und flüsterte unablässig auf sie ein.
Die Gemeinde agierte wie eine Gruppe Eingeweihter, die das selbe Ritual bereits hundertfach vollführt, sodass jede Hand wusste, was sie zu tun hatte. Während einige Männer einen Kessel aus dem Nebenraum hereintrugen und Weiber aus Holzscheiten eine Feuerstelle zu Miriams Füßen errichteten, begann der Priester murmelnd zu beten.
"Herr, wir danken dir für dieses Wunder, das unser Dorf am Leben hält ..."
Der Jäger, der vormals die Kerzen mit bloßer hölzerner Hand entzündet, lieh sich an einer Kerze einen Funken, um die Holzscheite zu entflammen, bevor der Kessel darüber platziert wurde.
Dem Seemann kam das unbestimmte Fleisch der Suppe in den Sinn und ihm wollte sich der Magen umstülpen und sich allem entledigen, was er davon gegessen - niemals auf all seinen Reisen hatten sie so üble Not gelitten, dass sie auf dergleichen Speise hatten zurückgreifen müssen - doch jede Mahlzeit lag bereits in weiter Ferne und alles verzehrte Fleisch war bereits zu seinem Fleisch geworden.
Die Gemeinde, von ihren Tätigkeiten abgelenkt, beachtete ihn nicht, wie er sich in eine Ecke zurückzog und gegen die Abwehr seiner eigenen Organe ankämpfte, indem er seine Gedanken durch freudigere zu ersetzen suchte, allein es gab an diesem Ort nichts, was nicht mit der Not zu tun hatte und ihn gleich der Straßen von Rom stets zu dem einen Punkt zurückführte.
Auf der Suche nach Zerstreuung bemerkte er den Priester, der sich unter eigenen Leibesschmerzen krümmte, wie aus zufälligem Zusammenfall oder Mitgefühl zu Miriam, doch dieser zog sich in einen Nebenraum zurück und auch dies verursachte unter den Geschäftigen keine Regung.
Der Seemann verbrachte einige Zeit in stummem Leid und einsamem Kampf, bis sein Magen entschied, dass es für ihn nichts zu tun gäbe und seine Rebellion aufgab. Doch der Gottesdiener kehrte nicht zurück und gab nicht ein Zeichen, wann mit ihm zu rechnen wäre.
Niemand beachtete Lucidio, der von Neugier getragen zur Tür schlich, durch die der Priester verschwunden war. Der Pfarrer dort stützte sich angestrengt mit roten Wangen auf dem Tisch ab, die freie Hand schloss das Gewand auf Höhe der Hüfte. Auf dem Tisch vor ihm drei Krüge zogen den Seemann an. Es war Milch darin und in seinem Geist fügte sich das Bauteil an das des Mädchens, das jeden Morgen kam, um an Miriams Tür nach Milch zu fragen, obschon sie ausgetrocknet war wie der Boden. Doch der Priester, den er hinausgeworfen, wäre die Nacht über dort geblieben und somit zur Stelle, die Bitte des Mädchens zu erfüllen.
"Du bist es gewesen. Du hast dich an meinem Weib vergriffen."
Im ersten Instinkt suchte der Geweihte, die Krüge hinter sich zu verbergen. Das Erbleichen seiner Züge sprach schneller und offener, als es Worte je vermochten. So griff er stattdessen zu einem Band mit dem Symbol des Gewundenen auf dem Deckel, das einer zackigen Acht glich, in der Nachahmung der Arme und Beine, die sich um den Stamm hinter ihm wanden.
"Du hast uns nicht gesehen, letztes Jahr, als wir nicht wussten, ob wir verhungern, verdursten oder uns am verfluchten Getreide vergiften sollten. Nachdem wir die letzten Tiere essen mussten, hatte der Bauer keine Arbeit mehr für Miriam. Sie kam zu mir und fragte, ob sie etwas tun könne - bettelte, flehte um einen Weg, die Gemeinschaft zu retten."
