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Total normal
„Weißt du eigentlich, was ein Tisch ist?“, fragte meine kleine Cousine. Ich spürte ihre warme Hand in meiner. Sie zog mich vorwärts, vermutlich, um in die nächste Pfütze zu springen. Erst gestern hatte es geregnet, was im Herbst nicht ungewöhnlich war.
Ich schüttelte den Kopf. „Ist das nicht komisch?“, fragte sie neugierig weiter. Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Natürlich.“
Eine Kirchenglocke verkündete die volle Stunde mit lautem Glockenläuten. „Ina, siehst du hier irgendwo eine Bank, damit wir auf meine Mama warten können?“, fragte ich meine Cousine. Ich ließ mich von Ina einfach mitziehen. Vorsichtig und mit beängstigend viel Übung bugsierte Ina mich auf die Bank, indem sie mich festhielt und genau erklärte, was ich machen sollte, ohne dass ich mich daneben setzte, was peinlicherweise schon des Öfteren vorgekommen war.
Der kühle Wind wehte mir einzelne Haarsträhnen ins Gesicht und ließ mich trotz meiner Winterjacke frieren. In der Nähe musste ein Spielplatz sein, denn ich hörte Kinder spielen. Sie rannten über die Wiese, lachten und plapperten durcheinander. Jedes Mal wenn ein Kind die Rutsche hochrannte, wummerte es. Gespannt lauschte ich den Geräuschen und versuchte mir die spielenden Kinder vorzustellen. Wie so oft scheiterte ich. Sehnsucht und Traurigkeit machte sich in mir Breit. Neben mir baumelte Ina mit ihren Beinen und summte eine fröhliche Melodie. „Wenn du willst, kannst du auch auf den Spielplatz gehen. Ich weiß doch, dass du es unbedingt möchtest“, sagte ich nach einer Weile, als ich es nicht mehr aushielt. „Nö, ich muss doch auf dich aufpassen“, antwortete sie mir. Ich seufzte. „Das heißt aber nicht, dass du hier rumsitzen und dich langweilen sollst. Außerdem habe ich noch Fluffy bei mir.“ Passend in dem Moment kam Fluffy laut bellend auf uns zu gerannt. Vor mir blieb er stehen und legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Lächelnd kraulte ich seinen Kopf.
Ina zögerte noch einen Moment, dann rannte sie los in Richtung des Spielplatzes. Erleichtert legte ich meinen Kopf in den Nacken. Schritte kamen auf mich zu, steuerten mich direkt an. Ich kannte sie nur zu gut und würde sie unter hunderten wiedererkennen. Die Schritte meiner Mutter, sie waren schnell und gaben mir ein Gefühl von niemals endender Rastlosigkeit und Hektik. Bei jedem ihrer Schritte klackten ihre Schuhe. Vor mir verstummten sie abrupt. „Fiona, wie geht es dir? Gab es irgendwo Probleme? Ich hoffe Fluffy und Ina haben gut auf dich aufgepasst“, redete sie sofort auf mich ein. Ich gab einen bejahenden Laut von mir, der so viel sagen sollte wie mir geht’s gut, es gab keine Probleme und die beiden haben sich hervorragend um mich gekümmert. Meinen Kopf ließ ich im Nacken, die Augen geschlossen. Es machte sowieso keinen Unterschied.
„Du glaubst gar nicht wie voll es in dem Laden war. Die armen Kassierer waren ja völlig überfordert“, erzählte meine Mutter. Ich brummte: „Das werden die schon überleben.“, was sie gekonnt ignorierte, und mit ihrer Erzählung fort fuhr. Die Chance, meine Ruhe wieder zu bekommen, sank.
Nachdem wir Ina nach Hause gebracht hatten, eröffnete mir meine Mutter, dass sie neue Kleidung gekauft habe. Sie erzählte mir etwas von dem Design, den Mustern, Farben und der Marke. Ich ließ sie reden. Ab und zu nickte ich und lächelte. Auch wenn es mich nicht interessierte, vielleicht sogar nervte, versuchte ich es mir ihretwegen nicht anmerken zu lassen. Es machte sie glücklich, das merkte ich an der Art und Weise wie sie sprach. Ich bereitete ihr genügend Sorgen.
Nacheinander nahm ich die Kleidungstücke in die Hand. Ich ließ sie durch meine Hände gleiten. Die Stoffe fühlten sich teuer und hochwertig an. Weiche Baumwollpullis und samtene Hosen. Sie rochen neu und unbenutzt, nach Einkaufsladen. Immer wieder stellte ich fasziniert fest, dass meine Mutter genau meinen Geschmack getroffen hatte.
