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Toni Morrison: Paradies

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Toni Morrison: Paradies

Titel: Paradies
Autor: Toni Morrison
Taschenbuch: 494 Seiten
Verlag: Rowohlt Tb. (Februar 2001)
ISBN-10: 3499229153
ISBN-13: 978-3499229152


Eine Ansiedlung von Afro-Amerikanern, mitten in der Wildnis von Oklahoma, kleinbürgerlich, sittenstreng und gottesfürchtig. Ruby nennt sich dieser Ort. Gegründet von ehemaligen Sklaven, auf der Suche nach Heimat. Nach einer Heimat, die ihre Väter schon einmal gefunden zu haben glaubten, und doch wieder verloren.
Haven hieß dieses Paradies im Westen Oklahomas, doch nicht lange währte das Glück. Kaum entstanden, kaum erblüht, wurden seine Einwohner von den Weißen vertrieben. Sie wichen der Gewalt und zogen weiter. Verzweifelt, hungernd, beschimpft und ausgegrenzt, legten die schwarzen Männer mit ihren Frauen und Kindern, Alten und Kranken, Meile um Meile zurück, bis ein allmächtiger Gott ihnen Ruby schenkte.
Als sie diesen Ort gefunden hatten, fielen sie auf die Knie und dankten dem Herrn. Nie wieder würden sie sich von hier vertreiben lassen.
Nie wieder!
Neunzig Meilen sind es bis zur nächsten Ansiedlung. Dazwischen nur Wildnis und blauer Himmel. Blutschande nennen es die Einwohner Rubys, sich mit Weißen zu verbinden. Hellhäutige werden ausgegrenzt, sogar Schwarze mit einem bräunlichen Hautton, sind den Anderen suspekt. Ruby, ein Ort voll selbstgefälliger Moral, trotzigem Stolz und Bigotterie, in dessen Mitte ein riesiger, eiserner Ofen steht. Als Treffpunkt für Beratungen ist er, neben der Kirche, spirituelles Zentrum der Ansiedlung. „Wehret der Furche auf seiner Stirn“, wurde in gottesfürchtiger Demut auf diesen eisernen Tempel geschrieben, den sie den langen Weg von Haven bis hierher geschleppt haben.
Aber die Generationen wechseln, die Konflikte zwischen alt und jung wachsen, langsam droht die Schrift zu verblassen ...
Siebzehn Meilen vom Paradies entfernt, liegt ein ehemaliges Herrenhaus, das viele Jahre eine Klosterschule war. Schon vor langer Zeit hat die letzte Schülerin das Haus verlassen, die geistliche Schulleiterin ist verstorben, nur eine anonyme Stiftung schützt das Gebäude noch gegen Abriss, das Grundstück vor fremder Übernahme.
Eine Handvoll Frauen lebt jetzt dort. Unter ihnen eine Weiße. Sie ist die schlimmste von allen. Unabhängig, unbemannt, gottlos und sittlich verworfen sollen sie alle sein. Einzeln zugelaufen, wie streunende Hunde, so heißt es in Ruby. Ehrlose Huren, die brave Familienväter verführen, ja, es sogar miteinander treiben.
Tatsächlich aber sind es verzweifelte Frauen, die sich hier verkrochen haben. Geprügelt, seelisch misshandelt, sich selbst beschädigend, eine davon zunehmend alkoholabhängig. Gesellschaftliche Verliererinnen, die in dem alten Gemäuer Ruhe und Geborgenheit gefunden haben, versteckt vor der Welt da draußen, ganz ohne Männer und göttlichem Segen.
Unmoralischer Frevel ist so etwas für die bigotten Gründungsväter Rubys, die jeden Sonntag zur Kirche gehen, den Worten des Reverend lauschen und mit aller Kraft versuchen, ihre morbiden Werte über die Zeit zu retten. Dennoch gibt es Kontakte zum sündigen Ort. Kräuter werden dort gekauft, Marmeladen und Obst, feiner Rhabarberkuchen, die schärfsten Chillis Oklahomas wachsen im Klostergarten, die eine oder andere Arznei wird verstohlen abgeholt. Schwangere Frauen bitten um Abtreibung, wenn auch erfolglos, ehrbare Männer unterhalten geheime Liebesverhältnisse mit zwei der verruchten Frauen, bekommen Gewissensbisse und laufen wieder davon.
Während einer Hochzeitsfeier kommt die Sünde ins Dorf. Zwei Frauen aus dem Kloster geraten in Streit, prügeln sich auf offener Straße. Das ist zu viel für die sittenstrengen Bewohner Rubys. Die Furche auf Gottes Stirn vertieft sich.
Bald darauf wird in der Nähe des Klosters ein verrostetes Autowrack gefunden, menschliche Skelette befinden sich darin. Kein Zweifel. Die verdorbenen Weiber haben sie umgebracht und ausgeraubt. Die aggressive Stimmung in Ruby kocht auf, schwappt letztlich über.
Bei einem nächtlichen Treffen am Ofen, wird Tacheles gesprochen. Es muss etwas geschehen. Im Morgengrauen schleichen neun schwarze Männer auf das Kloster zu. Bewaffnet und zu allem entschlossen, dringen sie in das Gebäude ein, die Katastrophe nimmt ihren Lauf ...

Nobelpreisträgerin Toni Morrison ist mit „Paradies“ ein wahrhaft epochales Werk gelungen. Poetisch und mit beeindruckender Sprachgewalt erzählt sie von Rassismus, der auch vor Schwarzen nicht halt macht, von Bigotterie und selbstsüchtiger Moral. Vom langen, leidensvollen Marsch der Gründungsväter Rubys, vom Aufbau des Städtchens, von blinder Gottesfürchtigkeit und sturer Männerdominanz, sowie von Aberglauben und falsch verstandener Rechtschaffenheit.
Einfühlsam zeichnet sie, in langen Rückblicken, die Charaktere der Frauen, die sich in das Kloster flüchten. In realistischen, teils schmerzhaften Bildern beschreibt Morrison den Werdegang dieser abgelehnten und verstoßenen Randfiguren der Gesellschaft. Aber auch von Hoffnung und Liebe, Sehnsucht und Verlangen ist die Rede, von unbegreiflichen, mystischen Ereignissen, von weltlicher Abkehr und Vergeistigung.
Bis zum bitteren Finale hält Toni Morrison den Leser in ihrem Bann gefangen, überraschend versöhnlich lässt sie ihr beeindruckendes Werk ausklingen. Ich kann es nur wärmstens weiterempfehlen.

 

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