Er fand die Stellen und Strich über die Buchstaben in schwarzer Tinte. "Ein Weib schlug sich mit einer Statue des Gewundenen gegen die Brust und bat um Strafe. Das Mirakel verwandelte die Statue in ein Schwert, das das junge Herz durchbohrte. Drei Schwestern, eine jede brach ihren Verlobungsschwur, weil sie wünschten, für immer zusammenzubleiben und wären durch die Heirat verstreut worden, teilten sich von nun an mit drei Gesichtern einen Körper. Die Strafen sind nicht zufällig."
Er drehte das Buch und auf der Seite prangte die Zeichnung eines Jünglings, dem ein alter Mann aus der Brust wuchs und sich dem Mittelfalz entgegen streckte. "Ich teilte meine Gedanken mit ihr und meine Befürchtung, keine willige Partie für den Versuch zu finden, denn die Weiber des Dorfes sind sämtlich zu jung, zu alt oder von misstrauischen Gatten bewacht - mit nur einer Ausnahme."
Der Seemann, des Geredes überdrüssig, zog den Säbel.
Das eigene Gewand, Zeichen des Standes, hinderte den Gottesdiener an einer jähen Flucht, die ihm ob des Abstands zum Ausgang und des gehörnten Ehemannes auf dem Weg ohnehin misslungen wäre und ihm zitterte die Stimme, als er seine Füße nicht so schnell wie begehrt aus dem Stoff befreite. "Lucidio, mein Kind, sage mir, es hieße ein Seemann ließe in jedem Hafen, den er betrete, ein Kind zurück. Wie kannst du Zorn gegen mich hegen, der nur einen Ausweg aus unserem Leid suchte?"
"Du hast dich an der Not bereichert, anstatt einen Weg zu finden, der deines Standes angemessen wäre."
Der Säbel fiel hernieder. Unmenschliche Laute gurgelten aus des Priesters Kehle. Der Seemann stemmte den Fuß gegen die Brust, um die Klinge mit einem kräftigen Zug zu befreien und schlug erneut zu. Roter Regen prasselte auf Tisch und Wände, besudelte das Buch, verunreinigte die Milch und löschte eine Kerze. Jeder Schlag erleichterte ihm den Groll gegen Weib und Nebenbuhler und die Last fiel ihm wie ein Bündel von der Seele.
Den Beobachter in der Tür hingegen bemerkte er nicht eher, als dass dieser das Wort erhob.
Der Holzfäller, einer der wenigen Bewohner ohne sichtbare Zeichen von Schuld, spuckte aus. "Du Mörder, hast unseren Beistand, unseren geistigen Führer erschlagen. Wer soll uns nun den rechten Weg aus dieser Misere zeigen, unsere Lichter hochhalten? Wir sollten dir dafür das Fell über die Ohren ziehen, wie der Ratte, die du bist."
Noch bevor das Geschrei von Miriam verstummte, mischte sich wie zur Antwort ein zartes Stimmchen dazwischen. Jegliches Gemurmel, mit dem sich hin und wieder manche der Bewohner die Zeit vertrieben, überließ diesem unheilvollen Kreischen den Raum.
Vergessen war der Zwist oder zumindest in stillem Einverständnis auf einen besseren Zeitpunkt vertagt.
Gleich einem großen Geist war die Gemeinde in Überlegung erstarrt. Prudencia hielt das Kind über den blubbernden Kessel in der unvollendeten Absicht, die Totgeburt, wie jeden Tag, zu Suppe zu verkochen. Allein, das Kreischen, Zeichen des Lebensfunkens im kleinen Körper, machte einen Unterschied von Welten.
