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Geplanter Beitrag zu einem Wettbewerb mit dem Thema "Erinnerungen"
Unentdeckt
13. Mai. Wendepunkt: Wärme.
Am Morgen, vor dem Glockenläuten. B. sitzt am Küchentisch. Der Rücken berührt die stählerne Lehne, die langgliedrigen Finger umklammern die Oberschenkel. Auf dem Tisch ein Eierbecher aus Bernsteinglas; daneben die Tageszeitung. Das Ei hat B. vor wenigen Minuten verzehrt; sein tägliches Ritual.
Sattes Sonnenlicht bricht durch das Fenster, klatscht gegen B.s blanken Schädel. Im Stadtpark schleudern sie sich auf den Wippen die Hüften aus dem Unterleib. Auf dem Boulevard blitzen ihre Zeigefinger auf Pumps und Portemonnaies.
Für das Frühstück ist B. in ein Seidensticker-Hemd und eine Bundfaltenhose gestiegen. Er hat sich die schiefergrauen Brauen geschnitten, damit sie nicht wie Taubenkrallen in seine Augenhöhlen ragen. Ein Platinring mit eingravierten Daten – E. & B. 21.06.1973 – dekoriert seine rechte Hand. Der Duft von Aloe Vera umhüllt seine löschpapierfeine Haut.
7. Juni. Figuren, gehetzt, geschoben.
B. überweist per Dauerauftrag die Miete. 595 Euro warm. Die Wohnung ist der Ort, der ihm bleibt. Ein karges Königreich auf neunundzwanzig Quadratmetern. In einem Block, in dem sich die Nachbarn nur vom Klingelschild kennen. Buchstabenreihen auf Beinen. Gelegentlich menschelt es im Treppenhaus, mikroskopisch. »N‘ Tach.« Dann die Sturzflucht nach oben oder unten. Die Weltpolitik ruft.
Im Winter begann B., gegen sich selbst Schach zu spielen. Endlich, wieder Damenberührungen. Sein Großvater Valentin brachte ihm als Geographiestudent die Regeln bei. Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er sie in den Gassen, über den Brettern versunken. Von Valentin erbte er die Angewohnheit, bei kniffligen Zügen das Balzen der Fische zu beobachten. Zwei grätendürre Zebrabuntbarsche drehen in einer Glaskugel in B.s Wohnzimmer-Vitrine intime Kreise. Manchmal sieht es aus, als knabberten sie sich gegenseitig an.
28. Juli. Blick in den Spiegel der Vergangenheit.
»Wir bedanken uns im Voraus bei Ihnen und wünschen Ihnen beste Gesundheit.« So verabschiedet sich die Krankenkasse in ihrem Werbebrief zur Zahnzusatzversicherung bei B.
Die Belegschaft verzückt der geringe Aufwand, den der Greis verursacht. »Ein echter Wunderknabe. Goldmedaillenkandidat beim olympischen Hürdenlauf«, flöten sich die Sachbearbeiter zu, wenn sie prall an Überschwang sind; weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen; wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren donnern lassen.
Am selben Tag wandert die dreistellige Rente auf B.s Konto. Im Bad müsste der rostige Duschkopf ausgewechselt werden. Was in B.s Augen noch im Frühjahr als Sommersprossen-Strauß funkelte – er umschwärmte das beschlagene Silber aus Lippennähe –, ist jetzt ein kreischender Flächenbrand.
13. August. Was hier passiert, passiert hier nicht.
Am Morgen, nach dem Glockenläuten.
»Ich bin Benedict. Ich spreche zu dir, weil du mir deine Aufmerksamkeit schenkst, mich fest in deinen Händen hältst. Vor mir steht ein Eierbecher aus Bernsteinglas. Das Ei habe ich bereits genossen; mein tägliches Ritual. Eigentlich würde ich nun zum Fenster gehen und in die Stuben von C., R. oder O. spähen. Mein Tasten nach dem verbliebenen Flimmer Leben. Diese behüteten Aufbrüche in das panikumwitterte Paradies sog ich stets tief ein. Einmal habe ich, glaube ich, eine Botschaft erhalten. Mein Blut zirkulierte, meine Pupillen keimten, meine Waden flatterten. Doch nach drüben? Einfach so nach drüben? Verstehst du, was ich meine?
Beim nächsten Mal sollte mir Bill Haley den Marsch blasen, schwor ich mir. See you later, Alligator, rotierend unter der Grammophon-Nadel. Wie damals, als ich Erika im Route 66 zum Boogie-Woogie aufforderte. Ein himmlischer Plan! Oh ja. Aber … so verzweifelt ich mich anstrenge; ich kann nicht mehr aufstehen, meinen Kopf recken, den Tanzgott markieren. Das ist auch keine Ausrede, denk das bitte nicht. Es ist nur, es ist zu spät, ich bin auf den Tag genau seit drei Monaten: tot.«
»Danke, Benedict. Dein letztes Gespräch führst du mit mir, der ich diese Geschichte lese. Du machst die Gedanken hinter jenen sichtbar, die uns zwischen stummen Wänden verlassen; und anschließend über Wochen, Monate unentdeckt bleiben – wie schon in den Wochen, Monaten, Sommern, Wintern zuvor. Du mahnst uns, in die Gesichter der Einsamkeit zu blicken, die Vergessenen nicht länger zu vergessen. Du weißt: Für immer braucht es mehr als einen| jjjjj |Flimmer.«