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Tattoo
Tattoo
Der Alte erstarrt, als er das Tattoo an der Dirne sieht.
Plötzlich ist er wieder der Junge von sechs oder sieben Jahren, der draußen länger gespielt hatte, als von den Eltern erlaubt. Es hieß grundsätzlich
„spätestens um sechs zum Abendbrot!“,
und es galt das noch strengere
„wenn die Laternen angehn!“,
zu Hause zu sein.
Was sollte einer wie er auch zuhause, wenn der Fernseher kaputt war und der Onkel Janos erst zum Abendbrot käme, um hernach das Gerät zu reparieren?
So hatte er mit Freunden Verstecken gespielt – einen ganzen vergnüglichen Nachmittag lang.
Es war ein gerechtes Spiel, für alle Jungen mit gleichmäßig verteiltem Erfolg.
Als die Dämmerung einsetzte, einigte sich die Rasselbande auf ein letztes Spiel für diesen Tag.
Er versteckte sich und war zunächst stolz, dass kein Spielgenosse ihn allzu schnell fände.
Als schließlich „die Laternen angingen“ und aufleuchteten, gab er den Spielkameraden einen Ton zur Hilfestellung. Und doch wurde er von niemandem gefunden!
Wenn man ihn schon nicht sah, warum hörte man ihn nicht?
Langsam dämmerte ihm, dass er sich allzu gut verborgen hätte!
Stolz wandelte sich in Sorge.
Als er endlich aus dem Versteck kam, war kein Spielkamerad mehr zu sehen und es stand zu befürchten, dass keiner nach ihm gesucht hätte.
Dem Jungen wurde mulmig.
Zum Heulen elend kam er nach Hause, wo die Eltern und Onkel Janos lange gewartet hatten und dann vor Sorge, was geschehn sein könnte, ohne ihn oder besonderen Appetit das Brot brachen.
Gerade wollten die Männer zur Suche aufbrechen, als der weinende Junge in Erwartung einer Strafe zögerlich anklopfte. Aber es erhob sich kein Donnerwetter. Nicht ein böses Wort fiel! Stattdessen fragte Onkel Janos sofort nach dem, was geschehen sei. Und der Neffe klagte über die gemeinen Spielkameraden!
Er meinte nun, Tränen in Onkels Auge zu erkennen, als der sagte: „Es ist also wahr, wenn es da heißt: Ich verberge mich, aber niemand will mich suchen!“, dass die Mama sofort anfügte: „Wie aber mag’s angehn, dass ein kleiner Wurm, der Gott und der Welt getreulich anhängt und sich der Güte nahe weiß, zunehmend Bruch und Entfernung erfährt?“
Onkel Janos wählte nun ein Bild vom Laufenlernen: „Wenn das Kindchen zu gehen lernt, stellt man es zunächst nah vor oder zwischen sich und hält es an seinen Händchen, auf dass es begreife und nicht falle. So geht das Kind auf Mama oder Papa zu und beide sind bei ihm und das Kind weiß es. Es weiß die Eltern an seiner Seite und kommt nicht ins Straucheln.
Mit der Zeit aber rückt man, egal, ob Mutter oder Vater, vom Kinde immer mehr ab und lässt es ohne zu halten immer länger laufen. Was das Kind auch will seit dem Augenblick, da es sich zum ersten Male aufgerichtet hat. Bis hin zu dem Tage, an dem das Kind ohne Halt selbständig läuft.
So lernt in der Regel ein Kind gehen durch Abstand halten und Entfernung.“
An diesem Tag war nichts mehr mit Fernsehen.
Und als der Junge - bereits im Schlafanzug - „eine gute Nacht“ wünschen wollte, hatte Onkel Janos gerade die Rückwand des Fernsehers abgeschraubt, schaute ins Innere des Gehäuses und schraubte eine durchgebrannte Röhre heraus. Weil die Ärmel aufgekrempelt waren, erblickte der Junge auf einem Arm des Onkels – direkt unterhalb des Handgelenkes – einige Ziffern, zu viele für eine Telefonnummer.
„Was bedeuten die Zahlen, Onkel Janos?“, fragte der Junge und der antwortete verschmitzt: „Als ich ein kleiner Junge war – wenn auch mehr als doppelt so alt wie du – haben Faschisten die Ziffern angebracht, damit ich nicht verlorenginge“, und heute weiß der Alte, dass Onkel Janos nie ein kleiner Junge sein durfte. In seiner Heimat tobte der Faschismus und die Familie wurde umgesiedelt nach Nirgendwo, das sich findet am Westrande der Stadt Oswiecim.
Onkel Janos war immer groß gewachsen und kräftig. Er kam in einer ehemaligen Kaserne unter und wurde an Großunternehmen vermietet. Zeitlebens fragte er sich: „Warum gerade ich?“
Vater, Mutter und Geschwister hat er nie wiedergesehen.
Im Angesicht der Lüge, dass Arbeit frei mache, hat er die Sprüche Salomo begriffen, wonach einem Menschen vergolten würde, was sein Mund geredet, und gesättigt würde er mit dem, was seine Lippen ihm einbrächten. Tod wie Leben stünden in der Macht der Zunge, wer sie aber beherrschte, würde ihre Frucht genießen.
Was aber mit verschwundenen Leuten geschähe, wusste er damals nicht. Ob sie die Selektion auf der Viehrampe auch nur um eine halbe Stunde oder einen Tag überlebt hätten, sei ungewiss. Sicher war er, dass sie ausgeschlachtet wurden und immer schloss er die Erzählung ab mit einem „Warum gerade ich nicht?“
Als der Alte selber Vater geworden und Onkel Janos ans Sterben ging, fragte der Neffe, was mit all denen sei, die dafür sorgten, dass die verbrecherischen Regimes reibungslos liefen – und der Onkel antwortete leise und behutsam, nannte den Neffen gar mit seinem hebräischen Namen: „Siehe, Shelomo, in jeder Mischpoke gibt’s solche, die Massel haben und geben und solche, die Bohai machen. Die schlimmsten aber, die über deinesgleichen Schlamassel bringen, stammen aus dem eigenen Haus. Es ist müßig, sich ihrer zu erinnern.“