"Gib es mir", verlangte Miriam und streckte die zitternde Hand aus, wie um das Kind zu ergreifen, bevor die Vettel zum Entschluss gelangte, dass ein lebend geborenes Kind den Hunger ebenso zu stillen vermochte wie ein totgeborenes, und die Handlung daher, ob des Protests der Mutter, auf lange Sicht den größeren Vorteil böte. Doch bevor Prudencia dieser Gedanke kam, überwog das Mitgefühl für die Wöchnerin und der Wunsch, dieser das Leid zu lindern und alle Begehren zu erfüllen, so ließ sie sich den Säugling des Griffs entreißen.
Es war der Holzfäller, der zuerst den düsteren Gedanken aussprach, der in allen Köpfen spukte, doch über keine anderen Lippen kam. "Uns fehlen die Mittel, ein weiteres Maul zu stopfen, zudem ist die Existenz dieses Mauls der Grund für das Ausbleiben unserer nächsten Mahlzeiten. Ich sage: Töten wir das Kind."
"Nein!", kreischte Miriam, das Gesicht nass und rot und nun verzerrt im Angesicht der bevorstehenden Grausamkeit und presste das Kind an sich, als von allen Seiten gierige, ausgemergelte Hände danach griffen, die doch nichts anderes wollten, als die Tradition der letzten Monate aufrecht zu erhalten.
Doch eine Klinge fuhr zwischen sie, unbekümmert ob sie die eine oder andere Hand verletzte, und alle Griffe zuckten zurück.
Der Seemann platzierte sich als Schutzwall zwischen der Wöchnerin und der Gemeinde, den Säbel in der Hut vor sich gehalten. "Wer mein Weib anrührt, ist des Todes!"
Aus der Menge lösten sich der Jäger und der Holzfäller, der eine das Töten gewohnt, doch mit hölzerner Hand ungeschickt darin, eine Waffe sicher zu führen, der andere sicher im Umgang mit der Axt, die er jedoch nie zuvor in Menschen geschlagen. Sie wogen ihre Chancen ab, den Seemann zu besiegen, der beide Vorzüge in sich vereinte, doch alleine mit sich selbst antrat. Indes waren sie auch nicht gewillt, den Säbel zu kosten, bedeutete jede Wunde eine Strapaze, die zu überstehen ihnen die Kraft fehlte, und wollten sich daher nur bei großem Vorteil in den Kampf stürzen. Jedoch vermochten sie diesen Vorteil nicht zu erkennen, so standen sie und zögerten und rangen im stillen mit sich darum, welchen Einsatz ihnen der Gewinn wert war.
"Zweihundert Unzen Gold, Zweihundert Scheffel Roggen", rief der Knecht zwischen sie wie ein Friedenstifter, der die Worte verfehlte, doch die Empfänger verstanden die Botschaft und wichen zurück.
"Wohlgesprochen", befand der Holzfäller. "Wir sollten die Hand des Mädchens verkaufen."
Und von der Eingangstür her rief der Bauer, die Hundeohren an das Holz gepresst: "Magda hat sich auf dem Boden der Scheune versteckt."
Für den Moment war der Spatz in der Hand vergessen. Mehrere Männer zogen aus, die Entflohene zurückzuholen, um sie einem Ritual gleich vor aller Augen von der Last ihrer Schuld zu befreien. Vor dem Seemann leerte sich unbewusst der Weg, als er sich nicht länger im Zentrum der Aufmerksamkeit befand, allerdings musste er fürchten, sollte der Versuch, die Taube vom Dach zu holen, nicht zum gewünschten Ergebnis führen, dass die Früchte seines Weibes in der Rangliste erneut vorrückten.
So packte er sie am Arm und sprach: "Komm."
In einem Moment des Protestes blieb sie voller Trotz auf dem Altar sitzen, das Kind an sich gepresst, doch ihr Geist brach unter der Befehlsgewalt und sie glitt hinab, stützte sich auf dem Stein auf, bis die Beine gehorchten und setzte einen Fuß vor den anderen unter Krümmung des Leibes.