Völlig fertig ließ ich mich, alle Viere von mir gestreckt auf den Boden fallen. Der Tag war schön gewesen, trotzdem fühlte ich mich ausgelaugt. Ich lauschte dem Radio im Zimmer nebenan und träumte von einer anderen Realität. Von einer Realität voller Farben und ohne Sorgen. Etwas Großes und Flauschiges legte sich auf meinen Bauch. Mir blieb für einen Moment die Luft weg. Keuchend schob ich Fluffy von mir runter. Er machte es sich neben mir bequem und schnarchte im nächsten Moment friedlich vor sich hin. „Was würde ich bloß ohne dich machen?“, murmelte ich.
Am nächsten Tag flüchtete ich schnell in den Garten. Es war schönes Wetter und Wochenende. Außerdem diskutierten meine Eltern gerade lautstark. Über was wusste ich nicht genau, nur dass ich nicht dabei sein wollte. Fluffy sprang durch den Garten und ich folgte vorsichtig unserem Zaun, bis ich über etwas stolperte, versuchte mein Gleichgewicht zu halten, kläglich scheiterte und fiel.
Auf einen Schlag fehlte mir jegliche Orientierung. Ich war einige Schritte gestolpert. Schnell rappelte ich mich wieder auf, doch meine Beine fühlten sich viel zu weich an. Wo war Fluffy? Sein Bellen kam mir viel zu weit weg vor. Jeder Atemzug viel mir zunehmend schwerer. Verdammt. Panik überkam mich.
„Meine Güte, Mädel. Du bist nur gestolpert. Es blutet nicht mal“, riss mich die Stimme eines genervten Mädchens einige Meter von mir entfernt aus meinen Gedanken. Es fühlt sich an, als hätte mich jemand aus einer Art Trance gerissen. Der Knoten in meiner Brust löste sich und ich konnte wieder normal atmen. Fluffy stupste mich an. Aufgewühlt strich ich ihm über den Kopf. Sofort entspannte ich mich wieder.
„Kannst du mir sagen, wo ich mich gerade im Garten befinde?“, fragte ich. Es war mir etwas unangenehm. „Kein Plan warum, aber du bist ungefähr nen Meter vom Zaun entfernt. Du stehst mit dem Rücken zu ihm. War’s das?“ Ich nickte. Einen Moment blieb ich noch stehen, wandte mich schließlich ab und mit Fluffys Hilfe zum Zaun, um meine Runden weiter zu drehen. „Wie heißt du?“, fragte ich, nach einer Runde. Erst bekam ich keine Antwort. Ich befürchtete schon sie wäre gegangen. Dann schnalzte sie mit der Zunge. „Tu doch nicht so, als wäre das alles, wenn du noch was fragst“, antwortete sie. Wenn mich nicht alles täuschte, klang sie noch genervter als vorher, falls das überhaupt möglich war. „Mara.“ „Ich bin Fiona“, antwortete ich. „Hab ich dich nach deinem Namen gefragt?“, blaffte Mara mich an. Ich schüttelte verdattert den Kopf. „Also interessiert mich dein Name?“ Wieder schüttelte ich den Kopf.
Die Terrassentür öffnete sich. Entsetzt keuchend kam meine Mutter aus der Richtung des Hauses, packte mich am Arm und zog mich ins Haus. Überrumpelt wie ich war, ließ ich mich mitzerren.
„Du kannst mit so jemandem doch nicht reden. Wie die aussieht. Das ist viel zu gefährlich.“
„Du kennst sie doch überhaupt nicht“, versuchte ich Mara zu verteidigen. „Das brauche ich auch nicht um zu wissen, dass sie ein schlechter Umgang für dich ist“, rief meine Mutter aufgebracht. Seufzend gab ich mich geschlagen.
Am nächsten Tag, meine Mutter arbeitete gerade in ihrem Arbeitszimmer und mein Vater war in den Baumarkt gefahren, schlich ich mit Fluffy in den Garten. Auf gut Glück rief ich Maras Namen. Es war einer dieser kühlen Herbsttage. „Was willst du?“, fragte Mara gelangweilt. „Wie ist das so sehen zu können?“ „Frag doch deine Eltern“, meinte Mara abweisend. „Hab ich schon, aber jetzt möchte ich es von dir wissen.“ Gespannt wartete ich auf ihre Antwort. „Keine Ahnung. Ich kenn es halt nicht anders. Aber was ich weiß, ist, dass du unglücklich aussiehst.“ Meine Augen wurden groß. „Sowas kann man sehen?“ „Jap“, sagte Mara und warf etwas weg. Es gab ein dumpfes Geräusch und Mara murmelte: „Treffer.“ „Ich werde immer anders sein, nur weil ich blind bin“, antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Viele Menschen wollen aus der Masse hervorstechen und du tust es immer. Das ist ein Grund sich zu freuen. Verstanden? Du hast ein Handicap. Scheiße gelaufen, aber jetzt musst du das Beste aus der Situation machen oder willst du später die ganze Zeit denken, was wäre, wenn…“