Der Seemann, die Schritte bereits in Richtung Ausgang gewandt, verharrte mehrmals, um auf sie zu warten, und kehrte um.
"Hälst du hier Maulaffen feil?"
"Zeig mir einen Mann, der mit ähnlicher Verletzung nur halb so schnell läuft wie ich."
Im Gehen krümmte sie sich um die frische Wunde in ihrem Leib und unter dem Gewicht des Kindes.
"Gib es mir."
Das Weib, in Ehrfurcht vor dem Säbel an der Seite ihres Gatten, verstärkte die Klammer um das jüngste Wesen.
"Tu ihm nichts."
"Gib es her, sage ich."
Allein, ihr fehlte die Kraft, sich zu widersetzen und übergab das Bündel mit schwachen Armen. Der Seemann wiegte es auf dem linken Arm, um die Rechte zum Führen des Säbels frei zu haben und griff nach Miriams Hand. "Komm jetzt."
So schnell die Füße die junge Mutter trugen und angetrieben vom harten Zug des Seemannes, zerbröselten trockene Grashalme unter hastigen Schritten zu Staub. Die beiden begaben sich zum trauten Heim, wo sie der Mann durch die Tür stieß. "Pack deine Sachen. Beeil dich."
Die Anweisung stürzte das Weib in anfängliche Verwirrung und sie griff sich wahllos Dinge, bevor ihr aufging, dass sie abgesehen von unbedeutenden Ersparnissen und Wechselkleidung nichts benötigte.
Vom anderen Ende des Dorfes zeugte das Kreischen der Küchenhilfe von der erfolgreichen Beute der Gemeinschaft und sie trugen die um sich schlagende und kratzende Raubkatze den Weg zurück in das Gotteshaus. Im Angesicht des entschlossenen Mobs erfreute sich der Seemann, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, doch die Verzweiflung, von der die Tat zeugte, ließ ihn sein Weib erneut antreiben. Er selbst hatte das eigene Bündel nicht entleert, schwang es sich über die Schulter und war zum Aufbruch bereit.
Nach getaner Aufgabe verlangte er, Miriams Bündel zu sehen, entnahm diesem einen Tonkrug und zerschmetterte diesen auf dem Boden, sodass die Suppe darin zwischen den Scherben zerrann. Die Unterlippe des Weibs zitterte unter aufkeimendem Protest und wurde von draufbeißenden Zähnen niedergerungen.
"Komm jetzt."
Doch das Weib trug schwer unter der selbstgewählten Last, sodass der Seemann auch ihr Bündel übernahm und sie liefen in der Nacht so weit, wie sie ihre Füße trugen.
Der Wagen ratterte über steinigen Feldweg, wirbelte Staub auf, der in der flimmernden Luft stehen blieb und Husten machte. Dort schaukelte das erschöpfte Weib im Schlaf, während der Seemann die Frucht der Unzucht hielt, das Kind, das dem Dorf gleichzeitig Leben und Tod bedeutete.
Um sie herum zerfielen die vertrockneten Ähren zu Staub, doch wenigstens beobachteten diese die Reisenden nicht.
Ein Stein geriet unter ein Wagenrad, schleuderte den Wagenkasten mitsamt den Reisenden in die Höhe und weckte sie. Stumm fuhren sie eine Weile.
"Lass mich deine Hand sehen."
Der Seemann verlagerte das Gewicht des Wechselbalgs und reichte seinem Weib das Gewünschte. An der rauhen Gliedmaße, gegerbt von Seilen und Salzwasser, gab es nichts zu bewundern.
"Ich sehe nicht einen zu scharfer Klinge verformten Nagel, nicht einen Flecken rot verfärbter Haut."
"Ich habe das Richtige getan", beschwor der Seemann und nahm zurück, was ihm gehörte.
Der Wagen schaukelte sie und so fuhren sie einer ungewissen Zukunft entgegen.